Das Dschungelcamp: Gemeinheiten wie im wirklichen Leben und die voyeuristische Lust der Zuschauer am Leid anderer
Von Hubert von Brunn
Die Teilnehmer des diesjährigen Dschungelcamps im australischen Regenwald bieten einen erstaunlich repräsentativen Querschnitt eines nicht unbeträchtlichen Teils der bundesrepublikanischen Gesellschaft: Egomane Nervensägen, nichtssagende Wichtigtuer, exhibitionistische Nacktschnecken, Möchtegernkünstler, selbstverliebte Warmduscher, großmäulige Nichtskönner… Deshalb erscheint es völlig unverständlich, weshalb der niedersächsische SPD-Politiker Hauke Jagau diese Sendung als „menschenverachtend“ diffamiert und deren Absetzung fordert. Wird das Stimmvieh bei Wahlen denn nicht gerade auch (und nicht zu knapp) aus diesem Klientel rekrutiert? Dessen sollte sich ein Politiker wie Herr Jagau eigentlich immer bewusst sein, ehe er unbedacht aus der Hüfte schießt.
Ich muss zugeben, von einem Regionspräsidenten der SPD für die Region Hannover namens Hauke Jagau habe ich bis dato eben soviel gehört wie von einem „Designer“ namens Julian Stoeckel, der gegenüber seinen Mitbewohnern im Camp von sich behauptet, in Berlin so bekannt zu sein wie das Brandenburger Tor: Nichts! Wobei ich mir unter einem tuntigen, erfolglosen Möchtegern-Designer durchaus noch etwas vorstellen kann. Was ein Regionspräsident ist und welche wichtige politische Arbeit er verrichtet, entzieht sich dagegen völlig meiner Kenntnis. Das aber nur ganz nebenbei.
Scheinheilige Empörung eines Provinzpolitikers
Durchaus bemerkenswert erscheint indes der Trend, dass gewählte, außerhalb ihres Wahlkreises aber völlig unbekannte Volksvertreter nichts auslassen, um wenigstens einmal in ihrem politischen Dasein aus dem Schatten des Hinterbänklers bzw. des No-Name-Politikers herauszutreten, um wenigstens einmal mit Foto und vollem Namen in der Bildzeitung zu erscheinen. Dafür ist ihnen keine Gelegenheit zu banal, kein Thema zu blöd, keine Kröte, die sie dafür schlucken müssen, zu fett. Damit unterscheiden sie sich in keiner Weise von den Bewohnern des Dschungelcamps. Und wenn einer wie Herr Jagau dann auch noch eins draufsetzt, indem er zeitnahe zu seinem medialen Aufschrei aus der Provinz anlässlich eines Neujahrsempfangs selbst gebratene Heuschrecken verspeist – dann ist die Glaubwürdigkeit des Genossen Jagau dort, wo nicht einmal die letzte Kakerlake mehr hin will.
Abgesehen von dieser Aufmerksamkeit heischenden Gutmenschelei des SPD-Politikers, der sich um die Menschenwürde abgehalfterter XYZ-Promis (Winfried Glatzeder ausdrücklich ausgenommen) sorgt, lässt Herr Jagau jegliches Verständnis für die dem menschlichen Wesen immanente dunkle Seite vermissen: Neid, Schadenfreude, Sensationslust, Voyeurismus, Aggression, Häme… sind nicht zu vernachlässigende Aspekte menschlichen Verhaltens. Und das ist keineswegs ein Phänomen unserer Zeit. Nein, das war schon immer so, seit es Menschen gibt, zu allen Zeiten, in jeder Kultur. Die Erfinder des Dschungelcamps haben nichts anderes getan, als sich eben dieser unleugbaren menschlichen Schwächen formatbildend zu bedienen. Täglich rd. 8 Millionen Zuschauer vor den Bildschirmen geben ihnen Recht.
Cäsars Daumen bringt das Volk zum Jubeln
„Brot und Spiele“ hieß es bei den alten Römern. Wenn verkündet wurde, dass wieder einmal hungrige Löwen auf wehrlose Christen losgelassen werden oder als Kampfmaschinen ausgebildete Gladiatoren mit Dreizack, Netz und Schwert so lange aufeinander einschlagen, bis einer reglos im Sand liegen bleibt – dann war Feiertag in Rom. Die Arbeit ruhte, die Geschäfte blieben geschlossen, und die braven Bürger strömten in Scharen in die Arena, um schaudernd Zeugen blutrünstiger Perversionen zu werden. Ein Raunen ging durch die Menge, wenn der Cäsar sich erhob, seinen rechten Arm ausstreckte, den Daumen nach oben gerichtet, um dann seine Hand ganz langsam zu drehen, bis der Daumen nach unten zeigte. Es war das Todesurteil für den unterlegenen Gladiator, begleitet vom frenetischen Jubel der von blutigen Gewaltorgien aufgeputschten Menge. Man delektierte sich am Unglück anderer, war heilfroh, in sicherem Abstand auf den Rängen sitzen zu dürfen, und wenn dann ein generöser Cäsar auch noch kostenlos Brot verteilen und Wein ausschenken ließ – umso besser. Ein erlebnisreicher Tag, über den man noch eine Weile mit Nachbarn und Freunden reden konnte. Bis zum nächsten Mal.
Fleißige Henker und die Angst als Machtinstrument
Im Mittelalter, eine Epoche, der nicht selten das Attribut „finster“ zugebilligt wird, gab es solche großartigen Stadien wie das Colosseum in Rom nicht. Für solch profanen Luxus hatten die frommen Männer des mächtigen Klerus nichts übrig. Sie ließen stattdessen riesige gotische Kathedralen mit in den Himmel wachsenden Türmen bauen, deren schiere Größe dem gottergebenen Menschlein klar machen sollte, wie winzig und bedeutungslos er ist. Das alleine reichte aber noch nicht, um das probate Machtinstrument Angst nachhaltig in den Herzen und Seelen der Untertanen wirken zu lassen. Um das zu bewerkstelligen, führte man den ehrenwerten Beruf des Henkers ein und sorgte mithilfe einer bigotten Gerichtsbarkeit (Inquisition) dafür, dass dieser auch immer gut zu tun hatte. Manchmal jenseits der Stadtmauern auf dem Schindanger, meistens aber mittendrin, auf dem Marktplatz, im Schatten der prächtigen Kirche.
Hier wurden dann die armen Sünder unter unsäglichen Qualen ins Jenseits befördert: Rädern, Vierteilen, Knochen brechen, Körperteile abschneiden, Aufhängen, Köpfen… Den weiblichen Delinquenten (Hexen) war es zumeist vorbehalten, bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Die Phantasie der Richter und Henker kannte keine Grenzen, wenn es darum ging, das einfache Volk mit brutalen Vorführungen „im Namen Gottes“ in Angst und Schrecken zu versetzen und gleichzeitig die absolute Machtfülle der Herrschenden zu untermauern. Dicht gedrängt, mit offenen Mäulern und sich bekreuzigend standen sie dann da, die Bürger, Kaufmannsgattinnen, Handwerksgesellen, Bauern, Knechte und Mägde, eingeschüchtert und fasziniert zugleich von den Todesschreien der Verurteilten, geblendet von den lodernden Flammen, zutiefst dankbar, nur Zuschauer sein zu dürfen.
Das Dschungelcamp hält den Spiegel vor
In anderen Kulturen, z.B. in manchen streng islamisch geprägten Ländern, wurden und werden bis heute Menschen für vergleichsweise geringe Vergehen zu Tode gesteinigt, gepeitscht, geprügelt. Auch das geschieht nie im Verborgenen, sondern immer vor einem möglichst großen Publikum – mitunter sogar im Fußballstadion. Die Intentionen der „Veranstalter“ (= die Herrschenden) sind hier identisch mit denen in der Antike und im Mittelalter, gleiches gilt für die Intention der „Zeugen“ und deren emotionales Befinden. Der Hang zum Voyeurismus und die perverse Lust am Leid anderer sind unausrottbare Wesenszüge der menschlichen Natur.
Worüber also regt sich Herr Jagau auf? Ist das Dschungelcamp im 21. Jahrhundert nicht die Manifestation eines wahrhaft humanistischen Fortschritts in der Entwicklung der Menschheit? Ich denke schon, denn halten wir fest:
1. Wer in das Dschungelcamp einzieht, macht das absolut freiwillig.
2. Für ihre Kakerlaken-Performance kassieren die Kombattanten auch noch (mehr oder weniger) reichlich Gage.
3. Es wird keinerlei körperliche Gewalt ausgeübt. Zur Behebung des kleinsten Wehwehchens ist sofort Dr. Bob zur Stelle.
Das normalmenschliche (Fehl-)Verhalten der Campbewohner untereinander (Psychoterror, Neidattacken, Aggressionen, Schadenfreude etc.) hingegen ist hier nicht mehr und nicht weniger ausgeprägt als im wirklichen Leben: Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz, Randale im Fußballstadion, Schlägerattacken in der U-Bahn, um nur ganz wenige solcher Szenarien zu nennen, mit denen wir Tag für Tag – zumindest über die Medien – konfrontiert werden. Ein paar durchgeknallte Idioten treiben ihr Unwesen, und die sensationslüsterne Meute steht ergriffen, angewidert, verängstigt, erregt, in aller Regel aber tatenlos daneben. So gesehen hält uns das Dschungelcamp lediglich einen Spiegel vor, der unsere Unzulänglichkeiten gnadenlos decouvriert. Auch die Ihren, Herr Jagau. Sie müssen nur genau hinsehen und ehrlich zu sich selbst sein.