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Sportliche Fairness für „Putins Spiele“ in Sotschi

Von Peter Haisenko

Die Winterolympiade in Sotschi gibt Anlass zu berechtigter Kritik. Die Umweltschäden, die Enteignungen und Umsiedelungen, Korruption und schlechte Behandlung von Arbeitern. Die Gigantomanie. Aber, lasst uns bitte fair bleiben.

Putins Spiele werden sie genannt, die Winterspiele, die zweifellos mit dem größten finanziellen Aufwand realisiert wurden, den es je gegeben hat. Putins Spiele: Das allein genügt bereits, um alles um Sotschi schlecht zu reden. Was hat Putin verbrochen, dass an „seinen“ Spielen alles kritisiert wird, auch wenn es mitunter an den Haaren herbeigezogen ist? Warum wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn es um bestimmte Vorgehensweisen, Verordnungen und Gesetze geht? Geschieht es irgendwo auf der Welt, wird es mehr oder weniger stillschweigend zur Kenntnis genommen. Passiert das Gleiche in Russland, geht ein Aufschrei des Entsetzens durch die westliche Medienlandschaft.

Putins „Sündenfall“

Nach dem Ende der Sowjetunion hat Jelzin den Ausverkauf der russischen Nationalökonomie an das westliche Kapital in beispielloser Weise betrieben. Er hatte dafür 28 westliche „Berater“ an seiner Seite und zehn Jahre Zeit. Den Russen ging es wirklich schlecht, während sich Jelzin dem Suff hingab. Dann kam Putin, demokratisch gewählt. Es gab ein Schuldenmoratorium, und Putin hat den Ausverkauf der russischen Nationalökonomie gestoppt, teilweise sogar revidiert.

Putin hat die Oligarchen zur Ordnung gerufen und eine Mittelschicht in Russland geschaffen. Die Oligarchen haben Wohlverhalten gelobt und durften ihr schnell ergaunertes Geld behalten. Alle, außer einem: Chodorkowski. Der hatte den größten Coup für das westliche Kapital vorbereitet, nachdem er zuvor die einzig konkurrenzfähige Autofabrik Avtowaz/Lada für ganz wenig Geld an GM nach Amerika verramscht hatte. Jukos, der größte Ölkonzern sollte an Exxon verhökert werden. Die Folgen wären für Russland tödlich gewesen. Die Einnahmen aus Öl und Gas wären in die USA geflossen, für Russland wären nicht mehr als geringfügige Steuereinnahmen geblieben. Siehe Persien 1944 und den Sturz der Regierung Mossadeq, die einen vergleichbaren Ausverkauf revidieren wollte. Putin hat das verhindert, und wurde damit vom westlichen Kapital zum „Lieblingsfeind“ erkoren.

Der russische Präsident kann tun was er will, es wird im Westen als schlecht, skandalös und undemokratisch dargestellt. Tatsächlich tut er kaum etwas anderes, als das, was in anderen Ländern unbeanstandet bleibt, geflissentlich übersehen oder einfach kleingeredet wird. Ein Vergleich mag das verdeutlichen:

Pressefreiheit:

Putin behindert die freie Berichterstattung aus und in Russland.

Anlässlich des Besuchs von Erdogan in Berlin wurde festgestellt: Die meisten Journalisten weltweit sitzen in der Türkei im Gefängnis. Gefolgt vom Iran und China. Russland steht hier unter „ferner liefen“ und bildet keineswegs die Spitze des Eisbergs.

Korruption:

Von unbestätigten 40 - 50 Milliarden Euro Kosten für Sotschi (genaue Zahlen kennt im Moment niemand) soll ein großer Teil der Korruption geschuldet und in dunklen Kanälen versichert sein.

Am 4. Februar stellt der Korruptionsbericht der EU fest: Der Schaden durch Korruption in der EU betrug im letzten Jahr 140 Milliarden Euro. (Lesen Sie dazu: „Wie viel Korruption verträgt Europa?“)

Homosexualität:

Das Gesetz verbietet in Russland die öffentliche Förderung der Homosexualität.

Homosexualität als solche steht in Indien unter Strafe. Etliche Länder Afrikas bedrohen Homosexuelle mit dem Tod. Kurz vor Weihnachten wurde vom Europäischen Gerichtshof Homosexualität von Afrikanern als Asylgrund anerkannt, weil ihr Leben in Gefahr ist. (Lesen Sie dazu: „Ich bin Homo und werde verfolgt! – Gebt mir Asyl!“)

Umweltschäden in Sotschi:

Um die Spiele in Sotschi zu realisieren, wurden etliche Umweltsünden begangen. Stimmt!

Fairerweise müssen wir an der Stelle vor unserer eigenen Haustüre kehren. Auch in den Alpen wurden im Interesse des Wintersports (und der Tourismusindustrie) jede Menge Umweltsünden begangen. Nur mit dem Unterschied: In den Alpen ist dies sukzessiv im Laufe von rund 100 Jahren geschehen. In Sotschi gab es die geballte Ladung innerhalb weniger Jahre. Das fällt mehr auf.

Bauarbeiter in Sotschi wurden schlecht oder nicht bezahlt:

Das ist zweifellos bedauerlich und anzuprangern.

Man vergleiche die Diskussion um den Mindestlohn in Deutschland. Wanderarbeiter aus östlichen Ländern der EU arbeiten in Deutschland zum Beispiel in der Fleischverarbeitung für Löhne unter 4 Euro/Stunde und leben in schäbigen Massenquartieren. Auf deutschen Baustellen betrügen windige Subunternehmer Wanderarbeiter um ihren Lohn und den Staat um Sozialabgaben.

In Sotschi wurde enteignet und nicht angemessen entschädigt:

Auch das ist zweifellos bedauerlich und anzuprangern.

Die leidvollen Erfahrungen in Deutschland mit Großprojekten, die in ihrem Umfang nicht ansatzweise in der Nähe der Größenordnung Sotschi liegen, haben gezeigt, dass deren Realisierung unter Einhaltung westlicher Werte kaum noch möglich ist. Ich denke dabei an den Flughafen Berlin, die Elbphilharmonie in Hamburg oder Stuttgart 21.

Das IOC hat die Winterspiele nach Sotschi vergeben, unter strikten Auflagen für Anlagen und Infrastruktur. Man war informiert darüber, welchen Kraftakt das für Russland bedeuten würde. Man wusste um den Zeitdruck – und dennoch hat Sotschi den Zuschlag erhalten. Ich empfinde es als unfair, jetzt anzuprangern, dass es wegen der Auflagen und des Zeitdrucks zu Ungereimtheiten beim Bau von Sportstätten, Unterkünften und Infrastruktur gekommen ist. Ich denke, es wäre fairer, die gigantische Leistung Russlands anzuerkennen. Kein westliches Land hätte das bewerkstelligen können.

In Sotschi musste wirklich viel bewegt werden. Mangelhafte Infrastruktur aus dem 19. Jahrhundert war komplett neu zu definieren und zu gestalten. Dass dem natürlich alte Häuser im Weg standen, steht außer Frage, und dass es in der kurzen Zeit nicht möglich sein würde, jeden einzelnen angemessen zu behandeln und entschädigen, war von Anfang an zu erwarten. Aber man muss auch sehen, welche „Qualität“ von Häusern Olympia zum Opfer gefallen sind: Bruchbuden, in denen keiner derjenigen auch nur eine Nacht verbringen wollte, die jetzt mit viel Tamtam den Abriss beklagen.

Das Klima in Sotschi ist ungeeignet:

Hier wird es absurd, und die Kritik erfolgt wider besseres Wissen.

Die Stadt Sotschi liegt am Schwarzen Meer. Im Osten umschlossen von den Bergen des Kaukasus, dessen Gipfel 5.000 Meter erreichen. Die Skigebiete liegen etwa 50 Kilometer östlich der Stadt und beginnen in Höhen über 1.000 Meter. Wenn der wenig winterlich kalte Wind über das Schwarze Meer bläst – im Februar mit maximal 10 Grad Celsius – kühlt er sich beim erzwungenen Aufstieg in die Berge ab, und die Wolken entlassen ihre Feuchtigkeit. Oberhalb von 1.000 Metern schneit es dann – und nicht zu wenig. Der klassische Wintersportort Garmisch liegt auf 700 Meter Höhe, und manches Rennen musste wegen Schneemangels abgesagt werden. Schneekanonen gibt es hier wie dort. Schneesicher? Der Punkt geht klar an Sotschi.

Karl Schranz, der österreichische Altmeister des Skilaufs, hat das Skigebiet selbst als großartig bezeichnet. Ist es auch. Höhenunterschiede von mehr als 1.700 Metern für eine Abfahrt sind auch in den Alpen eher eine Seltenheit. Modernste Aufstiegshilfen und Hütten und eine abwechslungsreiche Landschaft lassen Lust aufkommen, einen Skiurlaub in Sotschi auf die Wunschliste zu schreiben. Skifahren und danach am Strand unter Palmen flanieren. Das erinnert mich an Beirut und den Libanon, als das Land noch nicht zerstört war – vor 1977.

Die Anfahrt zu den Schigebieten ist zu weit:

50 Kilometer von Sotschi zu den Skigebieten? In München wären es 100 oder mehr gewesen.

Es gibt sicher noch weitere Beispiele, die belegen, dass die Berichterstattung über „Putins Spiele“ nicht neutral ist. Vieles, was an Sotschi und Russland kritisiert wird, wird in anderen Ländern mit einem Achselzucken hingenommen, weil der Präsident nicht Putin heißt.

Russland hat großen Nachholbedarf

Speziell was Freizeitanlagen betrifft, hat Russland einen riesigen Nachholbedarf. Bislang mussten Russen ins Ausland reisen, wenn sie „richtig“ Skifahren wollen. Der Kaukasus war nur etwas für Exoten. Das hat sich jetzt geändert. Vielleicht geht es auch darum, wenn Sotschi kritisiert wird: Das Geld der Russen kann jetzt im Land bleiben, anstatt nach St. Moritz, Ischgl oder Söll zu fließen.

Putins Russland hat mit der Olympiade die Chance ergriffen, einen unterentwickelten Bereich des Riesenreichs in kürzester Zeit auf Weltstandard zu bringen. Mit etwas weniger Zeitdruck hätte das vielleicht sozial-verträglicher gestaltet werden können. Aber wäre es dann überhaupt zustande gekommen? Oder wäre es genauso verlaufen, wie der Bau des Berliner Flughafens, bei dem von Anfang an Milliarden versenkt worden sind?

Ich plädiere für olympische Fairness für Sotschi. Ich wünsche den Sportlern fröhliche und unbeschwerte Spiele. Die Winterolympiade in Sotschi ist ein internationales Fest des Sports. Dabei sollte man es belassen und nicht zum Anlass nehmen, auf einen unbequemen Präsidenten einzuschlagen. Im Gegenteil sollte Anerkennung ausgesprochen werden für die Leistungen, die Russland hierzu erbracht hat. Wie das negative Votum der Bayern gezeigt hat, wird es in Zukunft immer schwieriger werden, ein Land dazu zu bewegen, all die Lasten für ein derartiges Großereignis auf sich zu nehmen.

Die Auslegung des olympischen Gedankens an sich sollte überprüft werden. Die gigantomanisch perfektionistischen Forderungen des IOC führen genau zu dem, was heute in Sotschi angeprangert wird. Es ist einfach nicht möglich, jedes Mal einen neuen Superlativ zu schaffen, ohne Individualrechte zu verletzen. Genießen wir lieber Sotschi, denn es dürfte das letzte Mal sein, dass ein Land einen derartigen Aufwand dafür betreiben wird. Vielleicht wird ja die nächste Reise in ein „exotisches“ Skigebiet nicht mehr in die USA führen, sondern ins nähere Sotschi. Das wäre dann ein ökologischer (Nach-)Effekt, denn die Reise dorthin verschlingt nicht so viel Energie.

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