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Wie viel Korruption verträgt Europa?

Von Felix Weinmacher

Seit Jahren drängt die Türkei, Mitglied in der EU zu werden. Ein Land, in dem ein Großteil der politischen Elite in einen gigantischen Korruptionsskandal verstrickt ist? Ein Land, in dem sich der regierende Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan aufführt wie der Kalif von Ankara: selbstherrlich, aggressiv und rücksichtslos. Ein Land, in dem nämlicher Kalif Staatsanwälte und Hundertschaften von Justiz- und Polizeibeamten, die in den diversen Schmiergeld- und Bestechungsaffären ermittelten, kurzerhand absetzen und zu niederen Diensten abkommandieren lässt? Ein Land, dessen Führung der Korruption Vorschub leistet, anstatt diesen Sumpf mit rechtsstaatlichen Mitteln auszutrocknen? – Nein, Freunde! Mit dem Kalifen von Ankara kann es nichts werden mit der EU und der Türkei.

Ministerpräsident Erdogan ist ja bekannt für rustikale Auftritte. Man denke nur an seine aufwieglerische Rede 2008 in der Köln-Arena vor 16.000 begeisterten Anhängern, in der er die „Assimilierung“ von Türken in Deutschland als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (!) bezeichnete. Oder wie er im Januar 2009 auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos wütend die Bühne verlies, weil Israels Präsident Peres etwas sagte, das ihm nicht passte. – Nur zwei Beispiele aus der Vergangenheit, die illustrieren, was der Kalif von Ankara unter politischer Kultur versteht.

Das Image des Kalifen von Ankara hat Kratzer

Seitdem hat der selbstherrliche Autokrat nichts dazu gelernt. Im Gegenteil. Im Sommer 2013 lässt er zunächst friedliche Demonstranten, die sich für den Erhalt des Gezi-Parks in Istanbul einsetzten, brutal niederknüppeln. Dass sich daraus ein landesweiter Protest gegen seine Politik und seine Person entwickeln sollte, konnte er sich in seiner überbordenden Arroganz offensichtlich nicht vorstellen. Aber die jungen, gebildeten Türken in den Großstädten lassen sich nicht einschüchtern, gehen weiter auf die Straße und machen deutlich, dass das Kalifat von Ankara ganz und gar nicht ihren Vorstellungen von einem modernen, demokratischen Land entspricht. Die Bilder von inzwischen keineswegs nur friedlichen Demonstrationen in Istanbul, Ankara, Izmir und andernorts gehen um die Welt und zeigen eine Türkei, wie sie es nach Erdogans Vorstellung nicht geben dürfte.

Und just in dem Moment als sein Image als gütiger, vorausschauender, moderner Landesvater arge Kratzer abbekommt, erdreisten sich Staatsanwälte und Polizeichefs auch noch, gegen Geldwäsche, Schmiergeldzahlungen, Bestechlichkeit etc. vorzugehen, wie es ihrem Amtseid entspricht. Dabei machen die Ermittler weder Halt vor dem Generaldirektor einer Staatsbank, bei dem in Schuhkartons gebunkert (!) 4,5 Millionen Euro gefunden wurden, noch vor Ministersöhnen und zahlreichen Verwandten von Regierungsmitarbeitern.

Keine Gnade für „Nestbeschmutzer“

Das geht dem Kalifen von Ankara dann doch entschieden zu weit. Nestbeschmutzer, die „honorige“ Familien in den Dreck ziehen, nur weil der eine oder andere Filius da und dort mal ein bisschen die Hand aufgehalten hat, um sein Taschengeld ein wenig aufzubessern, kann und will er nicht dulden. Noch vor Jahreswechsel werden ein ermittelnder Staatsanwalt und rd. 500 Justiz- und Polizeibeamte, die in dem Korruptionsskandal ermittelten, ihres Postens enthoben und strafversetzt. Zwei Wochen später ist schon die Rede von 1.700 missliebigen Beamten, die nun irgendwo in der Provinz Akten abstauben und den Verkehr regeln dürfen. Und das nur, weil sie ihren Job ernst genommen und im Sinner der Verfassung gut gemacht haben.

Im Zuge dieser „Säuberungsaktion“ hat der wackere Kalif von Ankara dann auch gleich noch sein Kabinett umgebildet und zehn Minister nach Hause geschickt. Auf deren Sesseln sitzen nun willfährige Handlanger von Erdogans Gnaden, die genau das tun, was er sagt. Haftbefehle werden von der hastig eingesetzten neuen Polizeiführung nicht mehr ausgeführt, den ermittelnden Staatsanwälten wurden die Dossiers entzogen. Nun herrscht also wieder Ordnung zwischen Bosporus und Ostanatolien…

Halt! Nicht ganz. Zuvor muss der Kalif von Ankara, der hinter der ganzen Korruptionsaffäre und dem respektlosen Vorgehen seiner Beamten nicht anderes zu erkennen vermag als eine Verschwörung des Auslands (USA, EU, Israel), noch seine Drohung wahr machen und diesen „dunklen Mächten“ die „Hände brechen“.

So viel zur Aufrechterhaltung der rechtsstaatlichen Ordnung (Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative) in der Türkei; so viel zum Demokratieverständnis des (demokratisch gewählten) Ministerpräsidenten und der politischen Elite des Landes.

Alte Traditionen müssen gepflegt werden

Angesprochen auf die Korruptionsvorfälle in Erdogans Partei AKP meinte Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, etwas hilflos: „Das hat Tradition in der Türkei.“ – Ach na ja, wenn das so ist! Gute alte Traditionen soll man natürlich pflegen. Es an der Stelle nicht zu tun, wäre in den Augen des Kalifen von Ankara wohl auch ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

Gut, sage ich, pflegt eure Tradition der Korruption, aber tut das außerhalb der EU. Sind wir dort doch schon reich gesegnet mit Ländern, in denen Korruption – insbesondere innerhalb der Kaste der politisch Mächtigen – an der Tagesordnung ist: Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Italien…! Bezeichnenderweise hatte Bilal Erdogan (des Kalifen Sohn, der selbst auch im Visier der Ermittler steht) bei seiner Hochzeit 2003 keinen Geringeren als Silvio Berlusconi zum Trauzeugen. Vermutlich hat der „Pate“ aus Rom dem jungen Erdogan nicht nur seinen väterlich-freundschaftlichen Segen, sondern auch gleich noch ein paar Insidertipps für Betrügereien im großen Stil mit auf den Weg gegeben.

Nun, der glatt gebügelte Silvio ist weg vom Fenster (in Italien funktioniert die Justiz letztlich doch noch), und der Kalif von Ankara täte gut daran, sich dessen unrühmlichen Abgang als abschreckendes Beispiel vor Augen zu halten. Denn selbst wenn Justiz und Polizei in der Türkei inzwischen im Sinne Erdogans „gleichgeschaltet“ sind – die Demonstranten auf den Straßen der Großstädte sind es nicht. Das türkische Volk ist in seiner geistigen und ethischen Entwicklung mehrheitlich sehr viel weiter als seine augenblickliche Führung. Und das Volk wird siegen. Das wissen wir Deutschen aus unserer jüngsten Vergangenheit am besten.

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