„Experten“ und „Strategen“ als Kriegstreiber am Werk
Von Bernd Biedermann (Oberst a.D.)
Man kann es kaum fassen, wenn man liest und hört, was sog. Experten und Strategen auf dem Gebiet der Sicherheits- und Militärpolitik heutzutage von sich geben. Die meisten von ihnen haben nie eine militärfachliche Qualifizierung absolviert und verfügen nicht über praktische Erfahrungen in diesem Bereich. Sie reden über Krieg und haben keine Vorstellung davon, was Krieg heute bedeutet.
So äußerte sich zum Beispiel Svenja Sinjen, Expertin für Sicherheitspolitik der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) (1) im Februar 2017 in einem Gespräch bei FOCUS Online folgendermaßen: Es sei „klar, dass wir versuchen müssen, Russland abzuschrecken. Wir müssen in der Lage sein, einen entsprechenden Krieg führen zu können.“ Dazu müsse man allerdings auch innere Widerstände gegen die Militarisierung der EU aushebeln. „Der Bevölkerung die Notwendigkeit einer Aufrüstung zu erklären, halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben der politischen Führung der nächsten Zeit.“ Ungeachtet ihres jugendlichen Alters müsste Frau Sinjen eigentlich wissen, dass es von diesen Aufforderungen nicht mehr weit ist bis zur Suggestivfrage eines Joseph Goebbels „Wollt ihr den totalen Krieg?“
Wofür oder gegen wen muss die EU aufrüsten?
Wer, wie sie, den militärischen Faktor wieder als bevorzugtes Mittel der Politik einsetzen will, spielt mit dem Feuer, und wer davon ausgeht, dass Kriege in Europa geführt werden können, der verkennt die Realitäten des Lebens. Heute sollte jedem vernünftigen Menschen klar sein, dass Europa – insbesondere Zentraleuropa – insgesamt kriegsuntauglich ist. Das war die sicherheitspolitische Gesamterkenntnis beider Seiten in den 1970er und 80er Jahren und galt insbesondere für einen Atomkrieg. Heute gilt das für jeglichen Krieg ob mit oder ohne Kernwaffen. Allein die Anfälligkeit der modernen Infrastruktur gegen destruktive Einwirkungen ist extrem hoch. Nichts würde mehr funktionieren. Wir wären ohne Wasser, ohne Strom, ohne Verbindungen und ohne lebensnotwendige Versorgung. Es wäre wie beim Roulette: „Rien ne va plus.“ (Nichts geht mehr!). Daran könnte auch eine höhere Resilienz (Fähigkeit, Krisen zu bewältigen), wie sie im neuen Weißbuch der Bundeswehr gefordert wird, nicht das Geringste ändern.
Die Frage ist doch: Wofür oder gegen wen muss Europa aufrüsten? Gemeint ist übrigens nicht Europa, sondern die EU, denn zu Europa gehört bekanntlich auch Russland, das nicht nur das größte Land der Erde, sondern auch Europas ist. Die eurozentrierte Sicht, wonach Westeuropa das Zentrum des Kontinents ist, entspricht ebenfalls nicht der Realität. Die geografische Mitte Europas liegt in der Ukraine und nicht in Deutschland. Unabhängig davon ist zu fragen: Wer bedroht die EU, wer die Bundesrepublik Deutschland? Beurteilt man zunächst die potenzielle Bedrohung, so geht sie von den Staaten aus, die über Kernwaffeneinsatzmittel verfügen, die unser Territorium erreichen können, unabhängig davon wie sich die bilateralen Beziehungen gegenwärtig gestalten. Konkret sind das die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, China und Israel.
Was unsere neun direkten Nachbarn angeht, so sind sieben davon sowohl NATO- als auch EU-Mitglied. Österreich ist nicht in der NATO, dafür aber in der EU. Nur die Schweiz ist weder NATO- noch EU-Mitglied. Anzunehmen, dass von diesen Nachbarn eine unmittelbare Bedrohung ausgeht, ist absurd. Genauso unsinnig ist die Behauptung, Russland würde die europäischen Staaten bedrohen. Dafür gibt es aus militärischer Sicht keinerlei Anzeichen.
Nachdem der bisherige Feind abhanden gekommen war, musste sich die NATO neu orientieren. Zunächst wurden mit einer Reihe von Kriegen auf dem Balkan die dortigen Staaten destabilisiert und die Völker ins Unglück gestürzt. Als sich dann im März 2014 die Bevölkerung der Krim in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit für den Wiederanschluss an Russland entschied, brannten in Washington, Berlin und Brüssel regelrecht die Sicherungen durch. Russland wurde beschuldigt, die Friedensordnung in Europa zerstört zu haben und kurzerhand zum Hauptfeind erklärt.
Durch die Sezession der Krim wurde das Ärgste verhindert
Wie steht es mit der Behauptung, Russland habe die Krim annektiert? Weil es unter Völkerrechtlern umstritten ist, ob es sich um eine Annexion oder eine Sezession gehandelt hat, soll hier der Versuch einer kurzen Antwort unternommen werden. Offensichtlich stehen in diesem Zusammenhang zwei Völkerrechtsprinzipien zur Abwägung. Nach meiner Auffassung hat das Recht eines Volkes auf Selbstbestimmung originären Vorrang gegenüber den völkerrechtlichen Prinzipien der Souveränität und Integrität von Staaten, denn ohne Selbstbestimmung würde es keine Nationalstaaten geben. Erst danach stehen Fragen der staatlichen Souveränität und Integrität zur Disposition.
Stellt man die Frage, was denn geschehen wäre, wenn die Volksabstimmung auf der Krim nicht so wie geschehen verlaufen wäre, so gibt es nur eine Antwort: Die USA hätten mit Hilfe der NATO und den Machthabern in Kiew den Hafen Sewastopol besetzt und sich die russische Schwarzmeerflotte unter den Nagel gerissen. Entsprechende Pläne dazu gab es schon längst. Sie gingen zurück auf Zbigniew Brzezinski, der schon in den 1980er Jahren die Idee der Errichtung eines „cordon sanitaire“ vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer entwickelt hatte, um Russland von Deutschland zu trennen. Bis heute geht es den USA darum zu verhindern, dass Deutschland und Russland einvernehmlichen Beziehungen unterhalten. Das hat der US-Politologe George Friedman unmissverständlich erneut zum Ausdruck gebracht.
Was die Krim, den Hafen Sewastopol und die russische Schwarzmeerflotte angeht, so wusste die russische Aufklärung, dass die Realisierung der NATO-Pläne unmittelbar bevorstand. Deshalb war für die russische Regierung Eile geboten. Dass im Rahmen des Referendums auch „kleine grüne Männlein“ eine Rolle gespielt haben, ist überhaupt nicht abzustreiten. Sie haben dafür gesorgt, dass die Volksbefragung ungestört und ohne Gewalt stattfinden konnte. Was wäre wohl geschehen, wenn die Ukraine den Hafen Sewastopol besetzt und die Besatzungen der Schwarzmeerflotte in Gefangenschaft genommen hätte? – Die Antwort ist eindeutig: In diesem Fall hätte Russland mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln reagiert. Es wäre zu einem Krieg im Raum des Schwarzen Meeres gekommen, mit der Gefahr einer unabsehbaren Eskalation. So gesehen wurde durch die Sezession der Krim das Ärgste verhindert.
Die NATO ist ein reines Zweckbündnis
Auch wenn die Sicherheitskonferenz 2017 in München nicht alle Erwartungen der Neokonservativen erfüllt hat – zur Erhöhung der Sicherheit hat sie aber auch nicht beigetragen. Allerdings ist Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf die Idee gekommen, die NATO als eine Wertegemeinschaft zu bezeichnen, „die in allem ihren Tun an die Würde des Menschen gebunden ist.“ Diese Aussage ist an Demagogie kaum zu übertreffen. Die NATO war und ist ja wohl vor allem ein Zweckbündnis, in dem die USA ihre strategischen Interessen durchsetzen. Das war im Kalten Krieg so und hat sich auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der sozialistischen Staatengemeinschaft nicht geändert.
Deutlicher als der erste Generalsekretär der Allianz, Lord Ismay, es damals gesagt hat, kann man es auch heute nicht sagen: „We founded the NATO, to keep in Europe the Americans in, the Russians out and the Germans down.“ (Wir haben die NATO gegründet, um in Europa die Amerikaner drin, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten.) Das wollen, was Deutschland angeht, starke neokonservative Kreise ändern, indem sie nach einer führenden Rolle in und außerhalb der EU streben. So jedenfalls steht es in dem Papier „Neue Macht, neue Verantwortung“ der Stiftung Wissenschaft und Politik von 2013 und im Weißbuch 2016 der Bundeswehr und so hat es der neue Außenminister Sigmar Gabriel auf der Sicherheitskonferenz in München betont. Möglicherweise bieten sich ihnen dafür mit der neuen Administration in Washington unter Präsident Trump größere Chancen.
______________________
1) Die DGAP fördert seit 60 Jahren die außenpolitische Meinungsbildung in Deutschland. Ihre Ziele sind: Beratung von Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, Information der Öffentlichkeit über Fragen der internationalen Politik und Förderung der außenpolitischen Stellung Deutschlands in der Welt.
Zur Person Bernd Biedermann:
Im Unterschied zu den selbsternannten Experten handelt es sich beim Autor dieses Beitrags tatsächlich um einen Experten auf dem Gebiet der Sicherheits- und Militärpolitik. Er war 15 Jahre Angehöriger der strategischen Aufklärung der Nationalen Volksarmee, verfügt über jahrelange Erfahrungen im Truppendienst, hat ein Vollstudium an der Militärakademie „Friedrich Engels“ in Dresden mit einem Sonderdiplom abgeschlossen und einen Kurs an der Akademie der Hauptverwaltung Aufklärung der Sowjetarmee absolviert. Von 1979 bis 1982 war er Gehilfe des Militärattachés bei der Botschaft der DDR in China und von 1984 bis 1988 Militär-, Marine- und Luftwaffenattaché bei der Botschaft im Königreich Belgien mit Zweitakkreditierung im Großherzogtum Luxemburg. Im Rahmen der Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen hat er 1988 als Manöverbeobachter in der BRD und 1989 in Frankreich teilgenommen. Bis zum Ende seines aktiven Wehrdienstes 1990 versah er Dienst im Verifikationszentrum des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR und kurzzeitig noch im Zentrum für Verifikation der Bundeswehr. Seine militärfachliche und strategische Kompetenz steht außer Zweifel.