Fake News: Die Verteidigung westlicher Werte und die europäische Sicherheitsarchitektur
Von Peter Haisenko
Manch einer wünscht sich die Verhältnisse vor 1990 zurück. Klare Feindbilder und eine einfache Sicherheitsarchitektur machten die Welt einfach und die NATO hatte ihre definierte Aufgabe, den westlichen Kapitalismus vor dem Ostblockkommunismus zu schützen, die westlichen Werte zu verteidigen. Letztere Aufgabe war allerdings schon damals mehr als zweifelhaft, wenn man die Verteidigungsstrategien genauer betrachtet.
Die Demarkationslinie zwischen Ost und West, der „Eiserne Vorhang“, trennte Gut von Böse und verlief mitten durch das geteilte Deutschland. Wäre es zu einem Krieg gekommen, hätte dieser auf deutschem Boden stattgefunden. Allgemein herrschte die Auffassung, dass die atomare Abschreckung das verhindern würde. Hat sie wohl auch, aber wie sahen die Planungen für den Kriegsfall aus? Deutschland war für die atomare Vernichtung vorgesehen. Zwischen Weser und Weichsel waren 2.200 Atomzielpunkte festgelegt, als Zielkoordinaten eingespeichert. Zusätzlich gab es 400 ADM-Sperrzüge, bestückt mit Atomsprengköpfen von 0,01 bis einer Kilotonne Sprengkraft, die ganze Landstriche atomar verseucht unpassierbar machen sollten. Wohlgemerkt – das waren die Planungen unserer Freunde, die angeblich unserem Schutz dienten.
Nach 1990 hätte die NATO aufgelöst werden müssen
Auf der Sowjetseite sah es nicht besser aus, wie mir von Ex-NVA-Offizieren berichtet wurde. Man erinnere sich an den Sowjetbotschafter Valentin Falin, der Entrüstung provoziert hatte, als er offen deutsche Großstädte als Abwurfziele für Atombomben genannt hat. Die „Sicherheitsarchitektur“ des Kalten Kriegs war folglich, dass Deutschland, Ost und West, zur totalen atomaren Verwüstung vorgesehen war, um ein Vordringen des Sowjetkommunismus nach Westen zu stoppen. Deutschland hätte nach einem heißen Krieg nicht mehr existiert. Man bedenke hierzu, dass auf deutschem Boden Haubitzen stationiert waren, bestückt mit Atomgranaten und mit einer maximalen Schussweite von fünfzig Kilometern. Diese standen jedoch keineswegs direkt am Eisernen Vorhang, sondern weit mehr als fünfzig Kilometer westlich desselben. Die Atomgranaten hätten weit innerhalb des Gebiets der BRD eingeschlagen. Ich verweise hierzu auf das Kapitel „Schutz oder Vernichtung“ in meinem Buch „England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert“.
Mit dem Fall der Sowjetunion ist auch die angebliche Bedrohung durch dieselbe entfallen. Die NATO hätte folglich aufgelöst werden müssen, wegen Wegfalls der Vertragsgrundlage. Russland und die Staaten der GUS waren keine Bedrohung mehr. Die NATO ist nicht aufgelöst worden, sondern hat sich vergrößert in Richtung Osten. Neue Partner waren ein willkommenes Absatzgebiet für Waffen aus westlicher Produktion. Russland hatte unter Jelzin praktisch keine politische Bedeutung und so blieb ein wirksamer Protest gegen diese Osterweiterung aus. Das Fehlen eines Gegengewichts zur US-Politik hatte fatale Folgen, nicht nur was die Wirtschaftsentwicklung zum Turbokapitalismus anbelangt, sondern auch in Bezug auf die Wahrung der „westlichen Werte“.
Der europäische Kontinent ist weder kriegsfähig, noch kriegswert
Jugoslawien, das leuchtende Beispiel für einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus, ist völkerrechtswidrig zerschlagen worden. Zweimal Irakkrieg, begründet mit Lügen. Mit der Zerstörung des World Trade Centers am 11. September 2001 sind dann die letzten moralischen Grundlagen beiseite gelegt worden. Wenn heute noch von „westlichen Werten“ die Rede ist, muss man sich fragen, was damit gemeint sein kann. Ist es der Raubtierkapitalismus oder Guantanamo? Ewiger Krieg in Afghanistan oder weltweite Drohnenmorde? Waffenlieferungen an Terroristen in Syrien und anderswo, die Bombardierung Libyens oder die Zerstörung des Jemen? Vielleicht gar das Hofieren ukrainischer Faschisten und die Provokationen gegen Russland? Eines sollte klar sein: Wer von westlichen Werten spricht, kann nicht das Streben nach Frieden oder sozialer Gerechtigkeit meinen. Welche Werte sollen also verteidigt werden? Vielleicht gar der Respekt vor einer demokratischen Wahl? Spätestens seit dem Plebiszit auf der Krim und der Wahl von Präsident Trump ist auch dieser „Wert“ ganz offensichtlich verloren gegangen.
Nähern wir uns dem Thema auch noch einmal von der anderen Seite und orten Werte, die in den meisten Staaten der westlichen Welt vielleicht noch etwas gelten und die es wert wären, verteidigt zu werden: Gewaltenteilung mit unabhängiger Justiz und Parlamenten, in denen auch die Opposition eine Stimme hat; Versammlungs- und Demonstrationsrecht; Gleichberechtigung von Mann und Frau; Recht auf freie Meinungsäußerung; Pressefreiheit, die auch regimekritische Journalisten vor Repressalien bewahrt… Dann muss unsere Verteidigungsministerin, die sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinstellt und die NATO als „Wertegemeinschaft“ glorifiziert, umgehend den Antrag stellen, dass die Türkei sofort aus der NATO ausgeschlossen wird. Denn alle hier genannten Werte werden von Erdogan nicht verteidigt, sondern mit Füßen getreten.
Der strapazierte Begriff der europäischen Sicherheitsarchitektur ist nur eine hohle Phrase. Die europäischen Staaten werden sich nicht mit Waffen angreifen und hier beziehe ich eindeutig das größte Land Europas, nämlich Russland, mit ein. Europa ist auf eigenem Territorium nicht mehr kriegsfähig und noch weniger kriegswert. Zu feinverflochten sind Infrastruktur und Versorgung der Bevölkerung. Eine kriegsbedingte Störung allein in der Energieversorgung würde alles zusammenbrechen lassen. Kein Trinkwasser und die Vorräte in der Tiefkühltruhe wären schnell Biomüll in durchweichter Pappe. So ist auch hierzu die Frage zu stellen: Welche Sicherheitsarchitektur meinen wir? Vor welcher Bedrohung aus welcher Richtung müssen wir uns schützen? Kann ein gesundes Gehirn annehmen, dass Russland sein Territorium mit Waffengewalt Richtung Westen vergrößern will, nur um dann eine verwüstete Struktur mit andauernder Gewalt zu beherrschen? Müssen wir fürchten, von der Türkei angegriffen zu werden? Andere Grenzen als zu Russland und der Türkei hat die EU nicht.
Auslandseinsätze der Bundeswehr sind grundgesetzwidrig
Wer sollte also Europa militärisch angreifen wollen oder können? Afrika oder die Staaten des Nahen- und Mittleren Ostens sind dazu nicht in der Lage. Die einzige Bedrohung aus dieser Richtung ist Massenmigration und die wird gerade von denjenigen willkommen geheißen, die den Begriff der europäischen Sicherheitsarchitektur besonders strapazieren. Also nochmals die Frage: Welche europäische Sicherheitsarchitektur meinen die, die immer davon reden? Diese Frage ist unbeantwortet. Der Begriff wird als solcher einfach in den Raum gestellt, aber in keiner Weise definiert. Gehört vielleicht die „Verteidigung am Hindukusch“ dazu? Das wäre schlüssig, denn wofür könnte die Bundeswehr sonst Transportflugzeuge A 400 M mit Langstreckenkapazität benötigen?
Das Grundgesetz verbietet Einsätze der Bundeswehr, die nicht der direkten territorialen Verteidigung Deutschlands dienen. Dafür braucht man keine Transportflugzeuge. Betrachtet man das Grundgesetz im Sinne seiner Väter, dann haben deutsche Soldaten nichts verloren auf fremden Kontinenten oder auch in anderen europäischen Staaten. Genau darum ist es ihnen gegangen, nämlich auszuschließen, dass Deutschland jemals wieder Soldaten in andere Länder entsendet um Krieg zu führen. Ich stehe nicht allein mit der Auffassung, dass das Grundgesetz über anderen Verträgen stehen muss und so dürfen auch nicht mit NATO-Verträgen grundgesetzwidrige Einsätze der Bundeswehr begründet werden. Es ist wohl nicht minder bescheuert zu argumentieren, dass Deutschland in Litauen verteidigt wird, wie am Hindukusch. Der Aufmarsch hier wie dort kann nicht der „europäischen Sicherheitsarchitektur“ dienen.
Jeder vernünftige Mensch wünscht sich Abrüstung
Was bleibt also übrig von der Verteidigung westlicher Werte und europäischer Sicherheitsarchitektur? Kann man westliche Werte noch mit mehr begründen, als mit brutalkapitalistischer Ausbeutung der Dritten Welt? Mit Waffenlieferungen dorthin, damit sie sich gegenseitig noch effizienter umbringen können? Mit dem Sturz unliebsamer Regierungen oder dem Abwurf von Bomben auf Staaten, die sich partout nicht ausbeuten lassen oder unterordnen wollen? Ist es wirklich so weit gekommen, dass westliche Werte nur noch aus Homoehe und Transgendertoiletten bestehen?
Kann Aufrüstung die Sicherheit in Europa verbessern? Wäre es nicht besser, mit allen Staaten freundlich zusammenzuarbeiten und abzurüsten? Nicht mehr Regierungen zu destabilisieren (Ukraine), auch wenn sie andere Pläne haben, als wir uns wünschen? Europa bis zum Ural kann keine Kriege mehr auf eigenem Terrain führen, ohne sich selbst zu zerstören. Das muss die Grundlage der europäischen Sicherheitsarchitektur sein und der Weg dorthin führt zwangsläufig zu Abrüstung, die sich jeder vernünftige Mensch wünscht. Das Gleichgewicht des Schreckens war ein Schreckgespenst des Kalten Kriegs. Der ist mangels Gegner vorbei, auch wenn uns die Generäle und Waffenproduzenten etwas anderes weismachen wollen, weil sie fürchten, ihre Daseinsberechtigung zu verlieren.
Schutz für Deutschland durch den ehemaligen Feind, die Alliierten? Von 1945 bis 1949 hat dieser „Schutz“ zum Tod von mindestens 13,4 Millionen Deutscher geführt. Der vorsätzlich herbeigeführte „Tod auf den Rheinwiesen“ war nur ein kleiner Teil davon. Die Vertreibung Deutscher aus den Ostgebieten hat mindestens sechs Millionen das Leben gekostet. Sie wurde in den Potsdamer Verträgen als „Reinigung vom deutschen Element“ bezeichnet und sah keinerlei Schutz für deutsche Flüchtlinge vor. Der Rest verstarb an Hunger und Unterversorgung, die gezielt herbeigeführt worden sind. Dass es niemals eine „edle Gesinnung“ der Angelsachsen gegenüber Deutschland gegeben hat, und wahrscheinlich bis heute nicht gibt, sondern nur (wirtschaftliche) Machtinteressen, wird verstehen, wer mein Werk „England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert“ gelesen hat. Im Buchhandel oder direkt vom Verlag bestellen hier. Wir liefern auf Rechnung, ohne Paypal oder komplizierte Vorkasse.