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Martin Schulz und die posttraumatische Euphorie

Von Peter Haisenko 

Innerhalb weniger Tage hat Martin Schulz die Herzen der Deutschen erobert. Nach neuesten Umfragen will ihn jetzt eine Mehrheit lieber im Kanzleramt sehen als die ewige Kanzlerin. Ist Schulz wirklich so gut oder zeigt sich hier die wachsende Verdrossenheit darüber, dass wir seit zu langer Zeit immer nur die Wahl zwischen den ewig gleichen Gesichtern haben?

Demokratie lebt vom Wechsel, sagt man. Der Zustand unserer Demokratie ähnelt aber schon lange eher einer Erbmonarchie. Nehmen wir dazu beispielhaft Graf Lambsdorff, Vater und Sohn, oder Monika Hohlmeier, die Tochter von FJS und nicht zu vergessen von der Leyen, die Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Albrecht. Seit vierzig Jahren müssen wir Schäuble ertragen, der seine Tochter in eine führende Position in den Medien gedrückt hat. Wer es einmal geschafft hat, innerhalb des Parteienklüngels eine prominente Position zu bekommen, der darf damit rechnen, diese auf ewig zu behalten, solange er brav die vorgeschriebene Richtung vertritt. Dann hat er auch große Chancen, seinen Nachwuchs ebenfalls in den politischen Versorgungsapparat zu hieven. Läuft er aus dem Ruder, finden sich schnell abgeschriebene Doktorarbeiten oder Kinderpornographie auf seiner Festplatte.

Als „Königsmörder“ will sich keiner offenbaren

Für eine politische Karriere in Deutschland ist es wichtiger, stets den Häuptlingen nach dem Mund zu reden, als mit Sachverstand, klugen Positionen oder gar konsequenter Integrität zu punkten. Versager werden nicht aussortiert, sondern mit Aufstieg belohnt. Röttgen, Gabriel. Beide haben in Landtagswahlen gnadenlos versagt und Letzterer ist danach sogar mit der Führung der SPD belohnt worden. Wen wundert es da noch, dass diese fette Null seine Partei in ein historisches Umfragetief geführt hat? Die Ergebnisse der Parteitagswahlen des Vorsitzenden können trotz ihres schwachen Ergebnisses nicht als ehrlich angesehen werden, weil die Stimmabgabe nicht anonym ist. Wer will sich schon als „Königsmörder“ offenbaren und so vielleicht seine Parteikarriere gefährden? Das gilt natürlich auch oder noch mehr für die CDU und ihre Kanzlerin.

Der Wendehals Gabriel ist nicht nur bei den SPD-Mitgliedern alles andere als geliebt, schon gar nicht verehrt, als moralisch integrer Visionär. Im Interview mit dem Magazin Stern hat er zugegeben, dass er bereits seit mehr als einem halben Jahr geplant hatte, seinen Posten als Parteichef aufzugeben und nicht als Kanzlerkandidat anzutreten. Abgesehen davon, dass es wieder einmal diversen taktischen Überlegungen geschuldet ist, diese Entscheidung so lange zu verheimlichen, dürfte dieses Verhalten demselben Problem zuzuordnen sein, das auch die alternativlose Entscheidung von Frau Merkel zur Kandidatur zwingend gemacht hat: Es gibt keinen halbwegs tauglichen Nachfolger. Jetzt hat Gabriel Martin Schulz aus dem Hut gezaubert. Dessen größtes Pfund dürfte wohl sein, dass er innerhalb des deutschen Politikklüngels noch unverbraucht ist und kaum jemand etwas Konkretes über seine Erfolge oder deren Absenz in der Europapolitik weiß.

Leere Worthülsen statt konkrete Aussagen

Quelle: Berliner Morgenpost vom 04.02.2017

Darf das Aufblühen der geradezu euphorischen Aufbruchsstimmung in der SPD mit der Nominierung von Schulz dessen Person, gar seiner Persönlichkeit zugeordnet werden? Ich denke nicht. Dieser Auftrieb ist einer posttraumatischen Euphorie geschuldet. Mit Gabriel befand sich die SPD in einem unaufhaltsamen Niedergang und vielen SPD-Mitgliedern war das schmerzlich bewusst. Es hätte wohl jedes unverbrannte Gesicht sein können, Hauptsache, man wird die Last Gabriel los. Die ersten Kommentare zu Schulz zeigen aber, dass es sich hier wahrscheinlich nur um ein Strohfeuer handeln wird. Nicht nur, dass auch Schulz nur leere Worthülsen produziert, sich nicht klar von der „Agenda 2010“ distanziert, wird bei der nun stattfindenden Beschäftigung mit seiner Person und vor allem seinen „Leistungen“ schnell deutlich, dass Schulz eben nicht der „Macher“ ist, als der er sich in seiner hemdsärmeligen Forschheit selbst gern sieht und von seinen Protagonisten dargestellt wird.

Wie alle Politikdarsteller in den oberen Rängen ergeht sich auch Schulz in substanzlosen Phrasen – das allerdings mit erfrischender Nonchalance. Er stellt sich dar als der Retter der sozialen Gerechtigkeit. Das tut er aber in der bekannten Weise, nämlich unverbindlich. Er beschreibt mit Inbrunst die Fehlentwicklungen des Systems, bleibt aber konkrete Handlungsankündigungen schuldig. Haben wir schon etwas gehört wie: „Ich werde die Leiharbeit wieder streng regulieren, sie teurer machen als normale Arbeitsverhältnisse“, oder: „ Ich werde die Kapitaleinkünfte genauso hoch besteuern, wie produktive Arbeit“? Ja, natürlich hat er gesagt, dass es nicht gerecht ist, aber nicht, wann und wie er das ändern will, oder sogar wird und das als Wahlversprechen gekennzeichnet.

Die Wähler wollen die immer gleichen Köpfe nicht mehr sehen

Wohl aus diesem Grund ist die Panik der CDU verhalten, wenn Schulz jetzt in manchen Umfragen vor Merkel rangiert. Dennoch sollte die CDU genau hinsehen, was da geschehen ist. Sie hat nämlich dasselbe Problem. Auch ihre Vorsitzende und Kanzlerkandidatin ist mit einem schlechten internen Wahlergebnis abgestraft worden und auch dieses Ergebnis dürfte kein echtes Stimmungsbild darstellen. Wie gesagt, keine geheime Abstimmung und es sind vermehrt Merkel-kritische Äußerungen nicht nur aus der Parteibasis an die Öffentlichkeit gekommen. Erika Steinbach war hier nur die Prominenteste und die hat sich getraut, weil sie wegen ihres Alters sowieso am Ende ihrer Karriere ist. Wenn die CDU wieder Boden gut machen will, dann sollte sie sich gut überlegen, ob sie nicht einen ähnlichen „Schulz-Effekt“ benötigt, um eine Aufbruchsstimmung mit einer „Post-Merkel-Euphorie“ anzufachen. Aber da steht sie vor einem noch größeren Problem als die SPD. Die CDU kann nicht mal einen unverbrauchten Kopf aus der Europariege hervorzaubern, der den Wählern als Heilsbringer präsentiert werden könnte.

Die Wähler sind es einfach leid, mit den immer gleichen Köpfen abgespeist zu werden. Mit dem immer gleichen Ablauf, dass sich niemand nach der Wahl an seine Wahlversprechen gebunden fühlt, wie Schäuble ja öffentlich zugegeben hat. Die stetig sinkende Wahlbeteiligung zeigt das ebenso, wie eine frische Kraft, die AfD, aus dem Stand Hunderttausende zurück an die Wahlurnen holen konnte. Der Parteienklüngel hat aus unserer Demokratie einen amorphen Brei der Inkompetenz gemacht. Geniale Köpfe – und die gibt es zweifellos – haben keine Chance, in die Führungsebenen vorzustoßen. Zu groß die „Gefahr“, dass sie die Inkompetenz der „Führungseliten“ unübersehbar machen und deren Anspruch auf die vordersten Plätze an den Fleischtöpfen infrage stellen.

Rangeln um die Fleischtöpfe nun auch in der AfD

Die westliche Politik ist nur noch ein Geschäft, ein unwürdiges Gerangel um Abgeordnetendiäten, anschließende hochbezahlte Posten in der Industrie und schließlich satte Pensionen. Niemand will sich mit einem klar dargestellten Standpunkt angreifbar machen. Wir machen uns große Sorgen, wir beobachten das genau, wir denken darüber nach, wir arbeiten daran und natürlich nehmen wir die Sorgen der Bürger ernst. Lauter leere Worthülsen, endlos wiederholt und ohne greifbare Ansätze, die irgendetwas darüber aussagen könnten, was man denn nun wirklich zu tun gedenkt, mit welchen Lösungen man Problemen begegnen wird, nicht will, sondern wird. Darin unterscheidet sich Schulz in Nichts vom Rest der Politsaurier, denen wir jetzt auch schon ausgeliefert sind.

Der Wahlsieg von Donald Trump und die Anfangseuphorie um Martin Schulz zeigen vor allem eines überdeutlich: Ganz gleich, welche Qualität eine Person wirklich hat, es reicht aus, dass es ein neues Gesicht ist, mit minimal-charismatischen Fähigkeiten. Oder eben eine neue Partei wie die AfD. Und wenn ich hier schon bei der AfD bin, muss ich feststellen, dass auch in dieser neuen Partei schon die Rituale des Parteienklüngels Einzug gehalten haben. Jetzt, da es die realistische Aussicht auf Plätze an den Fleischtöpfen gibt, ist das Hauen und Stechen um diese in vollem Gange. Nicht nur das. Obwohl sich die AfD noch in einer Aufbauphase befindet, sind die oberen Ränge schon fest zementiert und es wird zugelassen, dass Unfähige wie in etablierten Parteien nicht aussortiert, sondern einfach auf ihrem Posten kaltgestellt werden, ohne Verlust von Privilegien. Wie sonst könnte es sein, dass die Vorsitzende nicht mit ihrem Sprecher kann, dieser aber immer noch den Posten hat?

Alles, was stört, wird ins „Postfaktische“ verbannt

Der Wahlsieg von Donald Trump und der fulminante Start seiner Regierungsarbeit hat die Phalanx der Politsaurier nur noch enger zusammengeschweißt. Die umgehende Erfüllung von Wahlversprechen wird mit ungläubigem Staunen bis irrationaler und totaler Ablehnung quittiert. Kein Wunder, denn hier zeigt jemand, der eben nicht aus der Riege der Politsaurier kommt, dass es nicht unmöglich ist, seine eigenen Wahlversprechen ernst zu nehmen und so den Wählerwillen tatsächlich zu respektieren. Wie wollen sich danach noch Politiker wie Schäuble rechtfertigen, die ganz offen zugegeben haben, was sie über ihre Wahlversprechen denken und mit welcher Chuzpe sie so den Wähler ganz offen betrügen?

Doch zurück zu Martin Schulz. Sein Anfangserfolg zeigt eines deutlich. Man ist es leid, immer wieder aus den altbekannten Köpfen auswählen zu müssen. Den abgenutzten Figuren, die in langen Jahren jegliches Vertrauen in ihre Redlichkeit verspielt haben. So, wie jetzt Donald Trump mit eisernem Besen durch die Reihen des Establishments fegt, so müssen alle Parteien ihr Führungspersonal überprüfen und wahrscheinlich komplett austauschen. Martin Schulz gehört zum Establishment der SPD, hat maßgeblich an der Agenda 2010 mitgearbeitet und sich auch nach mehrfacher Nachfrage nicht von dieser distanziert. Wenn also bereits ein immerhin wenig bekanntes Mitglied des alten Klüngels in der Lage ist, seine Partei in Aufbruchsstimmung zu versetzen, was könnten dann wohl wirklich frische Gesichter bewirken?

Jedes neue Gesicht, das endlich die verbrauchten ersetzt, wird eine posttraumatische Euphorie auslösen. Und am besten eines, das, wie Trump, nicht aus dem Politestablishment kommt. Vielleicht wie der neue US-Außenminister Tillersen, ein Ex-Vorstand, der ausgesorgt hat, keine (Polit-)Karriere mehr braucht, so nur noch seinem Gewissen verpflichtet ist, bevor er vor das höchste Gericht treten muss. Ich fürchte aber, dass für einen solch radikalen, aber visionären Schritt speziell das deutsche Politestablishment in keiner Weise bereit ist. Man hat sich in seinem Paralleluniversum eingerichtet und alles an Fakten, die da stören könnten, ins „Postfaktische“ verbannt. Martin Schulz ist da sicher keine Ausnahme und er ist sicher nicht geeignet, den alten Klüngel aufzuräumen. Einen echten Neuanfang wird es mit Schulz nicht geben, trotz der überbordenden Vorschusslorbeeren.

 

 

Ergänzend zu diesem Artikel empfehlen wir das Werk von Hans-Jürgen Geese: „Die Deutschen – Das klügste Volk auf Erden verabschiedet sich von der Geschichte“. Schonungslos und mit spitzer Feder zerlegt er unsere „Eliten“ und zeigt auf, wie diese Deutschland verraten haben. Sein frischer Stil und eine gehörige Portion Humor machen dieses Buch zu einem echten Lesevergnügen, obwohl das Thema alles andere als lustig ist. Im Buchhandel oder direkt vom Verlag hier.

Eine Rezension zu diesem Buch finden Sie hier: Blick von außen auf eine Gesellschaft, die sich selbst zerlegt  

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