Syriens Rückkehr in die Mainstream-Schlagzeilen durch Amnesty International
Von Bernd Murawski
Nachdem es über Ost-Aleppo nichts „Brauchbares“ mehr zu berichten gab, gerät Syrien mit dem aktuellen Rapport von Amnesty International über Massenhinrichtungen erneut in die Schlagzeilen. Von 13.000 Gefangenen, die bei Massenhinrichtungen durch das Assad-Regime getötet wurden, ist die Rede. Zuverlässige und nachprüfbare Belege über diese Zahl bleibt AI schuldig. Was der Öffentlichkeit geboten wird, sind Schätzungen.
Die letzte große Meldung westlicher Medien aus Ost-Aleppo betraf den vermeintlichen Tod von 82 Zivilisten, die einer Racheaktion syrischer Soldaten zum Opfer gefallen sein sollen. Dafür gab es ebenso wenig stichfeste Belege wie für eine Vielzahl früherer Meldungen über Bombardierungen von Hilfskonvois und zivilen Objekten durch syrische und russische Militärkräfte. Nach der Einnahme Ost-Aleppos durch die syrische Armee stellten sich schließlich zahlreiche Berichte westlicher Medien als Fake-News heraus. Um sich den Realitäten nicht stellen zu müssen, erschien es daher opportun, das Thema aus den Schlagzeilen zu nehmen.
Die Existenz von Geheimgefängnissen ist längst bekannt
Nachdem es einige Wochen ruhig um Syrien war, bietet Amnesty International den Medien nun eine Gelegenheit, das Bild vom „Schlächter“ Baschar al-Assad aufzufrischen. Auch wenn diese Menschenrechtsorganisation schon einige Male zuvor durch einseitige Stellungnahmen zum Thema Syrien aufgefallen ist, so verfügt sie weiterhin über eine recht hohe Reputation. Diese wird offenbar von den Mainstream-Medien genutzt, wenn sie jetzt den Bericht über Massenhinrichtungen im Militärgefängnis Saydnaya bei Damaskus zwischen 2011 und 2015 aufgreifen.
So schreibt die „Zeit“, „Syriens Regierung hat nach Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisation Amnesty International rund 13.000 Gefangene bei Massenhinrichtungen töten lassen“. Dies entspricht den Angaben eines Artikels der britischen WEB-Seite von Amnesty International. Bei der „Tagesschau“ heißt es dagegen „bis zu 13.000“, während laut „Bild“ und „Welt“ „zwischen 5.000 und 13.000 Menschen gehängt“ wurden. Ausnahmsweise sind es diesmal die Publikationen des Axel-Springer-Verlags, die die Zahlen aus dem Rapport von Amnesty International wahrheitsgemäß wiedergeben.
Dass es in Syrien Geheimgefängnisse gibt, in denen durch Folter Geständnisse erpresst und Regimegegner eliminiert werden, ist nun wirklich keine Neuigkeit. Davon haben bekanntermaßen die USA zu einer Zeit Gebrauch gemacht, als das Assad-Regime noch als Partner betrachtet wurde. Auch kann angenommen werden, dass angesichts der aktuellen militärischen Bedrohung mit Oppositionellen weitaus rabiater umgegangen wird, als dies in Friedenszeiten der Fall wäre. Dennoch ist keineswegs unwichtig, in welchem Umfang Hinrichtungen stattgefunden haben. Worauf beruhen nun die Angaben von Amnesty International im Einzelnen?
Wie viele Augenzeugen gibt es wirklich
In dem 48-seitigen Bericht wird auf 84 Zeugen verwiesen, die überwiegend getrennt interviewt worden sind. Davon sind 31 ehemalige Gefangene, 4 ehemalige Wärter, 3 ehemalige Richter, 3 ehemalige Ärzte des Militärkrankenhauses, 4 syrische Anwälte und 22 Familienangehörige tatsächlich oder vermeintlich in Saydnaya Verhafteter. Dazu kommen 17 internationale und nationale Experten, die über Informationen zu den Haftbedingungen in syrischen Strafanstalten verfügen (Seite 9).
Allein die im Gefängnis Beschäftigten waren in der Lage, Angaben über die Anzahl der Hingerichteten zu machen (Seite 17). An anderer Stelle wird hervorgehoben, dass nur ein paar Wärter und „Offizielle“ Bescheid wussten, nämlich jene, die unmittelbar involviert waren (Seite 6). Die Anzahl der Zeugen, die Angaben über den Umfang der Exekutionen machen konnten, schrumpft somit auf eine Handvoll zusammen. Keiner von ihnen nennt eine Gesamtzahl, stattdessen erwähnen sie periodisch stattgefundene Hinrichtungen. Zudem gibt es im Bericht von Amnesty International keinen Hinweis darauf, wie lange diese Personen jeweils beteiligt bzw. informiert waren.
Amnesty International gelangt nun folgendermaßen zu der Zahl “5.000 bis 13.000“: “These estimates were based on the following calculations. If between seven and 20 were killed every 10-15 days from September to December 2011, the total figure would be between 56 people and 240 people for that period. If between 20 and 50 were killed every week between January and November 2012, the total figure would be between 880 and 2,200 for that period. …” (Seite 17).
Erhebliche Differenz der Zahlen spricht für sich
Eine Schätzung allein mithilfe von Extrapolationen erscheint recht gewagt, zumal sie auf äußerst ungenauen Angaben beruht. Dies zeugt nicht gerade von Professionalität, und die erhebliche Differenz der Zahlen spricht für sich. Da die interviewten Personen sich allesamt in westlichen Staaten oder in der Türkei aufhalten (Seite 5), stellt sich zudem die Frage der Glaubwürdigkeit. Es liegt nahe, dass sie mittels übertriebener Angaben den eigenen Fluchtgrund rechtfertigen und auf etwaige Vorteile spekulieren.
Um zu belastbaren Zahlen zu gelangen, wäre eine Liste verschwundener Personen hilfreich. So wurde zur Zeit der Militärdiktaturen in Lateinamerika zwischen den 1960er und 1980er Jahren der Begriff „Desaparecidos“ geprägt, der übersetzt „die Verschwundenen“ heißt. Dabei handelte es sich um rund 35.000 Personen, die namentlich bekannt waren. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass 1992 Dokumente über eine „Operation Condor“ an die Öffentlichkeit gelangten, die eine aktive Teilnahme oder zumindest eine Mitwisserschaft des CIA an der Ermordung zehntausender Oppositioneller belegen.
Auch Amnesty International teilt im Rapport mit, über eine Liste verschwundener Personen zu verfügen, die nachweislich im Militärgefängnis Saydnaya hingerichtet wurden. Diese umfasst ganze 36 Namen (Seite 7).