Brüsseler Sand in deutsche Augen
Von Willy Wimmer
Österreich, Du hast es besser. Wer am Freitag, den 29. Juni 2018, die stets höchst informative Nachrichtensendung des Österreichischen Rundfunks bei ZIB 2 gesehen hat, kam aus dem Staunen nicht heraus. Da stellte sich in verständlichen und geduldigen Worten der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz den Fragen zu den Ergebnissen des Brüsseler Gipfeltreffens der Europäischen Union, das Stunden zuvor zu Ende gegangen war. Da war nichts von der deutschen Hofberichterstattung. Bundeskanzler Kurz vermittelte Information pur und ergänzte gut gewählte Worte durch eine deutliche Mimik.
Es war diese Kombination von Mimik und Information, die alles vergessen ließ, was man an diesem Tag in den deutschen Staatsmedien über das Brüsseler Ergebnis in Erfahrung bringen konnte. Kurz sprach sehr detailliert über eine mögliche Trendwende in der EU-europäischen Migrationspolitik und davon, dass die manifesten Anhänger und Anhängerinnen einer "Willkommenskultur und einer unbegrenzten Aufnahme von Migranten" in EU-Europa aus innenpolitischen Gründen an einem Kompromiss interessiert gewesen seien, ohne davon abzurücken, eine anderen Migrationspolitik als die Mehrheit der EU-Staaten verfolgen zu wollen. Im übrigen, so BK Kurz, werde man bei den beschlossenen Maßnahmen noch sehen können, wie dieser verkleisterte Dissens sich auswirken werde. Hoffnung darauf, die Gipfelbeschlüsse in die Wirklichkeit übertragen zu sehen, die sieht anders aus.
Europa ist es selbst schuld, wenn die Probleme überborden
Der österreichische Bundeskanzler Kurz machte sehr deutlich, wie vorbereitet Österreich darauf ist, das Seehofer-Konzept an der deutschen Grenze zu Österreich umgesetzt zu sehen. Dann wird man eben die Feinkontrolle an den Brenner und an die slowenische Grenze verlegen. Das ruft Erinnerungen an einen wie üblich anonymen Kommentar eines hohen Offiziers aus der Bundeswehr über das Abriegeln der Brenner-Grenze im Jahr 1990 auf Hinweise meinerseits auf zu erwartende Migrationsbewegungen aus Afrika nach Norden wach. Jetzt ist es längst soweit, dass uns die Probleme über die Köpfe wachsen. Dennoch muss man in Deutschland den Eindruck haben, dass die Bundeskanzlerin in Brüssel nur eines im Sinn hatte: Wie muss der Text aussehen, mit dem in Deutschland selbst ihr Bundesinnenminister in seinem Bemühen, wieder die Rechtslage durchzusetzen, aus ganz anderen Gründen in Schach gehalten werden kann? Wie kann einer CSU, die in diesen Tagen einen durchaus "maulheldenhaften Eindruck" hinterlässt, das verbale Rückgrat genommen werden?
Es ist gerade der Blick zurück in die Zeit seit der Wiedervereinigung Deutschlands, der die Einflussnahme weltpolitischer Überlegungen auf die Migrationsbewegung deutlich macht. Es waren die Sowjets, die uns zuallererst auf die "Wandermenschen" aus allen Himmelsrichtungen hingewiesen haben. Es war die damalige Bundesregierung, die in der Europäischen Gemeinschaft mit anderen Europäern die Konzepte für den nördlichen Rand Afrikas in ökonomischer und sicherheitspolitischer Hinsicht entwickelte, um dann erleben zu müssen, wie einige arabische Staaten sowie Israel und die Vereinigten Staaten aus ihren eigenen Gründen diese Konzepte zerstörten. Den Todesstoß versetzte der französische Präsident Sarkosy diesen stabilitätsfördernden Überlegungen mit seinem Angriff auf Libyen und der anschließenden Zerstörung dieses Staates.
Es gibt zwei Staaten, die die uns in Nah und Fern bekannte Welt auf den Kopf stellen und nicht nur die Migrationsbewegung zu verantworten haben: die Vereinigten Staaten mit ihren Endlos-Kriegen und Frankreich mit seiner Dominanzpolitik in Afrika. Dabei vermag es in diesen Monaten gerade die französische Republik, EU-Europa auf französische Kolonialkriege über die neue Sicherheitsarchitektur der EU jenseits jeder akzeptablen Verteidigung festzulegen. Europa ist es selbst schuld, wenn die Probleme überborden. Man erinnere sich nur daran, welche Auswirkungen die NATO-Kriege zwischen Afghanistan und Mali auf die Migration haben.
Mit Brunnenbohren alleine ist es in Afrika nicht getan
Das ist mit Afrika nicht anders. Oder wollen uns die Verantwortlichen in Berlin oder Brüssel Glauben machen, in Afrika wäre für die dort lebenden Menschen noch ein Blumentopf zu gewinnen? Wenn die Bundesregierung und die Staatsmedien ihren Informationsauftrag erfüllen würden, hätten wir ein ziemlich gutes Bild von den gewaltigen Problemen in Afrika. Die Probleme gibt es in Afrika nicht deshalb, weil die Menschen dort unfähig sind, ihr Leben zu bewältigen. Ganze Länder in Afrika gehören längst ausländischen Staaten oder Unternehmen, die die Versorgung ihrer eigenen Bevölkerung dadurch sicherstellen, dass sie den afrikanischen Bauern Grund und Boden weggenommen haben. Wie agrarisch bestimmte afrikanische Gesellschaften in einer solchen Lage überleben sollen, muss erst einmal jemandem einfallen. Europäischen Regierungen und der Bundesregierung schon gar nicht, wie die Afrika-Politik aus Berlin und Brüssel zeigt.
Mit Brunnenbohren alleine ist es auch in Afrika nicht getan. Diesseits und jenseits des Äquators toben sich in fremden Staaten westliche Wirtschaftsunternehmen aus, um die für die Weltwirtschaft dringend benötigten Rohstoffe so zu fördern, so dass außer Almosen für die dortigen Staaten und ihre Menschen nichts mehr übrig bleibt. Von der gnadenlosen Zerstörung der Lebensgrundlage einer einheimischen Bevölkerung wird kaum oder gar nicht in unseren Staatsmedien berichtet. Es sind die von uns geführten oder als Hilfstruppen der USA unterstützten Fluchtursachen-Kriege, die die Menschen um ihr Leben rennen lassen. Es ist die globale und vor allem westliche Ausplünderung Afrikas, die Menschen in die Sahara treibt. Die Drogenroute aus Buenos Aires nach Tel Aviv und Rotterdam ist die einzige Gewissheit im westlichen Afrika – jetzt genutzt für die Migration von Millionen Menschen.