Brexit: Das Affentheater „Made in UK“ geht weiter
√on Hubert von Brunn
Britische Zeitungen sprechen inzwischen von einem „Irrenhaus“, wenn sie von den endlosen Brexit-Debatten aus dem Unterhaus berichten. Diese Einordnung ist sicherlich nicht verkehrt, doch man kann das, was sich in dem altehrwürdigen Parlament seit Wochen und Monaten abspielt, getrost auch als Affenzirkus oder Kasperletheater bezeichnen. Mit seriöser parlamentarischer Arbeit jedenfalls hat dieses Nerv tötende Palaver schon lange nichts mehr zu tun.
Eine Abstimmung jagt die andere und betrachtet man das förmliche Prozedere, mit dem das jeweilige Ergebnis verkündet wird, wird der unvoreingenommene Zuschauer unweigerlich an ein „Kasperletheater“ erinnert. Da treten vier „Berichterstatter“ nach vorne. Vor einem überdimensionalen goldenen Zepter, flankiert von schwergewichtigen Büchern und zwei großen Schatztruhen (dienen als Rednerpulte) auf einem riesigen Tisch machen sie einen artigen Diener. Dann liest einer von einem Blatt Papier das Ergebnis der soeben erfolgten Abstimmung ab. Lautstarkes Rauen, Johlen und „Hört-hört“-Rufe gehen durch die leuchtend grün gepolsterten Sitzbänke.
Das hat aber noch nichts zu bedeuten. Das besagte Blatt Papier wird jetzt nämlich einem Boten übergeben, der in schwarzer Robe und weißer Fliege angetan ist, wie bei uns ein Richter. Dieser überwindet gemessenen Schrittes und mit ernster Mine ein paar Meter durch einen schmalen Gang, bis er in Armeslänge vor einem erhöhten Podest mit einem gewaltigen Ledersessel steht. Dort thront der wichtigste Mann des Unterhauses, Speaker John Bercow. Der Mann, der meistens wirkt, als hätte er zwei Scotch zu viel zu sich genommen, übernimmt das Blatt Papier und verkündet jetzt noch einmal mit rauchiger Stimme das Abstimmungs-Ergebnis. Jetzt ist es amtlich. Und wenn der Tumult in den Reihen der Parlamentarier darüber zu laut wird, ruft der Speaker: „Order, order“.
Inhaltlich hat das Brimborium seit zwei Jahren zu nichts geführt
Dieses Zeremoniell ist durchaus geeignet, Heiterkeit hervorzurufen. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob es den gewählten Vertretern eines großen europäischen Volkes – jedenfalls hält es sich selbst für ein solches – geziemt, Comedia del Arte zu spielen, denn inhaltlich hat dieses Brimborium seit beinahe zwei Jahren zu nichts geführt. In wenigen Tagen, am 29. März, wollten die Briten eigentlich die EU verlassen, den Verein, dem sie sich nie so richtig zugehörig gefühlt haben, und weil die Befürworter des Brexit meinten, nur in „spendid isolation“ könne das Inselvolk zurückfinden zur gloriosen Größe des verblichenen Empire. Was für eine arrogante Selbstüberschätzung! Diese Arroganz ist es, die über mehr als ein Jahrhundert sehr viel Leid und Elend über viele Menschen in vielen Ländern der Welt gebracht hat, und eben diese Arroganz ist es, die das nationale Karma des Inselvolkes jetzt in sehr düsteren Farben erscheinen lässt.
Während ihrer Zeit in der EU haben die Briten ständig Extrawürste und Sonderbehandlung gefordert – und meist auch bekommen. Und auch jetzt in diesem von ihnen initiierten Scheidungsprozess betreiben sie unverschämte Rosinenpickerei. Beispiel: Der so genannte Backstop, also die im Austrittsabkommen festgeschriebene Garantie für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland. Die Regelung sieht vor, dass Großbritannien in einer Zollunion mit der EU bleibt bis eine bessere Lösung gefunden ist. Dieser Punkt ist der EU sehr wichtig, denn man will alles vermeiden, was den Frieden in dieser ehemaligen Bürgerkriegsregion gefährden könnte. Die Brexit-Hardliner indes fürchten, GB könne durch die Zollunion dauerhaft an die EU gefesselt werden und fordern eine zeitliche Befristung oder ein einseitiges Kündigungsrecht für den Backstop.
Nächste Nummer im Brexit-Verwirrspiel: Verschiebung des Austritts-Termins
Bis jetzt haben sich die 27 Staaten der EU in dem Verhandlungsmarathon mit Großbritannien erstaunlich einig gezeigt und unmissverständlich klar gemacht, dass das mit Theresa May ausgehandelte Vertragswerk für einen geordneten Austritt bleibt wie es ist und nicht mehr nachverhandelt wird. Da aber die Briten gewohnt sind, ihren Kopf durchzusetzen, haben die Abgeordneten ihrer Premierministerin nun schon zum zweiten Mal eine krachende Niederlage beschert, als die Annahme des Austritts-Vertrags zur Abstimmung stand. Den No-Deal-Brexit haben sie einen Tag später aber auch mit großer Mehrheit abgelehnt – jedenfalls nicht am 29. März. Regierungslager und Opposition haben also mehrheitlich klare Vorstellungen, von dem, was sie alles nicht wollen. Was genau sie wollen und wie eine mehrheitsfähige Lösung aussehen sollte, bleibt ihr Geheimnis.
Nun also die nächste Volte in dieser heillos verfahrenen Situation: Verschiebung des Austritts-Termins. Da stellt sich nun die spannende Frage nach dem Zeitraum: Wochen, Monate, Jahre? Diese Frage birgt gehörigen Zündstoff und lässt befürchten, dass das Affentheater „Made in UK“ noch längst nicht zu Ende ist. Nach dem vereinbarten Reglement müssten die Abgeordneten nämlich bis zum 20. März – das ist am kommenden Mittwoch – dem Abkommen zustimmen, damit bis spätestens zum 30. Juni noch ein geordneter EU-Austritt möglich ist. Frau May hat bereits angekündigt, eine dritte Abstimmung über ihren Brexit-Deal im Parlament zu beantragen. Ein durch und durch hilfloser Aktionismus einer Regierungschefin, die sich gnadenlos verzockt hat. Was sollte denn da großartig Anderes herauskommen, als bei den beiden vorangegangenen Abstimmungen? Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass diese Variante nicht funktionieren wird. Abgesehen davon ist nicht sicher, dass alle 27 EU-Länder einer Verschiebung grundsätzlich zustimmen.
Jetzt wird die Sache richtig pikant. Jede Verschiebung über den 30. Juni hinaus nämlich macht eine Teilnahme Großbritanniens an der Europawahl (23.-26- Mai) erforderlich. Für viele EU-Gegner auf der Insel eine Horrorvorstellung, aber auch für die EU ergibt sich damit ein bizarres Szenario. Die 73 britischen Abgeordneten sind immerhin eine der größten Gruppen im EU-Parlament und könnten bei vielen Entscheidungen zum Zünglein an der Waage werden – auch bei der Wahl der Präsidenten von Kommission und Parlament. Findet der Brexit Monate später dann doch statt, müssten Parlamentsentscheidungen umgesetzt werden, die dann möglicherweise keine Mehrheit mehr haben. So kann man dem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker nur zustimmen, wenn er die Teilnahme der Briten an der Europawahl als „Witz der Geschichte“ bezeichnet. Auch der deutsche EVP-Brexit-Experte Elmar Brock spricht von einer „Lachnummer“.
Ein zweites Referendum ist nicht ausgeschlossen
2016 haben sich die Briten, angetrieben von patriotischen Einpeitschern wie Nigel Farage und Boris Johnson, dazu verleiten lassen, in einem Referendum für den Austritt aus der EU zu stimmen. Der Demagoge Johnson ist auch nicht davor zurückgeschreckt, die Menschen mit unverschämten Lügen zu beeinflussen. Zum Beispiel, dass GB jede Woche 350 Mio. Pfund an die EU zahlen müsse, Geld, das dem heimischen Gesundheitssystem zustünde. Nachdem diese und andere Lügen entlarvt worden waren, hat Johnson seinen Job als Außenminister hingeschmissen, ebenso wie die Brexit-Minister Davis und Raab. Auch Farage gehört zu den Ratten, die das sinkende Schiff verlassen haben. Im Dezember 2018 ist er aus der von ihm mitbegründeten UKIP (Britische Unabhängigkeitspartei) ausgetreten. Die fetten Diäten als Abgeordneter im EU-Parlament steckt er aber noch ein.
Das Ergebnis des Referendums war mit knapp 52 Prozent Ja-Stimmen hauchdünn. Schottland, Nordirland und der Großraum London waren mehrheitlich für den Verbleib und wären die jungen Leute nicht zu faul gewesen, zur Wahl zu gehen, wäre das Ergebnis vermutlich ein anderes gewesen. Jetzt gehen sie auf die Straße und demonstrieren für Europa. Vielleicht bekommen sie sogar noch eine zweite Chance, denn es ist nicht auszuschließen, dass der Eiertanz am Ende zu Neuwahlen oder zu einem zweiten Referendum führt – Ausgang ungewiss. Ziemlich sicher hingegen dürfte sein, dass, falls es doch irgendwann zu einem wie immer auch gearteten Brexit kommt, die Schotten in einem neuerlichen Volksentscheid einen zweiten Anlauf nehmen werden, um sich von der Queen zu verabschieden und Mitglied der EU zu bleiben. Und es wäre nicht verwunderlich, wenn sich Nordirland entschlösse, auch diesen Weg zu gehen. Dann bliebe von „Great Britain“ nicht mehr viel übrig.
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Die Briten wollen mit dem Brexit vor allem ihre nationale Souveränität zurück erhalten. Mit seinem Werk „Ist Deutschland ein souveräner Staat“ hat Wolfgang Schimank am Beispiel Deutschland darüber aufgeklärt, was zum Beispiel die „Lissaboner Verträge“ für die Souveränität Deutschlands bedeuten. Diese Verträge gelten aber auch für Großbritannien und so ist die Lektüre dieses Werks auch förderlich für das Verständnis, worum es den Briten geht, wenn sie die EU verlassen wollen. Natürlich ist die Souveränität Deutschlands noch durch andere Faktoren eingeschränkt, die für Großbritannien nicht zutreffen. Aber Großbritannien hat den Krieg gewonnen und so sind die Bürger dort erheblich sensibler, was Einschränkungen ihrer nationalen Souveränität betrifft. Wer wirklich verstehen will, warum es so viel Kritik an der EU gibt, sollte sich das Werk von Wolfgang Schimank zu Gemüte führen. Es ist erhältlich im Buchhandel oder direkt zu bestellen beim Verlag hier.