Gedenken an den 09. November: Nicht nur Asche aufs Haupt
Von Hubert von Brunn
Es ist irgendwie schon bemerkenswert, dass ausgerechnet an einem 09. November drei Ereignisse, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, eine bedeutsame Rolle in der jüngeren deutschen Geschichte spielen: 1918, 1938 und 1989. Das macht das Gedenken an diesen Tag nicht eben einfach. Aber 1918 und 1989 einfach aus dem Kalender der Erinnerung zu streichen und nur noch der Pogromnacht von 1938 zu gedenken, wie aus Kreisen der Jüdischen Gemeinde verlautete, ist unzulässige Geschichtsklitterung.
1918 ruft Philipp Scheidemann die Republik aus und besiegelte offiziell das Ende der Monarchie in Deutschland. Es war der Beginn der „Weimarer Republik“, ohne deren Irrungen und Wirrungen ein Adolf Hitler wohl kaum an die Macht gekommen wäre und ohne ihn hätte es die fürchterlichen Übergriffe auf jüdische Mitbürger in der „Reichskristallnacht“ 1938 nicht gegeben. Die Zerstörungswut der Nazis und ihr Hass auf alles Jüdische haben sich in jener Nacht Bahn gebrochen und die schrecklichen Bilder von brennenden Synagogen, zerstörten Geschäften und misshandelten Menschen haben sich tief im kollektiven Bewusstsein der Deutschen festgesetzt. Jeder halbwegs gebildete Mensch hierzulande weiß um die entsetzlichen Verbrechen der braunen Horden und das damit verbundene Leid der Juden – nicht nur in jener Nacht. Das soll nicht vergessen und verdrängt werden und es ist richtig, am 09. November auch an die Pogromnacht zu erinnern. Aber eben nicht als singuläres Ereignis, denn der historische Zusammenhang von 1918 und 1938 ist evident.
Für mich persönlich sind die Geschehnisse in jenen beiden Jahren historische Fakten, die ich – wie so viele andere markante Daten – in meinem Gedächtnis abgespeichert habe. Einen emotionalen Bezug dazu habe ich nicht. Ganz anders verhält es sich mit meinen Erinnerungen an den 09. November 1989. Die Nacht des Mauerfalls habe ich hautnah miterlebt, ich war mittendrin. Es begann mit der ominösen Pressekonferenz von Schabowski und dem elektrisierenden Wort „unverzüglich“. Erst dachte ich: Veralbern kann ich mich auch selbst und habe mit der Fernbedienung durchgezappt. Dann bin ich beim SFB hängen geblieben und dort saßen der damals Regierende Bürgermeister Momper und andere im Studio beisammen und haben sich die Reportage von der Bornholmer Straße angesehen, wo bereits die ersten Trabis die Grenze passierten. Damit war klar: Die wollen mich ausnahmsweise nicht veralbern, Schabowski meinte es ernst. Jetzt gab es kein Halten mehr. Fernseher aus, Fototasche geschnappt, runter ins Auto und mit Karacho Richtung Osten. Auf der Straße des 17. Juni wurde es schon eng und an der Kreuzung zur Entlastungsstraße kam ein freundlicher Polizist an meinen Wagen und meinte: „Du kommst hier nicht weiter. Such dir irgendwo einen Parkplatz und geh’ den Rest zu Fuß. Es ist alles dicht.“ In jener Nacht haben sich alle geduzt.
„Wahnsinn“ war das Wort jener Nacht
Ich habe einen Parkplatz gefunden, keinen richtigen, aber einen, auf dem ich niemand behinderte. Dass die Polizei in der chaotischen Situation anderes zu tun hatte, als Falschparker zu ahnden, war mir klar. Mein Auto stand, wie ich meinte, einigermaßen sicher und ich tauchte ein in den gegen mich fließenden Menschenstrom auf der Invalidenstraßen. Es war wirklich schwer durchzukommen, aber ich habe es geschafft. Da stand ich also vor dem geöffneten Schlagbaum, sah die nicht enden wollende Schar von jubelnden Menschen, die Richtung Westen drängte, und blickte in die ausdruckslosen Gesichter der DDR-Grenzer, die, ängstlich an den Zaun gedrückt, der ihnen 28 Jahre lang Sicherheit geboten hat, dem Treiben zusahen und offensichtlich nicht verstanden, was da gerade passierte. Ich machte Fotos, Fotos, Fotos. Alles, was mir vor die Linse kam und meinem fotografischen Blick gefiel, wurde aufgenommen. Man darf ja nicht vergessen, dass es den Chip in der Digitalkamera noch nicht gab. Nein, da wurden noch Filme eingelegt und nach 36 Aufnahmen war Schluss. Dann musste der Film gewechselt werden. Also konnte man nicht wild drauflos knipsen, sondern musste sich seine Motive schon gezielt aussuchen. Wie sich später herausstellen sollte, habe ich ein paar richtig gute Treffer gelandet, die ich dann in einer Sonderausgabe meiner Zeitung, für die ich als Chefredakteur tätig war, verarbeiten konnte.
Grundsätzlich habe ich keine Angst vor größeren Menschenansammlungen, aber allmählich wurde es mir da vorne an der ehemaligen Grenzlinie doch zu eng. Meine Fotos hatte ich im Kasten und so konnte ich mich jetzt von dem Menschenstrom gen Westen mittreiben lassen. Irgendwann traf ich auf vier junge Leute, offensichtlich zwei Paare, die eng umschlungen da standen und immer nur das Wort jener Nacht ausstießen: „Wahnsinn“. Ich habe sie angesprochen und natürlich war schnell klar, wohin sie wollten: zum Kurfürstendamm. Ich lud sie ein, sie mitzunehmen und wir kämpften uns durch zu meinem kleinen 316-er BMW, silbergrau mit Alu-Speichenfelgen und Stahlschiebedach. Dort angekommen, strich Jan, einer der beiden Jungs, von Beruf Kfz-Mechaniker, über das Dach des Wagens und gab voller Inbrunst von sich: „Ja, so was will ich auch mal haben.“ Mit fünf Leuten war es ganz schön eng in meinem kleinen BMW, aber den Trabi-erprobten DDR-Bürgern (das Wort „Ossi“ war noch nicht erfunden) machte das nichts aus. Sie fanden es urgemütlich. Die Meldungen im Autoradio sprachen eindeutig dafür, den Ku’damm nicht anzusteuern. „Komplett überfüllt. Bitte weiträumig umfahren.“
Kleine Stadtrundfahrt ohne Kurfürstendamm
„Ihr habt es gehört, Leute. Die berühmte Einkaufsmeile müsst ihr euch ein anderes Mal ansehen. Aber ich zeige euch trotzdem ein bisschen was von West-Berlin.“ Also über den Ernst-Reuter-Platz die Otto-Suhr-Allee hoch, vorbei am Charlottenburger Schloss. „Das war schlimmer zerstört als das Stadtschloss, das der Ulbricht hat sprengen lassen.“ Dann rund um den Theo und vorbei am ICC. „Hier finden viele internationale Kongresse und Messen statt.“ Angesichts des Funkturms meldete sich Yvonne zu Wort: „Der sieht zwar nett aus und ist auch schön beleuchtet, aber unser Fernsehturm ist viel höher.“ „Da hast du Recht. Dafür hat der Funkturm ein paar Jahrzehnte mehr auf dem Buckel.“ Dann die Kantstraße runter. Das ist zwar nicht der Ku’damm, doch die vielen bunten Leuchtreklamen beeindruckten meine vier Insassen über alle Maßen. Schließlich ist es mir gelungen, einigermaßen unbehelligt in die Emser Straße in Wilmersdorf zu gelangen und dort auch wieder einen ziemlich abenteuerlichen Parkplatz zu finden. Ich wollte mit meinen Gästen ins „Menta“, eine Lokalität, in der ich zu der Zeit sehr oft verkehrt bin.
Die Kneipe war rappelvoll, doch mithilfe der beiden schwulen Kneipiers, zu denen ich ein sehr gutes Verhältnis hatte, konnten wir einen Tisch mit fünf Plätzen ergattern. Ich bestellte Prosecco für die Mädels und Bier für die Jungs. „Wir haben aber kein Geld“, gab Manfred ängstlich zu bedenken. „Darüber macht euch jetzt mal keine Sorgen, das regle ich. Lasst uns diesen Moment genießen und uns darüber freuen, was heute Nacht passiert ist.“ Die Gespräche gingen munter voran und auf einmal entdeckte Manfred das Telefon an der Wand (nein, Handys gab es auch noch nicht). „Ich würde gerne meinen Kumpel anrufen. Wie viel kostet das?“ – Ich hatte keine Ahnung. Also gab ich Manfred eine Handvoll Münzen mit der Aufforderung, einfach so viel einzuwerfen wie verlangt wird.
„Kannst du dir vorstellen, dass das bei uns ist?“
Unsicheren Schrittes ging er zum Telefon, warf einige Münzen ein, bediente die Wählscheibe und nach einer gewissen Zeit sprach er in den Hörer. Was er sagte, konnte man natürlich nicht verstehen, denn der Geräuschpegel in der Kneipe war extrem hoch. Mit einem Mal hielt er den Telefonhörer mindestens eine halbe Minute lang in den Raum. Irgendwann war das Gespräch zu Ende und er kam an den Tisch zurück. „Was war das mit dem Telefonhörer?“ – „Na ja, ich habe ihn aus dem Schlaf gerissen und ihm gesagt, dass wir in West-Berlin sind. Da hat er gelacht und gesagt, ich spinne. Also habe ich den Hörer in den Raum gehalten, damit er die Lautstärke mitbekommt. Dann habe ich ihn gefragt: ‚Kannst du dir vorstellen, dass das bei uns ist?’ Nein, hat er gesagt. Siehst du, habe ich gesagt. Und dann hat er noch gefragt, ob ich morgen – na ja, eigentlich ist es ja schon heute – zur Arbeit komme, und ich habe gesagt, selbstverständlich.“
Gegen vier Uhr in der Frühe sind wir aufgebrochen, damit ich „meine“ Ostbürger jener Nacht wieder an den Grenzübergang Invalidenstraße zurückbringe. An der Kreuzung Straße des 17. Juni/Entlastungsstraße wurde ich wieder von einem Polizisten angesprochen: „Wo soll’s denn hingehen?“ – „Ich will die Vier zur Grenze bringen. Die wollen wieder rüber und müssen bald zur Arbeit.“ Der Polizist beugte sich herunter und nahm wohl eine ziemliche Alkoholwolke wahr, die ihm aus dem Inneren des Wagens entgegenschlug. „Da ham wer wohl alle ordentlich was gepichelt, wa?“ – „Na ja, ich eigentlich nicht.“ – „Ja, ja, wer’s glaubt. Bist du fit?“ – „Kein Problem, alles im Griff.“ – „Pass bloß auf und fahr langsam.“ – „Na klar, Herr Wachtmeister, danke auch.“ Damit klopfte er leicht aufs Autodach und gab gewissermaßen den Weg frei. An einem normalen Tag wäre die Geschichte anders ausgegangen.
Am 09. November 1989 waren die Deutschen „das glücklichste Volk der Welt“
Dann war es Zeit, Abschied zu nehmen. Wir stiegen alle aus, umarmten uns und die Vier bedankten sich überschwänglich für die ersten Stunden ihres Lebens im Westen, die sie mit mir verbringen durften. Es war wirklich ein sehr emotionaler Moment und ich denke, jeder von uns hat ein paar Tränchen verdrückt. Ich gab jedem eine Visitenkarte mit dem Auftrag, sich demnächst bei mir zu melden, damit wir in Kontakt bleiben können. Sie versprachen es und trabten winkend von dannen. – Keiner hat sich je bei mir gemeldet. Das hat mich, ehrlich gesagt, schon enttäuscht. Hieß es doch immer, im Osten würden die Menschen viel mehr aufeinander achten, wären sehr viel aufmerksamer im Umgang miteinander. Nun, das mag sein, bei meinen Vieren war es nicht der Fall. – Egal. Wer weiß, wie es ihnen in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten ergangen ist und was sie gehindert hat, mit mir wieder Kontakt aufzunehmen. Hier bewahrheitete sich leider das Sprichwort: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Warum erzähle ich die Ereignisse jener Nacht so ausführlich? Weil der 09. November 1989 einer der schönsten, berührendsten Tage meines Lebens ist, einen, den ich nie vergessen werde. Mittendrin gewesen zu sein an jenem Tag, an dem Geschichte geschrieben wurde, hautnah mitzuerleben, wie diese Schandmauer vom Volk überrannt wurde, ohne Blutvergießen, ohne dass auch nur ein Schuss fiel – das macht mich sehr glücklich. Jedes Jahr, wenn zum Jahrestag im Fernsehen wieder die Bilder gezeigt werden, bin ich sehr berührt und erinnere mich mit Gänsehaut an mein Abenteuer 9. 11. ’89. Und diese mir kostbare Erinnerung soll mir genommen werden, soll in Vergessenheit geraten, weil wir ja künftig nur noch der Pogromnacht 1938 gedenken sollen? No way, das geht gar nicht. Immer nur Asche aufs Haupt streuen bis zum Ende meiner Tage und das Positive, das der 09. November mir und den meisten Deutschen bedeutet, auszublenden, ist eine Chuzpe sondergleichen, die selbst dem „auserwählten Volk“ nicht zusteht. Mit 1938 haben die Nazis und mit ihnen große Teile des deutschen Volkes Schuld auf sich geladen, dessen bin ich mir bewusst. Aber am 09. November 1989 waren die Deutschen, wie Walter Momper es sagte, „das glücklichste Volk der Welt“. Das trifft auch mein Selbstverständnis – ob es dem Zentralrat der Juden gefällt oder nicht!