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Profihistoriker können zwar alles wissen, sie müssen aber nicht alles auswerten
Von Reinhard Leube
Arthur Balfour aus dem inneren Zirkel der Macht in London sagte 1910 in aller Dreistigkeit zum Ex-Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Rom, dass sie in England die Handelsflotte des Deutschen Kaiserreiches als ernsthafte Bedrohung ihrer eigenen Stellung auf dem Weltmarkt ansahen und ergänzte: „Wahrscheinlich sind wir Narren, dass wir keinen Grund finden, um Deutschland den Krieg zu erklären, bevor es zu viele Schiffe baut und uns unseren Handel wegnimmt.“
Daraufhin bekam er eine passende Antwort von dem so angesprochenen Henry White: „Sie sind ein edel gesinnter Mann im Privatleben. Wie ist es möglich, dass Sie über eine so unmoralische Politik nachsinnen, einen Krieg gegen eine harmlose Nation zu provozieren, die ein ebenso gutes Recht hat, eine Flotte zu besitzen, wie Sie selbst? Falls Sie mit Deutschland zu konkurrieren wünschen, arbeiten Sie einfach härter.“ Balfour blieb dem Amerikaner die Antwort auch nicht schuldig: „Das würde eine Senkung unseres Lebensstandards bedeuten. Da wäre es wohl einfacher für uns, einen Krieg zu führen.“ Wenn man hinterher aber nicht Reparationen für die Kriegsschäden bezahlen wollte, durfte es nur nicht so aussehen, als ob Großbritannien den Krieg eingefädelt hätte. Bestenfalls könnte man es dann so darstellen, als wären alle Verantwortlichen in eine kriegerische Auseinandersetzung wie die Schlafwandler hineingetorkelt.
Wenige Jahre später war alles in Sack und Tüten und ein Weltkrieg konnte beginnen wie ein Vulkan, der ausbricht, nachdem es unter seiner Oberfläche lange genug rumort hatte. In seinem Verlauf gingen dann das aufstrebende Reich der russischen Zaren, das Osmanische Reich, das Reich der Habsburger und das Deutsche Reich unter. Das Imperio español hatten die US-Truppen ja schon um 1900 herum abgeräumt. So waren bis 1919 gleich mehrere Konkurrenten des British Empire in der Versenkung verschwunden. Wie die Leichenfledderer kamen nach dem Krieg die Laufburschen der englischen Monarchie zum Einsatz, Politiker, Journalisten, Publizisten, Historiker, Militärs und last but not least die Leute vom Geheimdienst. Sie stellten alles auf den Kopf.
Aus England, das sich über mehrere hundert Jahre große Teile des Festlandes dieser Welt und die Weltmeere mit ihren Inseln als Militärstützpunkte unter den Nagel gerissen hatte, wurde ein siegreicher Friedensengel, und aus der Bedrohung durch die deutsche Handelsflotte wurde eine Bedrohung durch die einstige deutsche Marine. Das ging zwar nicht aus den Statistiken hervor, but who cares? The winner takes it all und die Sieger schreiben die Geschichte. Aus dem Deutschen Reich, in dem der Reichskanzler und Außenminister Otto von Bismarck und seine Nachfolger in diesen Ämtern vier Jahrzehnte lang für Ausgleich und Mäßigung in Europa gesorgt und aus dem Reich der Hungerflüchtlinge eine Wirtschaftsmacht mit einem enormen Bevölkerungswachstum gemacht hatten, machten die Laufburschen der englischen Monarchie das Reich der wilden Hunnen, dem sie eine Alleinschuld am Ausbruch des Vulkans in die Schuhe schoben.
Dabei hatte sich alles so schön gefügt. Schon im XIX. Jahrhundert hatten deutsche Firmen Eisenbahnnetze für einen gedeihlichen Handel in Deutschland, in Russland und quer durch das Osmanische Reich gebaut, finanziert von jüdischen und deutschen Bankern im vereinigten Deutschen Reich. Parallel zu den laufenden Bauarbeiten wurde im Osmanischen Reich um 1900 herum sogar Erdöl gefunden. Während England, wenn alles gutging, das Öl aus Amerika mit riskanten Tankerfahrten über den Ozean erhielt, hatte Deutschland die Aussicht auf eine Doppelnutzung seiner Bagdadbahn. Güterzüge konnten die deutschen Qualitätsprodukte auf den Balkan befördern und tief ins Osmanische Reich hinein. In umgekehrter Richtung konnte das schwarze Gold auf dem Landweg sicher in die neuen Industriereviere Deutschlands gebracht werden. Wem konnte das ein Dorn im Auge sein und welches Deutschland hätte einen Krieg nötig gehabt? Witzig war, dass der US-Präsident Woodrow Wilson im Laufe des Krieges die Bedingung aufstellte, dass die Monarchien zu Republiken werden müssten, um mit ihnen über Frieden verhandeln zu können. Ist jemandem aufgefallen, dass er sich an der Monarchie mit Sitz in London gar nicht störte?
In diesen Jahren finanzierten englische und amerikanische Geldbeutel einen Umsturz im Russischen Reich, der das Land ins Chaos stürzte. Im Unterschied zu den Rechnungen der wohlhabenden Engländer und Amis ging die Rechnung des deutschen Generalstabs nicht auf, der sich von der Unterstützung für Lenin lediglich den Zusammenbruch der Ostfront versprach. Die neue Regierung Russlands nahm jedenfalls dankend die finanzielle Hilfe aus den USA an und den support durch Engländer (leider aus dem Geheimdienst seiner Majestät) und hat sich auch nicht hinreichend gewundert, warum Engländer nun durchaus beim Aufbau der Ministerien in Petrograd oder dann in Moskau helfen wollten. Während das nicht publik gemacht wurde, mischten auch Engländer und Amerikaner im Interventionskrieg nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Russland von 1917 mit. Weniger bekannt ist, dass gerade die britischen Generäle zu dem Sieg der kommunistischen Aufständischen gegen die Truppen des toten Zaren beitrugen. Offiziell geschickt worden waren sie, um die Revolution zu ersticken.
Die weitere Politik der Kommunisten war vom Buckingham Palace aus betrachtet ein Erfolg auf der ganzen Linie: Große Teile der russischen Oberschicht nahm die Beine in die Hand und flüchtete entsetzt in alle Himmelsrichtungen. In ihrem Handgepäck hatten sie die Bildung der Universitäten des Russischen Reiches mitgenommen. In England und Amerika waren sie herzlich willkommen. Und Millionen Menschen in der 1922 gegründeten Sowjetunion sind schlicht und ergreifend verhungert. Die Überlebenden mussten dann erst einmal alphabetisiert werden. Es ist hoch zu würdigen, dass es den Völkern der Sowjetunion unter diesen Bedingungen gelang, eine der erfolgreicheren Volkswirtschaften der Welt aufzubauen (mit der Unterstützung zum Beispiel der Fließbänder von Henry Ford, die auch Deutschland fit machten für einen baldigen Krieg zwischen dem Reich der Kommunisten und dem Reich der Antikommunisten). Daneben ist es sicher auch zu würdigen, dass die Sowjetunion nach Hitlers Feldzug, der 20 bis 30 Millionen Menschen das Leben kostete, nicht in viele Bananenrepubliken zerfiel, wie man es sich beim Tee aus Indien wohl in good old England in seinen Träumen vorgestellt hatte.
Wem das jetzt zu schnell ging und wer viel mehr Details und die Quellen dazu braucht, kann die bisher veröffentlichten Bände meiner Geschichtsserie über das XIX. und das XX. Jahrhundert bestellen. Meine Bücher können schon bald in Ihrem Regal des verbotenen Wissens stehen. Es war sicher nicht die schlechteste Idee in meinem Leben, die historisch relevanten Vorgänge in Deutschland, Europa und der Welt bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückzuverfolgen, der Reihe nach zu ordnen und dann insgesamt auszuwerten. So wurde es möglich, das Knäuel aus unendlich vielen interessanten und mit Quellen belegten Begebenheiten zu entwirren und rote Fäden zu finden. Das ist ganz praktisch, wenn man verstehen möchte, warum jetzt wieder laut über die Gefahr eines neuerlichen Weltkrieges nachgedacht wird, nach dem Siebenjährigen Krieg Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, als sich Engländer mit anderen Völkern um ihre Herrschaft in Canada und Indien balgten (Was labern die Profis über Schlesien?), dem zweiten Weltkrieg von 1914 und dem dritten Weltkrieg, in dem England 1945 mit einem blauen Auge davonkam.
Das ganze hintergründige Geschachere mit und gegen Hitler hätte England ja um ein Haar seine Existenz kosten können. Die Leute, die mich jahrzehntelang nervten und meinten, sie würden sich für Politik oder gar Geschichte nicht interessieren, kaufen jetzt den westlichen Einheitsmedien ab, dass Putin der jüngste Hitler der Weltgeschichte sei und einen absolut unprovozierten aggressiven Angriffskrieg gegen ein restlos unschuldiges Land führe, mit der Absicht der Eroberung der Bretagne und anschließend der Sahara. Solch überwältigende moralinsaure Sprachgewalt fand man bedauerlicherweise bei den Kriegen der westlichen Freunde Deutschlands gegen unschuldige und wehrlose Völker nie vor.
Wo waren wir stehengeblieben? Ach so, ja. Die (demokratischen) Führer der Angelsachsen haben für die Herrschaft der Antidemokraten in der Sowjetunion gesorgt und im Laufe der Jahre für die Inthronisierung Mussolinis in Italien 1922, Adolf Hitlers in Deutschland 1933 und Francos in Spanien Ende der dreißiger Jahre. Es hat dann noch einmal richtig gerumpelt in Europa und 1945 lag Der Kontinent, wie Engländer Europa nennen, in Schutt und Asche, die Abermillionen Menschen tot unter sich begraben hatten. Um die Toten im Osten hatte sich Hitler gekümmert und für die Toten in anderen Himmelsrichtungen hatten die Verbrecher in London gesorgt. Jedenfalls fiel die andere Hälfte der englischen Bomben nicht auf Deutschland, sondern auf die Länder von Norwegen über Frankreich und bis nach Südosteuropa. Das wurde dann mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung siebzig Jahre nach dem Krieg in England diskutiert. Keine Ahnung, wie man es mit dem Krieg gegen Deutschland erklären will, wenn englische Flugzeuge von der Südküste Englands aus nach rechts fliegen, um Industriestädte Frankreichs in der Nähe der spanischen Grenze zu Klumpen zu schießen, und nicht nach links, dorthin, wo Deutschland war und ist.
Wie und wem ist das Kunststück gelungen, dass es danach so viele Jahrzehnte lang so unwirklich friedlich wurde auf dem alten Kontinent? Der Londoner Premier Winston Churchill hatte doch schon alles vorbereitet für die „Operation Unthinkable“. Im Sommer 1945 sollten doch britische und deutsche Soldaten gemeinsam nach Osten marschieren, um dem guten alten Russland den Rest zu geben? Die wahrheitsliebende ARD hat sicher absichtsvoll bis nach Mitternacht gewartet, bis sie vor ein paar Jahren ihre Dokumentation ausstrahlte, in der mit großem Erstaunen und ohne eine Erklärung festgestellt wurde, dass deutsche Soldaten bis in den Sommer 1945 in norddeutschen Lagern unter Waffen gehalten und gut ernährt wurden. Und das, obwohl das böse Reich des bösen, aber brauchbaren Herrn Hitler schon Anfang Mai kapituliert hatte. Wie passen die vielen unerklärlichen Details in den vielen Büchern, die sich mit unserer Geschichte befassen, in ein gemeinsames schlüssiges Geschichtsbild? Das finden Sie der Reihe nach gestriegelt und gebügelt in meinem siebenten Band Ende und Anfang, der die Jahre von 1943 bis Ende 1945 aufleben lässt. Wer meint, dass er schon alles wisse, hat sich geschnitten.
Reinhard Gehlen, einer der Köpfe der Staatsstreichversuche gegen den Gröfaz Adolf Hitler, den Größten Feldherrn aller Zeiten, wie aufmüpfige Deutsche damals unter der Hand tuschelten, Gehlen und seine Analysten der Abteilung Fremde Heere Ost boten sich den Angelsachsen als vermeintliche Unterstützer an und vereitelten mit erfundenen Meldungen über biologische und chemische Massenvernichtungswaffen der Sowjets letztlich die Planungen Churchills. Sie legten die Grundlagen für einen Kalten Krieg zwischen dem Westen und dem Osten und sorgten so bis zum heutigen Tag für Ruhe im Karton – wenigstens für Deutschland. Die Experten für Atomwaffen, die so zerstörerisch waren, dass man damit keinen Krieg mehr führen konnte, hatten sich am Ende des Krieges so einigermaßen hälftig in die Sowjetunion und in die USA abgesetzt. Lassen Sie sich bitte nicht erzählen, da wäre Zwang ausgeübt worden. Lesen Sie lieber die späteren Darstellungen der beteiligten Wissenschaftler. Erst nachdem Amerikaner und Sowjets Ende der 1980er Jahre dem Treiben von Reinhard Gehlens Bundesnachrichtendienst (BND) ein Ende bereitet hatten, konnten die Angelsachsen an 1945 anknüpfen. Sie argumentierten dann mit der Befreiung Ost-Europas aus den Klauen der Sowjetunion und schoben ihre NATO bis an die Grenzen des ehemaligen Reiches des Bösen heran, wie US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion bezeichnet hatte. Sie dürfen das; sie werden ja in den westlichen Medien als die Guten gehandelt.
In Moskau wurde das alles knurrend hingenommen – mit einer Einschränkung: Die NATO darf nicht in die Ukraine hinein, weil sie von dort aus ohne weitere geografische Hindernisse Moskau zu Fuß erreichen kann und Raketen ohne Vorwarnzeiten russische Städte auslöschen können. Gehen Sie mir doch weg mit dem Psalm, die NATO sei ein Verteidigungsbündnis. Auf welchem Kontinent sind Marines mit oder ohne die NATO denn noch nicht für „Spezialoperationen“ eingesetzt worden? 1954, 1991 und 2000 wollte Moskau doch auch schon in die NATO – und? Wurde es aufgenommen? Es wäre doch zu schön gewesen, wenn Putin noch länger gewartet hätte, bis alles für den Einmarsch in Russland aufgebaut war. Mich wundert es auch nicht, dass Engländer und Amerikaner die Spannungen in Ost-Europa nach der Wahl Donald Trumps noch weiter anheizen. Wenn Amerika im Krieg steht mit Russland, wird Donald Trump nicht mehr der neue Präsident des Reiches des Guten. Warum hat er auch erklärt, dass er diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden trachtet? Die Lobbyisten des militärisch-industriellen Komplexes in den USA werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Putin zu einer Kriegserklärung gegen die schönen USA mit ihren schönen Foltergefängnissen in der ganzen Welt provozieren und dann kann der blondeste Präsident Amerikas vergessen, dass er die Wahlen wieder einmal gewonnen hat.
Als Reinhard Gehlen kurz vor dem Ende seines Lebens unbedingt noch Der Dienst auf den Markt werfen wollte, fiel ihm seine männliche Geltungssucht auf die alten Füße. Anstatt seinen Erfolg schweigend zu genießen, denn Deutschland war schon ein Vierteljahrhundert lang geteilt und DDR und BRD waren als getrennte Staaten auf dem Weg in die UNO, konnte er es sich nicht verkneifen, die Schlüsselszenen des Jahres 1945 detailreich zu schildern. Mag sein, dass viele Menschen in der Bundesrepublik an die Sonntagsreden von einer späteren „Wiedervereinigung“ glaubten. Gehlen war jedoch nicht nur zum Spaß der Chef des Geheimdienstes der Bundesrepublik. Er schüttete sich aus vor Lachen über die dusseligen Amis, die seine Räuberpistolen über den russischen Bären abkauften und so binnen eines Jahres die Kehrtwende in der Außenpolitik des neuen US-Präsidenten Harry Truman herbeiführten.
Als Gehlen 1979 starb, konnte er nicht ahnen, dass die Amerikaner binnen eines Jahrzehnts seinen Zauber beenden und sich in den 1990er Jahren mit den Moskauer Militärexperten darüber austauschen könnten, was die Sowjets 1945 wirklich an militärischen Möglichkeiten hatten. Wie sie sahen, sahen sie nichts. Aber auf dieser Grundlage gab es über vier Jahrzehnte lang den sogenannten Kalten Krieg, die längste Friedensperiode in Europa seit mehreren Generationen. Was gingen Gehlen die Kriege in Korea, Vietnam und dem Rest der Welt an? Hauptsache die West-Deutschen hatten ihre süße Puppenstube mit Wirtschaftswunder. Es ist schon witzig, dass die Schilderungen Gehlens über die beste Zeit seines Lebens von den bezahlten Historikern in ihren Geschichtsdarstellungen weggelassen werden. Profihistoriker können zwar alles wissen, sie müssen aber nicht alles auswerten.
Reinhard Leube, Ihr Besserossi.
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