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Das Wahlrecht und die unmöglichen Direktmandate
Von Peter Haisenko
Seit Jahrzehnten beanstandet das Verfassungsgericht das Verfahren zur Bundestagswahl. Mehrfach wurde es als ungültig beurteilt. Es geht vor allem um die Überhangmandate und die stehen im Zusammenhang mit Direktmandaten. Diese sind aber mehr als fragwürdig.
Bei der anstehenden Bundestagswahl werden die Bundestagsmandate nach einem neuen Schlüssel ermittelt. Es soll etwa einhundert Abgeordnete weniger geben. Das soll erreicht werden, indem ein Direktmandat nicht mehr automatisch zu einem Sitz im Bundestag führt. Erwartungsgemäß ist das Geschrei groß. Schließlich werden einhundert Parteimitglieder nicht mehr an der feinen Rundumversorgung für Abgeordnete teilhaben können. Bislang galt: 299 Abgeordnete werden gekürt über die Wahllisten der Parteien und weitere 299 über Direktmandate. Gab es mehr als 299 Direktmandate, mussten sogenannte Überhangmandate errechnet werden. Diese entstanden, weil der Proporz gewährleistet werden musste und so haben die meisten Parteien davon profitiert und mehr Abgeordnete entsenden können, als ihnen nach dem blanken Wahlergebnis zustanden.
Die Direktmandate waren heilige Kühe und wurden als Grundlage „unserer Demokratie“ verteidigt. So, wie das repräsentative Modell für Demokratie. Dazu kann ich nur sagen, dass schon dieses Modell mit Demokratie nur wenig zu tun hat. Der Wähler kann gar nicht wirklich wählen. Er kann nur eine undemokratisch entstandene, zu oft zusammengemauschelte Parteiliste abnicken. Nun könnte man sagen, mit den Direktmandaten, entstanden durch die Erststimmen, hätte man Mandate, die eher direkter Demokratie entsprechen. Betrachtet man aber, wie Direktmandate zustande kommen, sieht das ganz anders aus. In den allermeisten Fällen sind diese Direktmandate absurd.
Verhältniswahlrecht, Mehrheitswahlrecht oder Präsidialsystem?
Die repräsentative Demokratie mit einem Verhältniswahlrecht ist mehr oder weniger funktionsunfähig. Nicht umsonst haben die Länder, die anderen Ländern die Demokratie verordnet haben, selbst ein anderes Wahlsystem. Es sind Präsidialsysteme oder sie haben ein Mehrheitssystem. Oder sie haben einen König. Warum also haben die dann den demokratisierten Ländern eine andere Form von Demokratie verordnet, als sie selbst haben? Weil sie wissen, dass mit einem Verhältniswahlrecht auf Dauer keine stabilen Verhältnisse erhalten werden können. Es sei denn, eine Partei erreicht die absolute Mehrheit. Das gab es in der BRD einmal, nämlich 1957. Adenauer und die CDU/CSU konnten alleine regieren. Niemals wieder ging es in der BRD so zügig und effizient voran wie während dieser vier Jahre bis 1961.
Dann kam die Zeit der ewigen und teils absurden Koalitionsregierungen. Der Weg zu ineffizienter Regierungsarbeit war vorgezeichnet. Gerade die letzten drei Jahre haben das auf die Spitze getrieben. Wie kann man auf die Idee kommen, eine Koalition zwischen Grünen und FDP könnte funktionsfähig sein? Ach ja, Hauptsache gegen „Rechts“. Dann muss ja alles gut werden. Wurde es aber nicht und so dürfen wir im Februar wieder an die Urnen. Diesmal mit dem Unterschied, dass Direktmandate nicht mehr zu Überhangmandaten führen dürfen. Der Bundestag ist dann zwar immer noch ein rekordverdächtiges Monster, hat aber dann „nur“ noch etwa 600 Abgeordnete. Einhundert weniger an den Fleischtöpfen. Da freut sich der Steuerzahler, nicht die potenziellen Abgeordneten. Die wollen natürlich die Überhangmandate zurück haben.
Dürfen 30 Prozent ein Direktmandat auslösen?
Beschäftigen wir uns folglich mit den Direktmandaten, wie sie zustande kommen und welchen Wert sie haben können. Als die Parteienlandschaft noch überschaubar war, mit nur drei relevanten Parteien, gab es noch ehrliche Direktmandate. Damit meine ich Mandatsträger, die tatsächlich von einer Mehrheit ihres Wahlkreises das Mandat erhalten hatten. Einer absoluten Mehrheit. Die konnten mit Recht sagen, dass sie die Mehrheit der Wähler ihres Wahlkreises im Bundestag vertreten. Nach 1990 hat sich die Parteienlandschaft verändert. Mehr Parteien konnten in den Bundestag einziehen und eine anwachsende Zahl an Kleinparteien verschieben die Wahlergebnisse, weil sie unter fünf Prozent bleiben. Deren Stimmenanteil kann keine direkte Wirkung entfalten, indirekt schon.
So weisen die aktuellen Prognosen für diese Wahl einen Anteil von bis zu 16 Prozent auf, die zwar gewählt haben, aber deren Stimme bei der Zusammensetzung des Bundestags nicht im Wählersinn wirksam werden, weil sie unter fünf Prozent bleiben werden. Wirksam werden sie aber durchaus. Sie verändern die Mehrheitsverhältnisse an Abgeordneten. Die Anzahl der Abgeordneten bleibt gleich und es können mehr Abgeordnete der Über-5-Prozent-Parteien in den Bundestag einziehen, als sie prozentual Stimmen von den Wählern erhalten haben. Eine kleine Rechnung dazu: Die Abgeordnetenanzahl im Bundestag ist immer hundert Prozent. Die 600 Sitze werden nach Proporz der Parteien vergeben, die über fünf Prozent erhalten haben. 16 Prozent der Stimmen fallen aber aus. Das bedeutet, dass die Abgeordnetenanzahl der im Bundestag vertretenen Parteien nicht mehr den 100 Prozent der Wählerstimmen entsprechen. Nur noch denen von 84 Prozent. 100 – 16 Prozent „verlorene“ Stimmen.
Absolute Mehrheit mit 43 Prozent
Das wiederum bewirkt, dass die absolute Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag bereits bei einem Wahlergebnis von 42 Prozent + 1 erreicht wird. Das verändert auch die Koalitionsmöglichkeiten. Das wiederum heißt aktuell, dass, wenn die CDU/CSU 30 Prozent erreichen sollte, ein Koalitionspartner mit nur 13 Prozent ausreicht, um eine Mehrheit zu schmieden. Wohlgemerkt: Das ist keine Mehrheit der Wählerstimmen, nur eine an Abgeordneten. Da lacht sich ein Herr Merz ins Fäustchen, weil er mehrere Koalitionsoptionen hat, für eine Regierungsbildung in einer Zweierkoalition. Die hätte er nicht, wenn die Prozentzahlen der Wählerstimmen als solche maßgeblich wären. Ginge es nur um die nackten Prozentzahlen, nicht um die Abgeordnetenmandate, dann gäbe es für die CDU/CSU nur eine Möglichkeit, eine Zweierkoalition zu bilden: Mit der AfD. So aber kann Merz mit Rot oder Grün flirten. Ach ja, das ist unsere Demokratie im besten Deutschland aller Zeiten.
Einschub: 1976 erhielt Helmut Kohl 48,6 Prozent der Stimmen zur Bundestagswahl. SPD 42,6, FDP 7,9. Die alte Regierung war eigentlich abgewählt, aber Helmut Schmidt konnte mit der FDP in einer Koalition weiter regieren. Der Anteil an „verlorenen Stimmen“ betrug 0,9 Prozent. Wäre der Anteil an „verlorenen Stimmen“ bei vier Prozent gelegen, hätte Kohl mit absoluter Mehrheit der Abgeordneten regieren können.
„Wahlsieger“ mit 16,1 Prozent Zustimmung der Wahlberechtigten
Doch nun zu den Direktmandaten. Die Parteienlandschaft ist derart zerfleddert, dass sich Parteien mit einem Ergebnis von 21,4 Prozent „Wahlsieger“ nennen können. Das war 2021 in Berlin der Fall. Tatsächlich sieht es noch düsterer aus. Die Wahlbeteiligung lag bei 75,4 Prozent. Das wiederum heißt, dass die „Wahlsiegerin“ SPD nur von 16,1 Prozent der Berliner Wahlberechtigten eine Stimme bekommen hat. Und da behaupten sie und glauben es wohlmöglich noch selbst, sie hätten einen Auftrag erhalten, Berlin zu regieren. Mit den Direktmandaten sieht es nicht besser aus. Ich habe lange gesucht, aber nicht einen gefunden, der bei der letzten Bundestagswahl eine absolute Mehrheit der Wählerstimmen erhalten hat. Sollte es doch einen geben, so stimmt das auch nicht. Bei Wahlbeteiligungen von 70 Prozent oder weniger müsste der Direktkandidat mehr als 70 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können, um ein Mandat von 50 Prozent der Wahlberechtigten, also einer absoluten Mehrheit der Wähler für sich reklamieren zu können.
Die meisten der Direktkandidaten haben aber keine 40 Prozent erreicht, zu oft deutlich unter 30 Prozent. Das nochmals korrigiert mit der Wahlbeteiligung wird nur noch peinlich. Die Frage muss also lauten: Welchen Wert kann so ein Direktmandat haben, das nicht einmal ein Viertel der Wahlberechtigten abbildet? Und dann bislang Überhangmandate produziert hat, die den Steuerzahler einen Haufen Geld kosten. Ja, es gäbe viel zu reformieren an unserer Demokratie! Ich will hier nur auf die angeführten Aspekte eingehen und so ist meine Forderung: Ein Direktmandat darf nur noch gültig sein, wenn der Kandidat 50 oder mehr Prozent der Stimmen erhalten hat. Da will ich sogar die Wahlbeteiligung außen vor lassen. Dann, und nur dann, kann der Direktkandidat für sich reklamieren, die Mehrheit eines Wahlkreises zu repräsentieren.
Hat er weniger, vertritt er nur eine mehr oder weniger geringfügige Minderheit, die aber vor allem in Städten zu oft grün oder links ist und dem allgemeinen Ergebnis der Wahl nicht gerecht wird. Das pervertiert den Sinn der Demokratie vollständig. Das ganze Gezerre über Überhangmandate würde es nicht geben, wenn nur noch Direktmandate mit absoluter Mehrheit gültig wären. Die Anzahl derer befände sich dann heutzutage bei oder nahe Null. Frage: Fühlen Sie sich gut und richtig vertreten von „Ihrem“ Direktkandidaten, den Sie nicht gewählt haben? So oder so, das Problem mit den Überhangmandaten wäre gelöst, aber wird das unsere Demokratie verbessern können? Leider auch nicht, denn dann zieht nur noch die zusammengemauschelte Liste der Parteien in die Parlamente und darauf hat der Wähler keine direkte Einflussmöglichkeit.
Die Demokratie ist alles andere als optimal....
So müssen wir erkennen, dass „unsere Demokratie“ nicht die Aufgabe hat, den Willen des (Wahl-)Volks umzusetzen. Sie ist ein Herrschaftsinstrument, das den Bürgern vorgaukelt, sie könnten demokratisch Entscheidungen beeinflussen. Insbesondere dann, wenn eine aufstrebende Partei, die echte Veränderungen zumindest verspricht, verboten werden soll. Nicht einmal „unseren“ Bundespräsident dürfen wir als gemeines deutsches Volk wählen. Und da erfrechen sich unsere Demokraten, Präsidenten als Autokraten und Diktatoren zu verunglimpfen, denen ihr Volk mit deutlich absoluter Mehrheit den Regierungsauftrag erteilt hat. Oder, wie bei Trump jetzt, den mit historischem Ergebnis gewählten als Gefahr für die Demokratie zu bezeichnen.
Damit will ich es jetzt bewenden lassen und sage nur: Wir, nicht nur nur wir in der BRD, müssen in breiten Diskussionen darüber nachdenken und befinden, wie wir uns ein politisches System wünschen, das man wirklich Demokratie nennen kann. Oder eben ein anderes System, das den Willen des Volks widerspiegeln kann. Vergessen Sie nicht, es war Helmut Schmidt, der sagte: „Die Demokratie ist alles andere als optimal, aber wir haben zur Zeit nichts besseres.“ Also zumindest darüber nachzudenken, ob es Verbesserungsmöglichkeiten geben kann, ist überfällig. Unser bestehendes System, „unsere Demokratie“, ist verrottet und, wie man sehen kann, nicht mehr wirklich funktionsfähig. Schon im letzten Jahrtausend habe ich unsere Demokratie als Diktatur der Medien bezeichnet und das hat sich nicht geändert.
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Aus gegebenem Anlass weise ich auf das Werk von Wolfgang Schimank hin: „Ist Deutschland ein souveräner Staat?“ Lassen Sie sich überraschen, was Schimank alles ausgegraben hat und er geht nicht nur auf die USA ein. Auch mit den EU-Verträgen, die auch nicht vom deutschen Wähler bestätigt worden sind, hat sich die BRD mehr und mehr von Souveränität verabschiedet. Bestellen Sie Ihr Exmplar direkt beim Verlag hier oder erwerben Sie es in Ihrem Buchhandel.