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Nichts Genaues weiß man nicht
Von Reinhard Leube
Vielleicht geht es Ihnen auch so auf die Nerven, dass uns die traditionellen Medien schon seit Jahren mit Stellungnahmen anonymer Experten in jeder Hinsicht behelligen. Gewiss ist früher auch nicht alles makellos gelaufen im Journalismus, aber es wurde doch stets dazu gesagt, wer einen Beitrag zu einem öffentlichen Diskurs geliefert hatte.
Ich fürchte, dass es vielen Mitmenschen längst nicht mehr auffällt, dass die Expertenworte sehr oft nicht mehr mit Namen unterlegt sind. So kann man auch frei erfundene Stellungnahmen ohne Ende unters Volk bringen und Trugbilder einer vermeintlich abgesicherten Darstellung erzeugen. In meinen Büchern über zwei Jahrhunderte in der deutschen und europäischen Geschichte zeige ich, dass Sie auch früher schon mit Fake News gefüttert wurden, wenn es damals auch noch nicht so dumm-dreist aufgezogen wurde wie in den letzten Jahren.
Nichts Genaues weiß man nicht weckte mein Interesse schon in den 1980er und dann in den 1990er Jahren, weil ich doch zu gerne gewusst hätte, wer uns tatsächlich die Teilung Deutschlands und damit die schönste DDR auf der Welt eingebrockt hatte. In dem einen schlauen Buch begann der Kalte Krieg im Jahr 1949 und in einem anderen mit einem Ereignis 1948, als ob das Lesepublikum nur ein Buch zu diesem Thema in die Hände nähme, um die endgültige Wahrheit zu erfahren. Manche Autoren legten den Anfang des Ärgers in ihren wissenschaftlichen Darlegungen in das Jahr 1947 und andere ins Jahr 1946, gerade so, als hätte der Autor des ersten nicht gewusst, dass es das fragliche Ereignis zuvor gegeben hatte. Abhängig von dem herausgepickten Ereignis erschienen folgerichtig die Amerikaner als die Auslöser des jahrzehntelangen Hickhacks in der Welt oder die Sowjets oder die Engländer oder die Franzosen.
Es gab auch Autoren, die die Wurzel des Übels bei unseren heiß geliebten Kommunisten zwischen der Ostsee und dem Erzgebirge erblickten. Zwischen Sylt, Pullach und der Zugspitze hockten glücklicherweise immer die Opfer, die Angst hatten vor der Gefahr aus dem Osten. Schon im siebenten Band meiner Geschichtsserie ohne blinde Flecke auf dem linken oder auf dem rechten Auge hatte ich die erste mit Quellen belegte Aktion auf das Jahr 1945 datiert und gezeigt, dass andererseits die Führung in den USA noch am Kriegsende auf eine langfristige Kooperation mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion hinarbeitete, um eine gemeinsame Wirtschaftszone rund um den Pazifik herum herzustellen, die Sibirien und China einschließen sollte. Ihre Planung unterschied sich damals diametral von der Londoner Außenpolitik.
Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am Ende des II. Weltkrieges hat der spätere Chef des westdeutschen Geheimdienstes Reinhard Gehlen damit begonnen, den Amerikanern seine Analysten aus der Abteilung „Fremde Heere Ost“ als Experten mit Kenntnissen über das Reich der Sowjets anzupreisen wie warme Semmeln. Diese Männer haben die Gefahr aus dem Osten aus dem Hut gezaubert und ihr Hauptquartier zur perfekten Tarnung in der früheren Bonzensiedlung der Nazis in Pullach eingerichtet. Nachdem der Einstieg ins Geschäft so erfolgreich über die Bühne gegangen war, machte sie Dr. Konrad Adenauer zu seinem geheimen Bundesnachrichtendienst. Die Amerikaner konnten die frei erfundenen „Informationen“ Gehlens über viele Jahre nicht nachprüfen, zumal die Sowjets die Schotten dicht machten, als sie im Westen komisch wurden. Detailreich berichtete er darüber in seinen Memoiren, die Anfang der 1970er Jahre schon unter dem Titel Der Dienst auf den Markt kamen. Suchen Sie gerne nach den Autoren, die die von Gehlen geschilderten Vorgänge in ihre Geschichtsdarstellungen „eingeordnet“ haben, wie es heute immer heißt. Vielleicht weil man meint, dass die Leute nicht selber durchdenken können, was ihnen Tag für Tag von allen Seiten ins Gehirn schwappt, muss ja alles für sie vorgekaut und eingeordnet werden.
Hätten die Experten in ihren Traktaten Gehlens Schilderungen in Der Dienst nicht unter den Teppich gekehrt, wäre klar geworden, dass der Kalte Krieg seinen Ursprung nicht 1949 oder 1947, sondern 1945 hatte. Die Idee dafür dürfte nach meiner Recherche 1943 in den Wochen nach der Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad entstanden sein. Nichts Genaues weiß man nicht trifft auch auf den ersten Aufstand der Deutschen nach dem Krieg und auf die Wahlergebnisse zu. In den deutschen Ländern, die unter englischer, amerikanischer oder französischer Verwaltung standen, war der Anteil der Leute, die die KPD und die SPD gewählt haben, tendenziell höher als in den deutschen Ländern, die unter sowjetischer Verwaltung standen, und der erste Aufstand war nicht 1953 im Osten, sondern spielte sich von 1947 bis 1948 im Westen ab. Samuel Butler hatte es so großartig in Worte gegossen: Gott kann die Vergangenheit nicht mehr ändern, aber Historiker können es.
Die heftigen Proteste im Westen, die der Währungsreform und der Preisexplosion bei den Lebensmitteln gefolgt waren und die von den Freunden und alliierten Bombenwerfern mit militärischer Gewalt abgewürgt wurden und Opfer forderten, lassen die Profis kurzerhand unter den Tisch fallen und reiten dafür auf 1953 herum, wobei sie sogar da wochenlange Widerstandsaktionen in Städten, Betrieben und Bergwerken überall in der DDR auf einen Tag im Juni eingedampft haben, an dem in einer Straße in Ost-Berlin ein paar Bauarbeiter aufgemuckt haben. Mir dürfte man die Entlohnung der Profihistoriker nicht überlassen.
Wenn Sie das interessiert und Sie noch sehr viele andere Überraschungen aus den Jahren von 1946 bis 1951 entdecken wollen, nehmen Sie Kontinentaldrift über das Aufreißen der Erde quer durch die Berge im Harz und die Auseinanderbewegung Westeuropas und Osteuropas binnen weniger Jahre zur Hand. Es ist kein Wunder, dass die jüngste deutsche Geschichte nicht in ein einziges Buch gepasst hat. Sie ist viel spannender, als es Ihnen in den asozialen Medien weisgemacht wurde.
Reinhard Leube
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