Vom Wesen und Wirken der Freiheit
Essay von Hubert von Brunn
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ heißt es im Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und dem Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika wird das „Streben nach Glück (pursuit of happiness) verfassungsmäßig zugesichert. Nur zwei Beispiele dafür, welch hoher Stellenwert dem Individuum in hoch entwickelten und stabilen Demokratien mit funktionierender Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Judikative) beigemessen wird. Für viele Demokratien in der Welt gilt dieses freiheitliche Prinzip gleichermaßen.
Inwieweit das verfassungsmäßig verankerte Versprechen in der Praxis auch tatsächlich immer und für jeden zur Anwendung kommt, ist nicht Thema dieses Essays und soll deshalb an dieser Stelle auch nicht weiter untersucht werden.
Hier geht es vielmehr um das Prinzip der Freiheit. Und dieses grundrechtliche Prinzip behält seine Gültigkeit selbst dann, wenn im Einzelfall dagegen verstoßen wird. Auch im Wissen darum, dass es in all diesen freiheitlich-demokratischen Gesellschaften immer wieder auch zu Haar sträubenden Ungerechtigkeiten kommt, bleibt doch festzuhalten: Mehr Freiheit als heute war nie!
Um diese Feststellung zu untermauern, ist ein kleiner Ausflug in die Vergangenheit ganz hilfreich. Gehen wir nur um rund 250 Jahre zurück, also in die Zeit vor der Französischen Revolution, in die Zeit vor dem Wirken Kants, Voltaires und all der anderen philosophischen Wegbereiter der Aufklärung in Europa. Über Jahrtausende hinweg war der Handlungsspielraum des Einzelnen, also seine persönliche Freiheit, klar reglementiert und – je nach Zugehörigkeit zur sozialen Schicht (Stand) – vergleichsweise sehr eng.
In dem gesellschaftlichen Koordinatensystem jener Epochen verfügte eine dünne Schicht von Adel und Klerus über die Macht und das Geld, um den Rest der Bevölkerung gefügig zu machen und auszubeuten. Allein Adel und Klerus hatten die Freiheit der Selbstbestimmung, doch die Freiheiten, die diese „Elite“ sich herausnahm, ging immer auf Kosten derer, die in der Hierarchie darunter standen: Bürger, Handwerker, Bauern, Leibeigene, rechtlose Sklaven. Von individueller Freiheit konnte umso weniger die Rede sein, je weiter die hierarchische Leiter nach unten führte. In der Konsequenz hieß das: Die Mehrheit des Volkes musste dafür bluten, damit eine absolute Minderheit in Saus und Braus leben und in Prunk und Luxus schwelgen konnte.
Zur Sicherung ihrer Macht und den damit verbundenen – mitunter absoluten – Freiheiten, wurde die Führungskaste von Adel und Klerus nicht müde, mit immer neuen Gesetzen, Verfügungen, moralischen Vorgaben, Strafandrohungen (irdisch und höllisch), Verfolgung und Sanktionen bis hin zur Folter das Volk „da unten“, den Pöbel klein und gefügig zu halten.
Dieses Prinzip von rigoroser Machtausübung und brutaler Unterdrückung hat lange funktioniert, sehr lange. Bis eben die Französische Revolution 1789 mit ihren Slogans „Liberté, Egalité, Fraternité“ diesem Treiben ein Ende setzte und die Aufklärer diese (zu Zeiten der Revolution durchaus rüde interpretierten) Schlagworte mit ihrer von einem wahrhaft humanen Menschenbild inspirierten Philosophie zur ideellen Grundlage späterer Demokratien werden ließen.
Natürlich konnten die Freigeister des 18./19. Jahrhunderts nicht ahnen, wohin die von ihnen initiierten politischen, gesellschaftlichen und philosophischen Umwälzungen führen würden, und schon gar nicht, dass es eines Tages ein Zuviel an Freiheit geben könnte, das den Menschen Probleme bereitet. Wie auch? Sie hatten den Stein ins Rollen gebracht, und mit Blick auf die damals zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel mussten sie davon ausgehen, dass es noch sehr lange dauern würde, bis ihre Ideen in ganz Europa und erst recht in anderen Teilen der Welt Fuß fassen können.
In der Tat war der Weg bis zu dem, was wir Zeitgenossen des frühen 21. Jahrhunderts unter Freiheit verstehen, lang und steinig. In den folgenden Jahrhunderten mangelte es nicht an Versuchen, das humanistische Prinzip von „Liberté, Egalité, Fraternité“ in Blut und Tränen zu ersticken. Unzählige Rückschläge waren hinzunehmen und es gab so manche „verlorene Generation“, für die „Freiheit“ eine unerreichbare Utopie blieb. Doch einmal in die Welt entlassen, war die energetische Macht der Freiheit nicht mehr zu besiegen – nicht von Diktatoren und Tyrannen, nicht von Mauern und Stacheldraht.
Die Freiheit, die wir heute genießen und als selbstverständlich gegeben nehmen, ist in erster Linie eine Befreiung von Unterdrückung und Bevormundung, die Generationen vor uns geleistet haben. Eine wahrhaft großartige Leistung, ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit, den keiner von uns missen möchte. Tatsache aber ist: Wir, die Nutznießer dieses Jahrhunderte dauernden physischen und intellektuellen Kampfes um Freiheit, haben kaum etwas dafür geleistet. Nur wenige der heute Lebenden haben selbst aktiv an diesem Kampf teilgenommen, gingen für die Freiheit auf den Barrikaden, lagen in Ketten, mussten ins Exil etc. etc.
Doch jene, die alles dafür gaben, eben diese Freiheit für den Einzelnen zu erringen, hatten so viel zu tun, um die mannigfachen Widerstände aus dem Weg zu räumen, dass ihnen keine Zeit mehr blieb, uns, den nachfolgenden Generationen, eine Gerbrauchsanweisung für die sinnvolle und nutzbringende Anwendung von Freiheit mit auf den Weg zu geben. Sie haben uns mit ihrer mühsam errungenen Freiheit alleine gelassen. Mehr Freiheit als heute war nie. Das ist unser Problem!
Das Koordinatensystem löst sich auf
Noch bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein bildeten die von Staat und Kirche (meist in stiller Übereinstimmung) vorgegebenen Wertevorstellungen, Moralprinzipien und Verhaltenskodizes einen klaren, überschaubaren und von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptierten Orientierungsrahmen. Den Menschen wurde klipp und klar gesagt, was gut und richtig ist, was sie besser unterlassen sollten, wenn sie ein unbehelligtes Leben führen wollen und mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen haben, wenn sie die vorgegebenen Grenzen überschreiten. Die mit der Verbreitung bzw. Überwachung all jener Regeln, Werte und Prinzipien betrauten Staatsdiener wie Lehrer, Polizisten und Richter, aber auch Vertreter des Klerus waren sich in ihrer Ordnungsbildenden Mission im Prinzip einig und wurden vom überwiegenden Teil der Bevölkerung als „Respektspersonen“ geachtet, mitunter gefürchtet.
Dieser kurze Rückblick in die gesellschaftlichen Gegebenheiten der Jahre nach 1945 bis in die 70er der 20. Jahrhunderts bezieht sich natürlich auf die Zustände und die Stimmungslage, wie sie in der damaligen Bundesrepublik und in vergleichbaren Länder Westeuropas geherrscht haben.
Für die Menschen in der ehemaligen DDR war das staatlich verordnete Stützkorsett deutlich enger und repressiver, und die Staatsdiener in ihrer „richtungweisenden Einflussnahme“ auf vom vorgezeichneten Weg abirrende Genossen agierten um ein vielfaches effizienter und rigoroser als das im Westen der Fall war. Deshalb dauerte es dort noch gute 20 Jahre länger, bis das Korsett, das kaum noch Luft zum Atmen ließ, endlich gesprengt werden konnte.
Bleiben wir mit unseren weiteren Betrachtungen im Westen, denn unser Thema ist nicht Diktatur, sondern Freiheit. In der Bundesrepublik war mit der Formulierung des Grundgesetzes und der Etablierung des demokratischen Rechtsstaates und der freien Marktwirtschaft die Freiheit immerhin schon als staatstragendes Prinzip etabliert und in vielfacher Hinsicht (Wahlen, Meinungsäußerung, Presse, Reise etc.) durfte Freiheit auch ohne Einschränkung gelebt werden.
Dennoch war ein staatlich vorgegebenes und von den Kirchen unterstütztes Koordinatensystem hinsichtlich Werte, Moral, Ethos, Verhalten usw. erkennbar. Hier konnte der Einzelne sich einordnen und seine (in der Regel recht überschaubaren) Spielräume ausloten. Es gab einen erkennbaren Orientierungsrahmen und dieser bot zudem eine gewisse Sicherheit. Der Einzelne hatte eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was ging und was nicht.
In einem außerordentlich kurzen Zeitraum von rund 30 Jahren – historisch betrachtet, ein Wimpernschlag – hat sich dann jener bis dahin noch rudimentär vorhandene Orientierungsrahmen – nicht zuletzt als Folgeerscheinung der „68er“-Bewegung – sukzessive aufgelöst und schließlich zu der schier grenzenlosen Freiheit geführt, derer wir uns heute erfreuen dürfen. Kein moralisch-ethisches Koordinatensystem mehr, das von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird, keine Ordnungsprinzipien, die für das Leben des Einzelnen verbindliche Gültigkeit besitzen.
Und so findet sich der Mensch des frühen 21. Jahrhunderts wieder in einem Vakuum von Orientierungslosigkeit und Verunsicherung als Ergebnis eines Übermaßes an Freiheit. Er erkennt nicht mehr oben und unten, hat den Halt verloren, fühlt sich allein gelassen mit seinen Fragen und Irrtümern. Er sucht nach Vorbildern, denen er glauben, nach der führenden Hand, der er sich anvertrauen kann – und findet sich zurückgeworfen auf sich selbst und seine Freiheit, in der er zu ertrinken droht.
Der Grund, weshalb viele Zeitgenossen mit diesem Übermaß an Freiheit nicht zu Recht kommen, ist, dass sie überhaupt kein Muster haben für ein adäquates Verhalten in einer gewissermaßen „rahmenlosen“ Gesellschaft. Die kollektive Sozialisation der Menschen war im westlichen Abendland (in anderen hoch entwickelten Kulturen sowieso) über Jahrtausende geprägt von Krieg, Elend, Hunger und Not, von Unterdrückung, Bevormundung, Gehorsam und Repressalien, vom täglichen Kampf ums Überleben. Diese Grundprägung wurde von Generation zu Generation weiter gegeben und hat sich auf die eine oder andere Weise auch immer wieder als richtig erwiesen. So grausam es uns heute erscheinen mag: mit diesen Bedingtheiten konnten die Menschen umgehen, das kannten sie, darauf waren sie vorbereitet – es war ja immer so.
Das Freisein quer durch alle sozialen Schichten hingegen hat das Volk nicht gelernt und nicht erprobt. Für ungezügelte Freiheit gibt es weder Erinnerung, noch Referenz, wie vernünftiger Weise damit umzugehen sei. Freiheit hat keine Tradition.
So liegt es an uns, den Erben dieser Freiheit, für die unsere Vorfahren unter den unterschiedlichsten Bannern gekämpft und geblutet haben, das Wesen dieser doch so neuen Kondition des Seins zu ergründen und zu begreifen. Wir müssen gangbare Wege suchen und finden, die uns in den Untiefen grenzenloser Freiheit Richtung und Sicherheit bieten. Wir müssen der Freiheit Kontur geben, um zu verhindern, dass sie ausufert und zu Gegenteil dessen wird, als das sie immer verstanden wurde und auch verstanden werden soll: als die humanste, schönste und angenehmste Rahmenbedingung für ein glückliches Leben. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns das hohe Gut Freiheit entgleitet, dass Freiheit verunsichert und Angst bereitet und so aus der Realität gewordenen Utopie Freiheit den Menschen ein neuerlicher Fluch erwächst.
Freiheit verstehen lernen
Ein Auswuchs fehlender Ordnungsprinzipien und verbindlicher Verhaltensregeln äußert sich im Selbstverständnis jener, die die gegebene Freiheit tatsächlich als grenzenlos betrachten. Grenzenlos für sich und ihre Bedürfnisse. Für sie ist diese Freiheit nichts weiter als ein phantastischer Abenteuerspielplatz auf dem sie ihre Egoismen nach Herzenslust und ohne Rücksicht auf Verluste austoben. Die Vorstellung, ihr Gegenüber könnte auch einen Anspruch auf Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung und Unantastbarkeit der Persönlichkeit haben, erscheint diesen Individuen geradezu absurd. Sie wollen nicht akzeptieren, dass ihre Freiheit exakt an der Stelle endet, an der die Freiheit des Gegenübers beginnt.
Genau darum aber geht es. Um jene Grundhaltung aus Respekt, Wertschätzung und Toleranz, die jeder Einzelne jedem anderen Menschen gegenüber aufzubringen hat, damit Freiheit auch von jedem als verbrieftes Grundrecht seiner Existenz begriffen und gelebt werden kann. Ein Aushöhlen des in unserem Lande für alle Bürger uneingeschränkt gültigen Freiheitsbegriffs durch eine rücksichtslos opportunistisch und egoistisch agierende Minderheit ist nicht hinzunehmen. Ein friedliches und harmonisches Zusammenleben in Freiheit kann nur gelingen, wenn die Spielregeln für alle gelten und der Rechtsstaat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dafür sorgt, dass sie auch von allen eingehalten werden. Freiheit als Freifahrtschein für anmaßende Privilegien zu missbrauchen, ist in jedem Falle unmoralisch und ein durch nichts zu entschuldigender Affront, nicht selten ein Verbrechen.
Es liegt in der Verantwortung eines jeden Einzelnen, der das Prinzip Freiheit als ein hohes Gut wertschätzt, nach Kräften dazu beizutragen, dass es uns erhalten bleibt. Unsere Gesellschaft muss dafür Sorge tragen, dass das Erlernen von Freiheit möglichst früh geschieht, damit ein angemessenes, dem Prinzip Freiheit verpflichtetes Verhalten zu jeder Gelegenheit selbstverständlich gegeben ist. Auf den Einsatz rechtsstaatlicher Mittel als „Nachhilfe“ könnte dann weitgehend verzichtet werden. Elternhaus und Schule sind gehalten, jungen Menschen überzeugend und nachhaltig zu vermitteln, dass die Freiheit, in der wir leben, keineswegs selbstverständlich ist, sondern ein teuer erkämpftes Erbe, das es unter allen Umständen zu bewahren gilt. Jeder Tag in Freiheit ist ein Geschenk, dem wir Dankbarkeit schulden.
In einer wahrhaft demokratischen und menschenfreundlichen Erziehung wird Freiheit nie losgelöst von Spielregeln und Grenzen in Erscheinung treten. Vielmehr bildet ein solches Freiheitsverständnis den fruchtbaren Boden, aus dem im jungen Menschen ganz automatisch jene von Respekt, Wertschätzung und Toleranz geprägte Grundhaltung erwächst, ohne die ein friedliches Miteinander nicht möglich ist.
Wer mit diesem Rüstzeug ins Leben geht, wird keine Mühe haben, seine Talente und Fähigkeiten mit Erfolg einzusetzen. Er wird mit gesundem Selbstbewusstsein, konzentriert und engagiert seine Ziele verfolgen und seine Vision von einem glücklichen und erfüllten Dasein verwirklichen. Seine Siege sind nicht eines Anderen Niederlage, sondern stets das Ergebnis seines eigenverantwortlichen Denkens, Fühlens und Handelns. Wer dieses Verständnis von Freiheit verinnerlicht hat, wir niemals Gefahr laufen, mit ihr zu kollidieren.