60 Jahre EU – Kritische Anmerkungen eines besorgten Europäers (Teil 1) Die Europa-Verdrossenheit vieler Bürger hat die Bürokraten-Krake in Brüssel verursacht
Von Hubert von Brunn
Was sagt man einem Jubilar, der erkennbar angeschlagen ist und nicht mehr so ganz im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte, zum 60. Geburtstag? „Mach dir nichts draus, wird schon wieder.“ Oder: „Kopf hoch, Alter, die Zeiten ändern sich, da musst du durch.“ – Vor kurzem hat die EU ihren 60sten begangen und punktgenau hat ein bis dahin wichtiger Partner die Scheidung einreicht – da wird es nicht einfach mit den guten Wünschen. In der Tat war nicht alles, was seit Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 geleistet wurde, schlecht, aber dieses Europa könnte heute sehr viel besser dastehen, wenn fundamentale Fehler nicht gemacht worden wären.
Die naive Idee all jener – Helmut Kohl war einer davon –, die meinten, alle Länder des Kontinents in die Gemeinschaft hineindremmeln zu müssen, damit Europa politisch und vor allem wirtschaftlich besonders groß und mächtig gegenüber seinen Konkurrenten auftreten kann, hat sich, wie wir inzwischen wissen, als regelrechter Rohrkrepierer erwiesen. Mittelalter und Neuzeit sind nicht ohne weiteres unter einen Hut zu bringen. Das mag jetzt überspitzt klingen, aber die Unterschiede in den ökonomischen, ökologischen und sozialen Standards in Ländern wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien auf der einen und Bulgarien, Ungarn und Rumänien auf der anderen Seite sind evident. Betrachten wir nur einmal das BPI in der genannten Reihenfolge: 3,7 Bill., 2,8 Bill., 2,7 Bill. gegenüber 54 Mrd., 133 Mrd., 190 Mrd. (Gesamtheit aller Waren und Dienstleistungen 2013 in US-$). Da kann von Augenhöhe keine Rede sein. Diese drei genannten Länder – und noch ein paar andere dazu – hätten niemals als Vollmitglieder in die EU aufgenommen werden dürfen. Bei Portugal (BPI 227 Mrd.) und Griechenland (BPI 242 Mrd.) sieht es nicht besser aus. Ihnen auch noch den Euro aufzudrücken, war ein Akt fahrlässiger Überheblichkeit.
Den aufgeblähten, teuren Beamtenapparat in Brüssel braucht niemand
Ich will hier nicht alle 28 gegenüberstellen und schon gar nicht will ich mich anheischig machen zu wissen, wo die Grenze gezogen werden müsste, wer darf und wer nicht. Ich will nur deutlich machen, dass ein Wettrennen – und es soll mir keiner sagen, dass die europäischen Staaten untereinander nicht im Wettbewerb stehen – zwischen einem Porsche und einem Trabi ein sehr ungleiches ist. Selbst wenn wir nur die 19 Länder der Euro-Zone betrachten, müssen wir ein erhebliches Gefälle feststellen, das weder einer ausgeglichenen Wirtschaftspolitik, noch dem sozialen Frieden dienlich sein kann. Die drei baltischen Staaten erwirtschaften ein BPI von aufgerundet gerade einmal 25 bis 50 Mrd. US-$.
Aber bei wichtigen Entscheidungen herrscht in der EU das Prinzip der Einstimmigkeit. Winzlinge wie Andorra, Island oder Malta können also jederzeit mit ihrem „Nein“ die gesamte EU lahmlegen. Bei aller Liebe, aber mit Demokratie hat das nichts zu tun. Natürlich müssen die „Kleinen“ auch die Möglichkeit haben, ihre Interessen zu vertreten. Einen Weg, wie das fair und praktikabel zu regeln ist, hätten sich die 751 überbezahlten Sesselpupser im Europaparlament längst überlegen können. Aber ihnen war es ja wichtiger, Verordnungen in der Qualität wie die über den Krümmungswinkel der Salatgurke (inzwischen zurückgenommen) zu „erarbeiten“.
Ein Zurück ins 19. Jahrhundert kann sich niemand wünschen
Das Fazit an der Stelle ist eindeutig: Dieses Europa der 28 (bald 27) ist ein unnötig aufgeblähter und ziemlich teurer Beamtenapparat, der weder zur Wertschöpfung, noch zur Verbesserung der sozialen Situation (siehe Jugendarbeitslosigkeit in Süd- und Osteuropa) beiträgt. In Brüssel und Straßburg (Warum müssen diese beiden Standorte überhaupt sein?) werden über die Köpfe von mehr als 500 Millionen Menschen hinweg Entscheidungen getroffen und Verordnungen erlassen, die mit dem wirklichen Leben der Leute in den unterschiedlichen Ländern nichts zu tun haben. Das ist nicht das Europa, von dem wir alle geträumt haben, nicht das Europa, das wir brauchen.
Ja, natürlich, da ist diese Freizügigkeit, ungehindert durch Schlagbäume von einem Land ins andere reisen zu können, weitgehend nur eine Währung in der Tasche haben und keine Zollerklärung mehr abgeben zu müssen. Am allerwichtigsten: inzwischen 72 Jahre lang in Frieden und Freiheit leben zu dürfen. Das sind unbestritten große Verdienste des Vereinten Europa und deshalb ist es auch wert, dafür zu kämpfen, dass es nicht schon nach 60 Jahren an Altersschwäche dahinsiecht. – Aber wenn der Augias-Stall in Brüssel und Straßburg nicht gründlich ausgemistet wird, ist zu befürchten, dass sich immer mehr Menschen von Europa abwenden und andere Länder dem Beispiel der Briten folgen. Dann werden wir in wenigen Jahren wieder ein Sammelsurium von Nationalstaaten haben mit Grenzkontrollen und Zollverordnungen, Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen und womöglich sogar Armeen, die, vorsichtig ausgedrückt, keine gemeinsamen Manöver mehr durchführen. Dann bewegen wir uns zurück ins 19. Jahrhundert und werden mit Zuständen konfrontiert, die sich niemand wünschen kann, der das freie Europa erfahren und schätzen gelernt hat. – Die Maßlosigkeit der Idee, alle in ein Boot zu hieven, wird dasselbe zum Kentern bringen. Wenn Europa weiter bestehen will, muss es sich von unnötigem Ballast trennen.
Am Erfolgsmodell EWG wollten auch die anderen teilhaben
Der ursprüngliche Gedanke des Franzosen Jean Monnet, „nicht Länder zu vereinen, sondern Menschen zusammenzubringen“, war ja nicht schlecht. Gleichwohl war das Ergebnis der von Monnet initiierten Zusammenarbeit insbesondere zwischen den „Erzfeinden“ Frankreich und Deutschland zunächst auf wirtschaftliches Wachstum und Profitmaximierung ausgerichtet. Zuerst die „Montan Union“, wo es nur um Stahl und Kohle ging, dann eben jene 1957 ins Leben gerufene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit den Sechs: Frankreich, Deutschland, Italien und die Be-Ne-Lux-Staaten. Jetzt ging es generell um die Optimierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, um den Abbau von Zollschranken und freien Handel, um Harmonisierung und Ausgleich, nicht zuletzt auch in der Landwirtschaft sowie um die (noch relative) Freizügigkeit im Personenverkehr.
Dieses Modell hat sich als ziemlich erfolgreich erwiesen, was andere Europäer wie Irland, Großbritannien, Dänemark (1961) und Norwegen (1962) bewogen hat, Anträge auf Aufnahme in den Club zu stellen. Die Briten hatten mit diesem Ansinnen allerdings erst einmal schlechte Karten, weil Charles de Gaulle sie nicht dabei haben wollte. Das Inselvolk war ihm zu andersartig, zu maritim und zu eng mit den USA verbandelt. 1963 wurden die Beitrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich abgebrochen und auch ein zweiter Anlauf zur Aufnahme in die inzwischen größer gewordene EG wurde 1967 negativ beschieden. Erst zehn Jahre später – de Gaulle war nicht mehr im Amt – durfte Premierminister Edward Heath die Beitrittsurkunde für Großbritannien unterzeichnen. Nach nur zwei Jahren stimmten die Briten dann erstmals darüber ab, den Club wieder zu verlassen. Nachdem Premier Harold Wilson einige Sonderbehandlungen herausgeholt hatte, entschieden sich Parlament und Volk letztlich doch für den Verbleib in der EG.
Bleibt nach dem Brexit nur noch ein „Klein“-Britannien übrig?
Seitdem wurden die britischen Regierungen – allen voran Margaret Thatcher („Briten-Rabatt“) – nicht müde, „Extrawürste“ für sich zu reklamieren. Es war alles nicht genug. Der Brexit jetzt ist beschlossene Sache und die Insel kehrt zurück zu der von den imperialen Nostalgikern herbeigesehnten „splendid isolation“. Ob das, was nach dem Vollzug der Scheidung übrig ist, dann noch den Namen „Groß“-Britannien verdient, kann aus heutiger Sicht durchaus bezweifelt werden. Die Schotten wollen erneut ein Referendum zur Loslösung aus dem Vereinigten Königreich durchführen und die Chancen, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung dafür ausspricht, stehen unter dem Vorzeichen der Brexit-Entscheidung in London deutlich besser als 2014.
Womöglich schließen sich die Nordiren diesem Abspaltungs-Trend noch an. Dann bleibt wirklich nur noch „Klein“-Britannien übrig. Das dürfte kaum dem entsprechen, was sich die Brexitianer erträumt haben. In dieser Sache kommt in jedem Falle noch eine Menge Hauen und Stechen auf uns zu. Immerhin müssen rund 21.000 (!) Gesetze, Verträge und Vereinbarungen mit London rückabgewickelt werden. Allein diese Zahl dokumentiert den Bürokratie-Irrsinn, den die derzeit 33.000 (!) EU-Beamten angerichtet haben und als „Nachweis“ ihrer Existenzberechtigung munter weiter treiben.
Haben die Kontinentaleuropäer den Weckruf vernommen?
Vielleicht – ich hoffe es sehr – war die Entscheidung der Briten, dem Club nicht mehr angehören zu wollen, ein Weckruf für die Kontinentaleuropäer. Vielleicht setzt sich angesichts der enormen Herausforderungen und Bedrohungen, denen sich der Kontinent ausgesetzt sieht (islamistischer Terror, weiter zunehmende Flüchtlingsproblematik, mögliche Einschränkung des freien Handels mit den USA – und später wohl auch mit dem Vereinigten Königreich, um nur einige zu nennen) allmählich doch die Erkenntnis durch, dass ein „Weiter so“ das inzwischen recht brüchig gewordene Konstrukt Europa über kurz oder lang endgültig zum Einsturz bringen wird.
Europa braucht wieder eine klare Kontur, die für den Rest der Welt nachvollziehbar und glaubhaft ist. Europa braucht in die Zukunft gerichtete Visionen für eine solide, zuverlässige Politik, die sich an den wirklichen Bedürfnissen der Menschen in den jeweiligen Staaten orientiert und die den Mut hat, der Bürokraten-Krake in Brüssel die Tentakeln zu kappen. Kleinliche, nationalistisch motivierte Egoismen helfen in dem notwendigen Prozess der Neufindung ebenso wenig weiter wie das ständige Umrühren jenes ungenießbaren Einheitsbreis, von dem die meisten Europäer inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes den Kanal voll haben.
Nur dagegen zu sein, ist nicht genug
Der Unmut der immer zahlreicher und immer lauter werdenden Stimmen, die den Ausstieg ihres Landes aus der Gemeinschaft fordern, entzündet sich doch in erster Linie an jener unsäglichen Arroganz der Eurokraten, die sich einbilden, mit ihrer Verordnungs-Diktatur 28 souveräne Staaten bevormunden zu können. Über Jahrhunderte gewachsene und gut funktionierende Strukturen und Vorgehensweisen in bestimmten Regionen werden rücksichtslos zerstört, indem völlig unnütze und nicht selten für die Menschen schädliche Normen an Brüsseler Schreibtischen festgelegt und als Direktive an 28 Regierungen ausgegeben werden. Genau diese indifferente Regulierungswut wollen die Menschen nicht mehr. Das Leben in Katalonien ist ein völlig anderes als das in Island oder im Ruhrgebiet. Die kulturelle Vielfalt in Europa ist immens und anstatt diese großartige Qualität, die unseren Kontinent auszeichnet, zu respektieren und zu fördern, haben die Eurokraten „hart gearbeitet“, um nach dem Rasenmäher-Prinzip möglichst alles gleich zu machen.
Einen Vorwurf müssen sich die „Raus-aus-der-EU“-Rufer aus dem rechtskonservativen Spektrum in den unterschiedlichen Ländern – aus meiner Sicht – allerdings schon gefallen lassen. Ein schlüssiges Konzept, wie man Europa besser, gerechter, unbürokratischer, näher an den Menschen und gleichzeitig politisch handlungsfähig und wirtschaftlich erfolgreich gestalten könnte, hat bisher noch keiner vorgelegt: Weder die Damen Le Pen oder Petry, noch die Herren Wilders, Salvini, Strache oder andere. Nur dem Trump’schen „America First“ nachäffend „Frankreich First“, Italien First“, „Niederlande First“ etc. zu skandieren und die Faust kämpferisch in den Himmel zu recken, ist mir zu wenig. Fundamentalopposition zu betreiben und einfach dagegen zu sein, ist billig und alles andere als kreativ. Wirkliche Politik geht anders.
Große Weltverbesserer und Erneuerer wie Martin Luther, Galileo Galilei, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela – um nur einige zu nennen, haben das jeweils herrschende System infrage gestellt und sich mit den Obrigkeiten angelegt. Aber sie haben mit ihrem Kampf nur deshalb etwas bewirken können, weil sie eine klare Vision hatten von dem, was getan werden muss, um ihrer Meinung nach unhaltbare Zustände zu verbessern. Wer Missstände erkennt, muss sie aufdecken und darf sie kritisieren – das ist in einer Demokratie allemal legitim. Doch wer für sich den Anspruch erhebt, die Interessen des Volkes besser vertreten und dem Land mehr nützen zu können, der muss auch einen Plan haben, auf welche Art und Weise und mit welchen konkreten Maßnahmen er diesem Anspruch gerecht werden will.
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