Die Menschen sehnen sich nach Frieden – und führen pausenlos Kriege
Ein Essay von Hubert von Brunn
Das Gegenteil von Frieden ist Krieg. Befragt nach seiner Präferenz würde jeder vernunftbegabte Mensch den Zustand des Friedens vorziehen – und doch ist die Geschichte der Menschheit geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen. Warum ist das so?
Krieg ist das Synonym für Zerstörung, Not und Elend, Hass und Gewalt, Schmerz und Tod. Kein Mensch wünscht sich das für sich, aber warum mutet er all dieses Unheil seinem Feind zu? Betrachten wir zunächst einmal die unterschiedlichen Gründe und Motivationen, die letztlich zu einem Krieg führen. In grauer Vorzeit, als unsere Vorfahren noch mit Keule und Steinaxt bewaffnet durch Steppen und Wälder zogen, eine Sippe die andere überfiel und man sich gegenseitig die Köpfe einschlug, ist noch nicht von einem organisierten Krieg die Rede. Hier ging es um die Vorherrschaft in den besten Jagdgründen und vor allem ging es um Frauenraub. Die Steinzeitmenschen hatten sehr früh herausgefunden, dass Inzucht für die Vermehrung nicht günstig ist, und stellten dann in einem weiteren Erkenntnisschritt fest, dass dieser Makel nur mit frischem Blut vermeidbar ist. Also holten sie sich gewaltsam junge Frauen von einem anderen Stamm, um die Produktion von gesunden Nachkommen zu gewährleisten. Die für einen Krieg notwendigen Verhaltensmuster waren immerhin damals schon vorhanden: Feindseligkeit, Gewaltbereitschaft, Rücksichtslosigkeit, Egoismus…
Es gibt unzählige Gründe, einen Krieg vom Zaun zu brechen
Die Anlässe und Gründe für die unendliche Zahl von Kriegen, die seitdem im Laufe der Jahrtausende geführt wurden und werden, sind sehr vielfältig. Sehr oft sind es Kriege im Namen irgendeines Gottes. Mit Ausnahme des Buddhismus haben alle großen Religionen Glaubenskriege geführt. Nehmen wir als Beispiel nur den Dreißigjährigen Krieg der Katholiken gegen die Reformierten in Europa. Oder die Kreuzzüge der katholischen Ritter im Heiligen Land gegen den Islam. Im Namen des Propheten rufen heute noch Islamisten zum „Heiligen Krieg“ gegen alle Ungläubigen, also alle Nicht-Muslime auf.
Dann natürlich die kriegerischen Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien. Oftmals liegt der Urgrund für den gegenseitigen Hass weit in der Vergangenheit. Irgendein Anlass hat einmal dazu geführt, dass man aufeinander losging. Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später weiß niemand mehr, worum es damals genau ging, aber die Feindseligkeit wurde von Generation zu Generation tradiert. Denken wir nur an die grausige Stammesfehde zwischen Tutsi und Hutu 1994 in Ruanda. Innerhalb nur weniger Monate wurden dort Hunderttausende (manche Schätzungen sprechen von einer Million) niedergemetzelt. Gerade in Afrika gibt es bis heute immer wieder ethnisch motivierte Kriege. Das liegt natürlich nicht zuletzt an den willkürlichen Grenzziehungen, die die europäischen Kolonialmächte – allen voran die Briten – ohne Rücksicht auf Stammeszugehörigkeiten vorgenommen haben.
Sehr beliebt bei machthungrigen Herrschern waren Eroberungskriege. Das Imperium Romanum war eigentlich schon groß genug, aber die Cäsaren bekamen in ihrer Großmannssucht nicht genug. Ein Volk nach dem anderen wurde unterworfen (nur bei den Germanen haben sie sich die Zähne ausgebissen), bis sich das Riesenreich schließlich von innen heraus selbst zerlegt hat. Die Zahl der Toten, die diese imperiale Vorgehensweise gefordert hat, kennt niemand. Es waren Millionen. Bei Alexander dem Großen, der sein Reich von Makedonien aus bis nach Persien ausbreitete, war es ähnlich. In ihrer Machtfülle hielten sich absolutistische Herrscher für gottgleich und leiteten aus diesem Anspruch heraus das Recht ab, andere, schwächere Völker zu überrennen und zu unterwerfen. Bei den Römern und bei Alexander muss man allerdings dazu sagen, dass sie ihre Eroberungskriege nie dazu benutzt haben, die besiegten Völker zu missionieren, was bei unzähligen anderen Eroberungskriegen nicht der Fall war. Da mussten die Besiegten dann zu allem Elend auch noch den Glauben der Sieger annehmen.
Die Starken nehmen sich, was sie wollen und hinterlassen verbrannte Erde
Neben dem missionarischen Impetus spielte bei den Eroberungskriegen aber auch die Landnahme eine bedeutende Rolle. Zum einen ging es dabei um die schiere Ausbeutung der Unterlegenen. Die spanischen/portugiesischen Conquistadores sollten für ihre Monarchen daheim so viel Gold und Silber wie nur irgend möglich erbeuten. Ähnlich materialistische Ziele verfolgten die europäischen Kolonialmächte in Afrika. Nicht zu vergessen die USA, deren Interesse im 19. Jh. vor allem an billigen Arbeitskräften, den Sklaven, für die Baumwollfelder im Süden des Landes bestand. Im 20. Jh. führten die USA Kriege in erster Linie dort, wo es Bodenschätze, hauptsächlich Öl, zu erbeuten gab. Egal wie: Die Starken mit den überlegenen Waffen kommen, nehmen sich, was sie wollten und kümmern sich einen Dreck darum, was mit dem überfallenen und ausgebeuteten Land geschieht. Ein anderer Anstoß für Eroberungskriege war die Schaffung neuen Lebensraums für das eigene Volk. Das hat u.a. auch Adolf Hitler angeführt als Begründung für seinen Überfall auf Polen und sein weiteres Vordringen gegen die Sowjetunion.
Damit wären wir bei den Kriegen angekommen, die aus ideologischen Gründen geführt werden. Erklärte Feinde der Nazis waren – neben den Juden – die Bolschewiki, also die Kommunisten in der Sowjetunion. Hitlers Krieg ist ein herausragendes Beispiel, wie unterschiedliche Aspekte als Kriegsgründe angeführt werden: Machtstreben, Landgewinn für die arische Rasse, antireligiöser (= antijüdischer) Fanatismus, Kampf gegen den Kommunismus (Ideologie), Größenwahnsinn. Wohl kaum ein anderer Krieg in der Geschichte der Menschheit war so vielschichtig motiviert wie der Zweite Weltkrieg aus Sicht der Nazis. Und dann sind da noch die Stellvertreterkriege wie beispielsweise seit sieben Jahren der Krieg im Jemen. Saudi Arabien unterstützt und finanziert die eine Kriegspartei, der Iran die andere. Leidtragende sind die Bewohner des Jemen, sowieso eines der ärmsten Länder der Welt, die sich nicht wehren können und zu Hunderttausenden verhungern. Auch der seit mehr als 30 Jahren währende Krieg in Afghanistan hat als Stellvertreterkrieg begonnen, mutierte dann zu einem Religionskrieg, verwoben mit ideologischen Implikationen.
Mit fortschreitender Technik wurde der Krieg anonymer und tödlicher
Kriegerische Auseinandersetzungen werden nicht mit bloßen Händen ausgetragen. Es bedarf wirksamer, sprich todbringender Waffen. Ein Quantensprung in der Entwicklung solcher Waffen war die Erfindung von Pfeil und Bogen. Damit konnte der Angreifer seinen Gegner aus einem Hinterhalt, in jedem Falle aus räumlicher Distanz töten. Es ging nicht länger nur Mann gegen Mann. Dennoch wurde diese Eins-zu-Eins-Tötungsvariante bis ins 19. Jh. auf den Schlachtfeldern weitergeführt. Man denke nur an die Reihen der Infanteristen im Heer Napoleons oder Friedrichs des Großen, die todesmutig in Reih und Glied auf den Feind zumarschiert sind und zu Tausenden elendiglich auf dem Schlachtfeld zugrunde gingen. Aber zuvor hatten ja schon die Kanonen der Artillerie Breschen geschlagen.
Die Erfindung dieser weitreichenden Feuerwaffen war die Weiterentwicklung von Pfeil und Bogen. Die Distanz zum Feind konnte nun noch größer gehalten werden und der Schaden, der damit angerichtet werden konnte, war um ein Vielfaches größer. Mit fortschreitender Technik wurde der Krieg immer unpersönlicher und immer tödlicher. Panzer, U-Boote, Flugzeuge, schließlich Raketen und ferngesteuerte Drohnen machten das Töten mehr und mehr anonym. Die Kombattanten der Neuzeit blicken sich nicht mehr in die Augen, sie können sich nicht einmal mehr von weitem sehen. Die Krieger verlassen sich auf die ausgefeilte Technik, die man ihnen zur Verfügung gestellt hat, und drücken im entscheidenden Moment auf einen Knopf. Die Vernichtungsmaschinerie aus der Ferne ist sehr wirksam – Kollateralschäden, sprich der Tod von Tausenden von Zivilisten – billigend eingeschlossen.
Wenn dann endlich die Waffen schweigen, stehen die Überlebenden vor den Trümmern ihrer Existenz. Ganze Städte mit ehemals wertvoller Bausubstanz liegen in Schutt und Asche, kostbare Kunstschätze sind unwiederbringlich verloren gegangen, Wohnungen und Häuser, die Familien ein behagliches Zuhause geboten haben, existieren nicht mehr. Es kostet unendliche Anstrengung und Unsummen an Geld, um in Jahren und Jahrzehnten das wieder aufzubauen, was wirkmächtige Waffen innerhalb von Minuten vernichtet haben. Abgesehen von den materiellen Verlusten, die wenigstens teilweise kompensiert werden können, bleibt die Trauer um geliebte Menschen, die – sei es als kämpfende Soldaten oder als unbeteiligte Zivilisten – im Krieg ihr Leben verloren haben. Der Blutzoll, den moderne Vernichtungskriege fordern, ist gewaltig.
Das ist der Fluch des Fortschritts
Jede neue Waffe, die der Mensch erfunden hat, hat er auch eingesetzt: Pfeil und Bogen, Eisenschwerter, Steinschleudern, Schießpulver für Musketen und Kanonen, Maschinengewehre, Landminen, Brand- und Streubomben, selbstlenkende Raketen, Atombomben. Letzteres steht für die Apokalypse. Aus heutiger Sicht muss man sagen: Gott sei Dank haben die Amis in Hiroshima und Nagasaki schon vorgeführt, welche unglaubliche Vernichtungskraft diese Waffe hat (die Japaner mögen mir verzeihen). Eingedenk der Tatsache, dass die heutigen Atomsprengköpfe – egal von welchem Lager – ein Vielfaches an Zerstörungspotential transportieren, muss man froh sein, dass diese Vernichtungswaffe schon einmal erprobt worden ist. Andernfalls wäre die Gefahr, dass heute eine der sich feindlich gegenüberstehenden Seiten herausfinden wollte, welchen Schaden sie mit dem Einsatz dieser Waffe anrichten könnte, extrem groß. Heute weiß jeder, dass angesichts von mehreren tausend verfügbaren Atomsprengköpfen die Welt, wie wir sie kennen und lieben, ein Ende haben würde, wenn einer, weshalb auch immer, auf den falschen Knopf drückte. Möge Gott – welcher auch immer – uns davor behüten.
Halten wir fest: Der Krieg ist immer so brutal und so tödlich wie die Waffen, die den Kombattanten zur Verfügung stehen. Wären wir auf dem Level von Schwert und Pike stehen geblieben, gäbe es keinen Terrorismus und die Kriege, die es natürlich weiterhin geben würde, wären lokal begrenzt und hätten keine Auswirkungen auf die gesamte Menschheit. Hier wird der menschliche Erfindergeist zum Satan. So sehr technische Errungenschaften uns das Leben erleichtert haben, so sehr haben sie uns, den normalen Bürger eines Landes, der nichts anderes will, als in Frieden zu leben, in eine permanente und nicht kalkulierbare Bedrohungslage gebracht. Das ist der Fluch des Fortschritts. Niemand kann sich dem entziehen. Die Waffentechnik ist so elaboriert, das Vernichtungspotential derart gewaltig, dass es keinen Ort auf der Welt mehr gibt, an den man sich zurückziehen könnte, um der Apokalypse zu entgehen. Damit ist die Menschheit an einem extrem kritischen Punkt angelangt, in einer Situation der Bedrohung, in der sie noch nie zuvor war.
Die Lehre von Yin und Yang: Das Gute ist nicht denkbar ohne das Böse
Kommen wir zurück auf das eingangs aufgeworfene Paradoxon: Jeder möchte im Zustand des Friedens leben und doch ist die Geschichte der Menschheit geprägt von unzähligen Kriegen – bis heute. Wie kann das sein? Ist der Mensch nicht fähig, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und kriegerischen Handlungen ein für Allemal eine Absage zu erteilen? Offensichtlich nicht. Letztendlich geht es hier jedoch nicht um die Fähigkeit und die Bereitschaft zu lernen, sondern vielmehr um die in der menschlichen Natur angelegte Antinomie von Gut und Böse. Die Bibel hat dafür das Bild des Brüderpaars von Kain und Abel geschaffen, doch religiös motivierte Erklärungsversuche sind mir grundsätzlich suspekt und ich werde diesen im vorliegenden Kontext keine weitere Beachtung schenken.
Sehr viel plausibler erscheint mir dagegen die chinesische Lehre von Yin und Yang, die gänzlich ohne jegliche Transzendenz auskommt. Hier geht es nicht um Glaubensdogmen, sondern um die nüchterne, erkenntnistheoretische und eher wissenschaftliche Betrachtung von grundsätzlichen Phänomenen des menschlichen Seins und der Welt, in der der Mensch lebt. Yin steht für das weibliche Prinzip und alles, was damit in Verbindung gebracht wird, Yang für das männliche Prinzip. Yin steht u.a. für die Nacht, den Mond, das Gute, den Frieden…, Yang steht entsprechend für den Tag, die Sonne, das Böse, den Krieg… Grundgedanke dieser chinesischen Philosophie: Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Kein Mensch ist nur gut, ebenso wie kein Mensch nur böse ist. Beides ist in seinem Wesen angelegt und welche Seite letztlich die Oberhand gewinnt, hängt von vielen Faktoren ab, auf die ich hier nicht weiter eingehen will. Worum es im vorliegenden Kontext geht, ist das der chinesischen Lehre von Yin und Yang zugrunde liegende Axiom, dass das Gute nicht denkbar ist ohne das Böse, der Frieden nicht ohne den Krieg. Demzufolge werden die Menschen – so lange es sie noch gibt – weiterhin Kriege führen und dort, wo sie von Zerstörung und Vernichtung unmittelbar betroffen sind, den Frieden herbeisehnen.