Christkind auf Abwegen
Vorweihnachtliche Hektik gab es im Hause Baumann schon lange nicht mehr. Auch früher hatte man es verstanden, sich nicht in den Konsumstrudel hineinziehen zu lassen und spätestens nachdem Tochter Sabine das Haus verlassen hat, um mit ihrem Freund in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, ist Weihnachten für Kerstin und Wolfgang tatsächlich zu einer Oase der Ruhe und der Besinnung in einer hektischen Umgebung geworden. So wie es sein sollte. Plätzchen backen, den Balkon mit aufblasbarem Nikolaus und Lichtergirlanden dekorieren, Weihnachtsbaum einkaufen und schmücken, Lebensmittel besorgen – das alles erledigten die beiden völlig unaufgeregt, arbeitsteilig in Absprache und mit der inneren Gelassenheit, die Menschen am Ende der Fünfziger angekommen gut ansteht.
„Setzt du schon mal unsere Weihnachtsbaum-Beleuchtung in Gang? Dann kann ich den Tisch decken“, kam es aus der Küche.
„Mach ich. Aber lass dir Zeit mit dem Essen. Ich muss den Kartoffelsalat noch abschmecken und vorher will ich mit Cora noch einen kleinen Spaziergang machen.“
„Ist gut. Der Aufwand in der Küche hält sich ja wie üblich bei uns an Heiligabend in Grenzen. Den Kartoffelsalat machst du und ich werfe die Würstchen ins Wasser. Was für eine kulinarische Großtat– jedes Jahr aufs Neue.“
Kerstin war inzwischen von der Küche ins Wohnzimmer gekommen und beide mussten herzlich lachen. Angesichts des strahlenden Weihnachtsbaums, den Wolfgang vor zwei Tagen wie immer liebevoll geschmückt hatte, erfasste sie ein sehr warmes Gefühl und ihre Augen wurden feucht. Sie umarmte ihren Mann, knabberte an seinem Ohrläppchen und flüsterte:
„Ich hab’ dich so lieb. Wir werden wieder ein schönes Weihnachtsfest zusammen haben.“
„Aber ja, was denn sonst?“ sagte Wolfgang entschlossen und küsste seine Frau.
„Na gut, dann zieh dich warm an, schnapp dir den Köter und dreh ein paar Runden. Ich werde die Gelegenheit nutzen und mich noch ein wenig aufbrezeln.“
„Hast du das nötig?“
„Alter Charmeur. Sagen wir so: Es kann nicht schaden.“
Die Stimmung im Hause Baumann konnte nicht besser sein und das galt auch für Cora, die Labrador-Hündin. Wenn Kerstin „Köter“ sagte, war das keineswegs abwertend gemeint. Sie liebte ihren Hund über alles. Wenige Minuten später hatte Wolfgang seinen dick gepolsterten Anorak angezogen, den Schal umgebunden, die Handschuhe übergestreift und verließ mit dem Hund an der Leine das Haus.
„Verlauft euch nicht“, rief ihnen Kerstin an der Haustür noch hinterher, „und macht nicht so lange. Ich habe Hunger.“
Leichter Nieselregen, leicht böiger Wind, die Temperaturen zwei bis drei Grad über Null – alles andere als einladend für einen längeren Spaziergang. Wie üblich hatte Wolfgang den Hinterausgang genommen, um durch den Garten auf den kleinen Feldweg zu gelangen, der auf der anderen Seite von einem dichten Gebüsch gesäumt wurde. Coras Lieblingsauslauf. Auf dem Weg durch den Garten zog die Hündin plötzlich vehement nach links und brachte Wolfgang beinahe zum Stolpern. Sie winselte und kläffte und benahm sich sehr aufgeregt, was überhaupt nicht ihre Art war. Er ließ es geschehen und folgte ihr, wohin sie drängte. Plötzlich hörte er ein leises Wimmern.
„Still, Cora! Da ist etwas.“
Sehen konnte er nichts und das Tier ließ sich nicht beruhigen. Also löste er die Leine vom Halsband und ließ den Hund laufen. Wieder dieses Wimmern und dann hatte Cora wenige Meter entfernt schon aufgespürt, woher es kam. In dem nassen Gras lag ein kleines Mädchen mit langen dunklen Haaren, bekleidet mit einer rosafarbenen Nicki-Hose und einem weißen Kleidchen darüber. Mehr nicht.
„Um Gottes Willen“, rief Wolfgang aus, „was machst du denn da?“
Das Kind schluchzte laut, brachte aber kein Wort hervor. Er hob es auf, nahm es in den Arm und presste es an sich. Cora spielte verrückt, sprang an ihm hoch, kläffte und winselte. Sie wartete auf ihre Belohnung.
„Ja, hast du fein gemacht“, lobte er und kraulte die Hündin herzhaft unterm Kinn und an der Brust, wo sie es am liebsten hatte.
Eiligen Schrittes gingen sie zurück zum Haus. Kaum waren sie eingetreten, kam die Anweisung aus dem Wohnzimmer:
„Schuhe ausziehen und Pfoten saubermachen. Bringt mir bloß keinen Dreck herein!“
„Nein Liebes, wir bringen das Christkind.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“
„Nein, komm endlich her und sieh selbst.“
Als Kerstin das nasse Bündel auf Wolfgangs Arm sah, geriet sie völlig aus der Fassung.
„Wer ist das? Wo kommt das Mädchen her? – Komm gib sie mir. Kaum hatte sie das durchweichte Bündel auf dem Arm, wusste sie, was zu tun war.
„Sie ist völlig unterkühlt. Sie braucht eine warme Badewanne und anschließend trockene Kleidung. Ich mach das schon.“
Davon war Wolfgang überzeugt. Er zog Anorak und wie befohlen die Schuhe aus, und wischte auch Coras Pfoten mit einem zu diesem Zwecke an der Hintertür bereitliegenden Lappen ab. Die Fragen, die seine Frau gestellt hat, beschäftigten natürlich auch ihn. Ich muss die Polizei benachrichtigen, schoss es ihm durch den Kopf, irgendwo wird das Kind ja vermisst. Also griff er zum Telefon und wählte die 110. Es dauerte eine geraume Zeit bis sich eine freundliche Stimme meldete:
„Polizeihauptmeister Schmidt, guten Abend. Was kann ich für Sie tun?“
Wolfgang schilderte, was geschehen war und wie der Stand der Dinge jetzt ist. Er hinterließ Namen, Adresse und Telefonnummer und willigte ein, auch noch das nächstgelegene Revier anzurufen.
„Wissen Sie, normalerweise würden wir die Kollegen dort informieren und sie bitten, sich um die Sache zu kümmern, aber Heiligabend ist bei uns immer Großkampftag. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gebe ich Ihnen die Durchwahl.“
„Nein, das macht mir gar nichts aus. Ist ja schon schlimm genug, dass Sie an Heiligabend arbeiten müssen.“
„Ja, so ist das eben. Nochmals vielen Dank für Ihre Mitarbeit.“
Wenige Minuten später war Wolfgang mit dem nächstgelegenen Polizeirevier verbunden und erzählte dem diensthabenden Beamten seine Geschichte erneut.
„Ein kleines Mädchen, lange braune Haare, rosafarbene Nicki-Hose und weißes Kleid – einen Augenblick bitte.“ Stimmengemurmel im Hintergrund, dann meldete sich der Beamte zurück. „Hallo, sind Sie noch da? – Ausgezeichnet. Wir haben vor einer halben Stunde tatsächlich eine Vermisstenanzeige hereinbekommen, die auf diese Beschreibung passt. Wir werden den Eltern, die ganz in der Nähe wohnen, Ihre Adresse durchgeben, damit sie ihre Tochter abholen können. Wenn es Ihnen recht ist. Oder sollen wir vor Ort dabei sein?“
„Ach nee, ich denke das wird nicht nötig sein. Die Eltern werden sich freuen, ihre Tochter wohlbehalten in die Arme schließen zu können und alles ist in Ordnung.“
Damit hatte Wolfgang seine Bürgerpflicht getan und war erleichtert, dass die Sache so schnell ein so gutes Ende genommen hat.
Inzwischen hat Kerstin das Mädchen in die Badewanne gesetzt und die nasse Kleidung in den Wäschetrockner geworfen. Die Kleine fühlte sich offensichtlich wohl in dem warmen Wasser, spielte mit dem Schwamm, den sie sich vom Wannenrand gegriffen hatte, und ließ sich bereitwillig abseifen. Kein Zetern, kein Weinen, auch später nicht, als Kerstin sie mit einem flauschigen Frotteehandtuch abrubbelte und anschließend die langen brauen Haare mit dem Föhn trocknete und mit der Haarbürste bearbeitete. Was für ein artiges Kind, dachte sie und erinnerte sich dabei an ihre Tochter, die in dem Alter jedes Mal einen fürchterlichen Aufstand gemacht hat, wenn sie gebadet wurde. Eingehüllt in ein großes Badehandtuch saß das Mädchen nun auf einem kleinen Hocker im Badezimmer und beobachtete Kerstin, wie sie den Wäschetrockner öffnete, um den Trockengrad der paar Kleidungsstücke zu prüfen.
„Noch fünf Minuten, dann können wir die Sachen wieder anziehen“, sagte Kerstin lächelnd dem Mädchen zugewandt. Die Kleine strahlte sie mit ihren großen dunklen Augen an und sagte zum wiederholten Male „Anne“. Mehr war aus ihr nicht herauszubringen.
Schließlich kam Kerstin mit dem Kind an der Hand ins Wohnzimmer, wo Wolfgang ungeduldig wartete.
„Na, alles gut bei euch?“
„Aber ja. Kind wieder warm, Kleidung trocken, alles bestens. Ich richte ihr an dem Sofa ein bequemes Lager, wo sie sich einkuscheln kann bis ihre Eltern sie abholen.“
Zuvor trank das Kind gierig von dem Orangensaft, den Wolfgang vorsorglich bereitgestellt hatte.
„Ganz schön durstig, unser Christkind“, schmunzelte er, „hab ich mir schon gedacht.“
Dann rollte sich das Mädchen auf dem Sofa in Kissen und flauschiger Zudecke und es dauerte keine fünf Minuten bis es eingeschlafen war.
„Hat sie irgendetwas gesagt, während du mit ihr im Bad warst?“
„Nichts. Ich habe alles Mögliche versucht, aber sie wollte nicht reden. Nur ein Wort gab sie mehrfach von sich: Anne.“
„Anne, das ist das türkische Wort für Mutter oder Mama.“
„Ach was! Woher weißt du das?“, fragte Kerstin erstaunt.
„Erinnerst du dich nicht mehr an unseren Türkei-Urlaub vor vier Jahren? Überall wo Kinder waren, konnte man dieses Wort hören. Anne, Anne, und Frauen in der Umgebung reagierten darauf.“
„Stimmt, jetzt, wo du es sagst.“
„Na also, dann wissen wir immerhin schon mal, wo unser Christkind herkommt. – Wann wollen wir essen? Ich habe langsam Hunger.“
„Ich denke, wir warten bis die Eltern da waren. Danach sind wir ungestört.“
Wolfgang nickte zustimmend und goss für beide ein Glas Rotwein ein. „Dann müssen wir die Wartezeit eben damit überbrücken“, sagte er lachend und sie prosteten sich zu. Lange mussten sie nicht warten bis es an der Haustür klingelt.
„Ich geh’ schon“, sagte Kerstin, stand auf, ging in den Flur und öffnete die Tür. Sie war sehr neugierig, die Eltern dieses ausgesprochen süßen Mädchens kennenzulernen.
„Guten Abend“, grüßte die Frau höflich.
„Sie sind Frau Baumann und Sie haben unser Kind aufgenommen…?
„Guten Abend. Ja, das ist richtig. Ein zauberhaftes Kind…“
„Wo ist meine Tochter? Wo ist Aischa?“, blaffte der Mann und stürmte grußlos an Kerstin vorbei ins Haus.
„Hey, was soll denn das?“, rief sie erschrocken aus. Mit einem solch rüpelhaften Auftritt hatte sie nicht gerechnet. Gleichwohl bedeutete sie der Frau mit einer einladenden Geste einzutreten.
„Fatma Güngör“, stellte sie sich vor und reichte Kerstin die Hand. „Bitte verzeihen Sie den unmöglichen Auftritt meines Mannes“, sagte sie peinlich berührt, aber als Aischa verschwunden war, ist er vollkommen durchgedreht. Es ist ein Segen, dass Sie sie gefunden und sich um sie gekümmert haben.“
„Aber das ist doch selbstverständlich. Bitte kommen Sie herein. Ihre Kleine liegt auf dem Sofa und schläft selig.“
Jetzt erst, als die beiden Frauen sich anschickten den schmalen Gang nach hinten zu gehen, stellten sie fest, dass dort kein Durchkommen war. Nachdem Wolfgang die laute Männerstimme gehört hatte, war er aufgestanden und hat sich am Ende des Flurs positioniert. Vor ihm stand der aufgeregte Vater, fuchtelte wild mit den Armen und rief immer wieder:
„Wo ist meine Tochter? Ich will sofort meine Tochter sehen! Wo ist Aischa?“
„Jetzt beruhigen Sie sich“, versuchte Wolfgang den Mann zu besänftigen. „Ihrer Tochter geht es gut, kein Grund zur Sorge. – Wollen wir uns nicht erst einmal bekannt machen?“
Die ausgestreckte Hand wollte der Mann nicht annehmen, sich an dem Schrank, der da vor ihm stand vorbeizudrücken, wagte er aber auch nicht. Einen Kopf größer und fast doppelt so breit – diese Tatsache musste er respektieren. Die Frau versuchte, die Situation zu entschärfen.
„Fatma Güngör, ich bin die Mutter. Das ist mein Mann Murad.“
„Schön, Sie kennenzulernen“, sagte Wolfgang höflich und gab ihr die Hand. „Dann kommen Sie doch mit ins Wohnzimmer. Dort schlummert Ihre Tochter selig auf dem Sofa.“
Im Wohnzimmer angekommen, bot der Hausherr den Gästen Platz an. Die Baumanns hatten sich vorgestellt, dass man sich mit den Eltern des Mädchens auf ein Glas Wein zusammen setzt, etwas plaudert, sich ein wenig kennenlernt, ehe man sich verabschiedet. Aber aus dieser Vorstellung eines gemütlichen Zusammenseins wurde nichts. Murad hatte etwas dagegen. Wie ein wild gewordener Affe stürzte er sich auf das schlafenden Kind und schluchzte: „Aischa, Aischa, meine süße kleine Aischa. Wie geht es dir? Was haben die mit dir gemacht…!“
„Wie bitte!?“ – Jetzt war Wolfgang dran, die Contenance zu verlieren. Er packte den Mann, der vor dem Sofa auf die Knie gegangen war, am Kragen seiner Lederjacke und zog ihn nach oben.
„Was soll das heißen: ‚Was haben die mit dir gemacht’? Was ist das für eine Unterstellung?“
„Was weiß ich?“, gab der Mann keuchend von sich. „Beruhigungsmittel oder Drogen. Wer solchen Mumpitz zelebriert…“ – damit deutete er auf den in voller Pracht strahlenden Weihnachtsbaum – „…da muss man doch mit allem rechnen.“
„So jetzt reicht’s“, stellte Wolfgang klar und entließ Herrn Murad aus seinem Kragengriff. „Sie hören mir jetzt gut zu und dann verlassen Sie mein Haus. Wir sind Christen und auch wenn wir nicht jeden Sonntag in die Kirche rennen, pflegen wir die christliche Tradition. Die Feier der Geburt Christi ist Teil dieser Tradition und der geschmückte Weihnachtsbaum gehört dazu. Ob Ihnen das gefällt oder nicht, ist mir vollkommen egal. Ob und wie wir Weihnachten feiern, geht Sie schlicht nichts an. – So, und jetzt empfehle ich Ihnen zu gehen, und zwar umgehend.“
Beide Frauen sind diesem Disput bis dahin schweigend gefolgt, aber jetzt kann Fatma nicht länger an sich halten:
„Was fällt dir ein, die Gastfreundschaft dieser Menschen derart zu missbrauchen? Ich schäme mich für dich.“ Und an die Baumanns gewandt: „Ich kann mich nur noch einmal für das ungebührliche Verhalten meines Mannes entschuldigen und Ihnen von Herzen danken. – Wir gehen jetzt. Wir haben Ihren Heiligabend schon genug gestört.“
„Ach was“, wiegelte Kerstin ab, „was wir getan haben, haben wir gern getan. Hauptsache der Kleinen ist nichts passiert und es geht ihr gut.“
Inzwischen hat die Frau Aischa samt der flauschigen Decke von Sofa auf und in ihren Arm genommen.
„Darf ich die Decke mitnehmen? Draußen ist es kalt und sie schläft so schön. Ich bringe sie Ihnen morgen zurück.“
„Nicht doch“, meldete sich jetzt Wolfgang wieder zu Wort. „Behalten Sie die Decke. Sie soll Aischa immer an ihr Abenteuer an diesem Heiligabend erinnern.“
„Die Decke bleibt da!“, keifte der Mann. „Wir brauchen keine Almosen…“
Ehe er sich’s versah, hatte Wolfgang die Hand auf seinen Mund gedrückt und sagte ruhig, aber mit Nachdruck: „Haben Sie immer noch nicht kapiert, dass Sie in diesen vier Wänden nichts zu melden haben? Gehen Sie nach Hause, nehmen eine kalte Dusche und regen sich wieder ab. Gute Nacht.“
„Ich wünsche Ihnen auch eine gute Nacht. Alles Gute und nochmals vielen Dank.“ Damit wandte sich Fatma um und ging Richtung Ausgang. Ihr Mann trabte hinterher und grußlos wie er eingetreten war, verließ er jetzt auch das Haus.
Kerstin schloss die Haustür hinter ihnen ab und seufzte: „Die arme Frau tut mir leid. Der Kerl ist doch völlig durchgedreht. Oder was meinst du?“
„Na ja, ganz dicht ist er nicht. Aber man weiß ja nicht, was da vorher vielleicht schon vorgefallen ist. Geht uns letztlich nichts an. – Was mich was angeht, ist mein knurrender Magen.
„Na gut, dann werfe ich die Würstchen ins Wasser und du schmeckst den Kartoffelsalat ab. Mir ist jetzt auch nach unserem köstlichen Weihnachtsmenü. Und nach dem Essen machen wir Bescherung.“
„Ach ja? Reicht dir die schöne Bescherung, die wir heute schon hatten, immer noch nicht?“, gab Wolfgang mit ironischem Unterton zurück.
„Wie man’s nimmt. Da war Schönes und Hässliches und Trauriges – ganz so wie im richtigen Leben –, aber wenn ich mir unseren wunderschönen Weihnachtsbaum ansehe, dann geht mir das Herz über und ich freue mich auf die kleine Bescherung, die noch kommt. Den Zauber von Weihnachten kann mir niemand vermiesen, niemand!“
Der erste Feiertag zeigte sich ausgesprochen freundlich. Die Regenwolken hatten sich weitgehend verzogen, die Sonne strahlte und es war kälter geworden. Die Hoffnung auf eine weiße Weihnacht indes blieb unerfüllt. Nach dem Mittagessen beschlossen Kerstin und Wolfgang, einen Spaziergang durch den nahegelegenen Wald zu unternehmen. Da konnte sich Cora mal wieder richtig austoben und ihnen würde die frische Luft auch gut tun. Doch dazu sollte es nicht kommen. Wolfgang war gerade dabei, seine Wanderschuhe anzuziehen, als es an der Haustür klingelte.
„Erwarten wir Besuch?“, fragte er.
„Nicht dass ich wüsste, aber ich ahne nichts Gutes.“
Sie öffnete die Tür und vor ihr stand Fatma mit Sonnenbrille, auf dem Arm ihre Tochter in die bekannte Flauschdecke gehüllt.
„Darf ich eintreten?“, fragte sie heiser.
„Aber natürlich. Kommen Sie herein. Sie und Aischa sind uns immer willkommen.“
Die beiden Frauen gingen in die Küche, wo Wolfgang es endlich geschafft hatte, die Wanderschuhe zu binden.
„Oh, wen haben wir denn da? Seien Sie willkommen.“
„Es tut mir leid, wenn ich Sie schon wieder belästige, aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich halte das nicht mehr aus“, schluchzte sie und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Wolfgang war aufgestanden und nahm ihr mit beiden Händen die Sonnenbrille ab. Ihr linkes Auge war geschwollen und blutunterlaufen und die Haut an der Wange war abgeschürft.
„Er hat sie geschlagen.“
„Ja“, gab Fatma zu und heulte los.
„Jetzt geben Sie mir erst mal die Kleine“, mischte sich Kerstin ein und nahm das Kind in ihre Arme. „Setzen Sie sich und reden sich den Kummer von der Seele. Ich kümmere mich derweil um Aischa.“ Sie ahnte, dass die Frau einiges zusagen hatte, was nicht für die Ohren ihrer kleinen Tochter bestimmt war.
Wolfgang war ein guter Zuhörer und verstand es als erfahrener Anwalt auch, geschickte Fragen zu stellen. Was er von Fatma, die volles Vertrauen hatte, zu hören bekam, bereitete ihm keine Freude. Murad, ihr Ehemann, war all die Jahre, die sie sich kannten, ein höflicher, aufmerksamer Mann und Geliebter und später auch ein liebevoller Vater. Bis er im Sommer eines Tages mit einem Mann nach Hause kam, den er als seinen Bruder vorgestellt hat und der ihr überhaupt nicht gefiel. Ständig habe der Bärtige von Allah gesprochen, aus dem Koran zitiert und sei nicht müde geworden, darauf hinzuweisen, dass der Mann die Krone der Schöpfung sei und die Frau sich ihm vollkommen unterzuordnen habe. Das sei der Wille des Propheten und alle Ungläubigen, die etwas anderes behaupten, seien verdammt.
„War Ihr Mann denn vorher schon sehr religiös?“, fragte Wolfgang dazwischen.
„Überhaupt nicht. Wir sind zwar beide im muslimischen Glauben erzogen worden, aber wir haben das nicht so eng gesehen. Wir sind hier geboren und in dieser Gesellschaft groß geworden. Wir haben uns wie viele junge Leute in einem Café kennengelernt, uns verliebt und vor dreieinhalb Jahren geheiratet. Aus freien Stücken, ohne jegliches Zutun der Eltern. Alles war gut – bis zu jenem Tag im Sommer. Nun rannte er ständig in die Moschee, studierte in jeder freien Minute den Koran, verlangte, dass ich Kopftuch trage und wollte, dass ich meine Arbeit aufgebe…“
„Was arbeiten Sie?“
„Ich bin MTA in einer Arztpraxis.“
„Und er?“
„Programmierer und IT-Spezialist bei einem großen Unternehmen.“
„Finanzielle Sorgen haben Sie also nicht.“
„Überhaupt nicht. Wir haben eine schöne Vier-Zimmer-Wohnung da drüben in dem Wohnblock…“
„Im Akazienweg…“
„Genau. – Ach, was soll ich sagen? Es könnte alles so schön sein. Aber seitdem er auf diesen religiösen Trip gekommen ist, ist das Zusammenleben mit ihm unerträglich geworden.“
Fatma, die ihre Lebensbeichte bis hierhin sehr gefasst vorgetragen hatte, brach wieder in Tränen aus. Wolfgang reichte ihr ein Papiertaschentuch und gab ihr Zeit, sich zu fangen.
„Warum hat er Sie geschlagen?“, fragte er schließlich.
„Er hat mich dafür verantwortlich gemacht, dass Aischa gestern weggelaufen ist. Dabei hat er wieder Streit mit mir angefangen, weil ich mich geweigert habe, das Kopftuch zu tragen. Die Auseinandersetzung ist immer lauter und heftiger geworden. Da hat das Kind Angst bekommen und ist geflüchtet. Ich habe ihm gesagt, dass ich seinen religiösen Wahn nicht mitmache – da hat er mich als ungläubige Hure beschimpft und zugeschlagen. – Ach ja, und ich hätte mich von dem scheinheiligen Glanz des Weihnachtsbaum blenden lassen und Ihnen schöne Augen gemacht.“
„Oh Mann, der hat wirklich einen ganz schönen Sprung in der Schüssel – Verzeihung, wenn ich das so sage.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Sie haben ja Recht.“
„Und wie soll es jetzt weitergehen?“
„Ich weiß es noch nicht, aber wenn er so weiter macht, werde ich mich scheiden lassen. Dieses Leben will ich nicht, auch nicht für mein Kind.“
Wie aufs Stichwort kam Kerstin mit der Kleinen an der Hand in die Küche. „So, ich denke, ich mache uns jetzt erst mal einen schönen Kaffee. Dazu selbstgebackene Weihnachtsplätzchen und einen Tee für Dich?“
„Pfefferminztee mag sie besonders gern“, warf Fatma ein.
„Prima, den haben wir vorrätig.“
„Wie kommt es, dass Sie heute überhaupt hier sein können?“
„Ich habe mich krank gemeldet und es ist Freitag. Da hat er früher Feierabend und geht anschließend in die Moschee.“
„Oh ja, natürlich. Für uns ist heute der erste Weihnachtsfeiertag, da spielt der Wochentag keine Rolle.“
„Ich weiß. Aber ich habe Glück, dass heute Freitag ist und Weihnachten. Er ist weg und Sie sind da.“ Über diese nüchterne Feststellung musste Fatma selbst schmunzeln. Dann wurde sie wieder ernst: „Könnten ich und Aischa ein paar Tage bei Ihnen bleiben? Vielleicht kommt Murad dann zur Vernunft und wir finden wieder zueinander.“
„Aber natürlich, so lange Sie wollen“, beeilte sich Kerstin, ihrer Gastfreundschaft Ausdruck zu verleihen. „In Sabines Zimmer, das seit ihrem Auszug unser Gästezimmer ist, könnt ihr beiden es euch bequem machen, und wir freuen uns auf eure Gesellschaft. Nicht wahr, Wolfgang?“
„Aber ja, keine Frage.“
Fatma stand auf und umarmte Kerstin. „Ich bin Ihnen von Herzen dankbar…“
„Weißt du was, jetzt lassen wir das mit dem Sie. Ich bin Kerstin und das ist Wolfgang. Wenn du vorübergehend hier wohnst, dann ja nicht als Hotelgast, sondern als Freundin.“
„Oh Himmel. Weihnachten ist wirklich ein schönes Fest“, freute sich Fatma und im Überschwang der Gefühle versuchte sie auch den großen Kerl zu umarmen. Der war zufrieden mit dieser Geste der Zuneigung, kam aber gleich wieder auf den Boden der Realität zurück.
„Sag mal, wenn du hier wohnen willst, brauchst du doch auch ein paar Kleider zum Wechseln für dich und deine Tochter – und auch ein paar Spielsachen für sie.“
„Ja sicher. Aber ich wollte nicht gleich mit Gepäck hier ankommen, verstehst du? Dann gehe ich schnell rüber und hole die Reisetasche, die ich, ich gebe es zu, schon gepackt habe.“
„Ich komme mit dir“, sagte Wolfgang entschlossen. Sicher ist sicher und dann habe ich meine Wanderschuhe wenigstens nicht umsonst angezogen.“
Die Wohnung der Güngörs im fünften Stock des Wohnblocks am Rande der Waldsiedlung machte auf Wolfgang einen guten Eindruck. Geschmackvoll eingerichtet, sauber, aufgeräumt, da und dort ein wenig orientalischer Kitsch – aber insgesamt durchaus mit Wohlfühlfaktor. Eine Behaglichkeit, die man dem schmucklosen Betonklotz von außen gar nicht zugetraut hätte.
„Einen Moment, wir gehen noch in Aischas Zimmer, wo ich ein paar Spielsachen einpacke. Das hatte ich in meiner Hektik ganz vergessen, aber du hast daran gedacht.“
Die ganze Aktion hat höchstens 20 Minuten gedauert, dann waren die beiden wieder im Hause Baumann. Bei Kaffee und Plätzchen erzählten die Erwachsenen wechselseitig aus ihrem Leben, während sich das Kind auf dem Teppich sitzend mit seiner Lieblingspuppe vergnügte. Im Hintergrund strahlte der Weihnachtsbaum und während draußen die Dämmerung hereinbrach, war das Wohnzimmer der Baumanns erfüllt von tiefem Frieden und jenem Gefühl von liebevollem Miteinander, wie es doch gerade an Weihnachten Besitz von uns ergreifen sollte.
„Da ist noch eine Frage, die mich die ganze Zeit beschäftigt“, kam Fatma unvermittelt auf die Ereignisse des gestrigen Tages zurück. „Wieso ist Aischa ausgerechnet in euren Garten gelangt und wieso lag sie dort im nassen Gras?“
„Keine Ahnung“, entgegnete Wolfgang. „Ich habe mir die Stelle, wo Cora das Kind aufgespürt hat, bei Tageslicht genau angesehen. Kein Stein, kein heruntergefallener Ast, kein Erdloch, nichts, das sie hätte zu Fall bringen können.“
„Und doch lag sie da“, insistierte Fatma.
Einmal mehr hatte Kerstin die Antwort, unwiderstehlich und keinen Widerspruch duldend: „Nachdem Sabine ihren Besuch, auf den wir uns so gefreut hatten, überraschend abgesagt hat, waren wir traurig, das Weihnachtsfest in diesem Jahr alleine verbringen zu müssen. Aber wir haben uns mit diesem Gedanken arrangiert und uns gesagt, dass wir auch in trauter Zweisamkeit schöne Feiertage haben werden. Und dann hatte der Chef da oben“ – dabei wies sie mit ausgestrecktem Zeigefinger gegen die Zimmerdecke – „den Plan, dass wir in diesem Jahr ein anderes, uns noch unbekanntes, liebenswertes Christkind an unserer Seite haben sollten. So einfach ist das. Der Chef hat entschieden und wir haben getan, was er von uns erwartet hat. Und jetzt sitzt du da, Aischa spielt auf dem Teppich – und Weihnachten ist wunderbar.“
Fatma war gerührt, aber auch ein wenig irritiert. Vom Chef zu reden, wenn Gott gemeint ist, war ihr bislang neu. Aber das war letztlich nicht wichtig. Ein kleines Wunder ist geschehen – und nur darum geht es.
Die weihnachtliche Idylle wurde unterbrochen durch heftiges Klingeln und Klopfen an der Haustür. Fatma erstarrte: „Das ist er. Ich wusste, dass er kommen würde.“
Wolfgang stand auf, um zur Tür zu gehen, doch Fatma hielt ihn zurück: „Nein, lass mich mit ihm reden. Wenn er dich sieht, dreht er gleich wieder durch.“
Sie ging durch den schmalen Flur zur Haustür und öffnete sie. Wolfgang war ihr gefolgt und stand unmittelbar hinter ihr.
„Was machst du hier, du elende Schlampe“, brüllte ihr Mann sie an. „Du holst sofort meine Tochter und kommst mit mir nach Hause. Ich habe ein Wörtchen mit dir zu reden.“
„Stellen wir erst einmal fest: Deine Tochter ist auch meine Tochter, denn ich habe sie zur Welt gebracht“, sagte Fatma so ruhig wie ihr möglich war. „Und soll das Wörtchen, das du mit mir reden willst wieder so aussehen?“ Damit zeigte sie mit dem Zeigefinger auf ihr geschwollenes Auge. „Nein, ich werde nicht mit dir nach Hause kommen. Wir bleiben jetzt erst einmal hier und wenn du wieder normal geworden bist, kannst du ja wieder klingeln.“
„Normal!“, brüllte er, „ich werde dir zeigen, was normal ist.“ Damit zog er ein Küchenmesser aus der Manteltasche und rammte es seiner Frau in den Bauch.
Das ging alles so schnell, dass Wolfgang es nicht verhindern konnte. Aber im selben Moment als Murad zustach, sprang er nach vorne und gab dem Mann einen heftigen Schlag auf die Nasenwurzel. Wie von der Axt getroffen, knickte dieser ein und blieb ohnmächtig liegen. Wolfgang war bei der Bundeswehr und hat dort eine Nahkampfausbildung gemacht. Auch wenn es lange her war: manche Dinge verlernt man nicht.
„Ruf den Notarztwagen“, rief er seiner Frau zu, „ich informiere die Polizei.“
Fatma lag schwer atmend auf den Treppenstufen, das Messer ragte aus ihrem Leib. „Das sieht ja furchtbar aus“, rief Kerstin entsetzt, „zieh doch dieses elende Messer raus.“
„Bloß nicht“, gab Wolfgang streng zurück. „Wenn du das tust, wird sie verbluten. Das überlassen wir den Profis im Krankenhaus. – Und jetzt gib mir eine Strumpfhose von dir, damit sich den Kerl fesseln kann, ehe er wieder aufwacht.“
Minuten später lag Murad bewegungsunfähig auf den Fliesen im Flur und blutete aus der Nase, was Wolfgang in keiner Weise beeindruckte. Das hatte er sich redlich verdient. Dann wurde es laut in der ansonsten so stillen Waldsiedlung. Tatütata, Blaulicht schwirrte durch die Häuserzeile und es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Schaulustigen aus der Nachbarschaft vor dem Haus der Baumanns versammelten.
„Das haben Sie gut gemacht, dass Sie das Messer nicht herausgezogen haben“, sagte der Notarzt, während Fatma vorsichtig auf die Trage gehoben und zum Rettungswagen gefahren wurde.
„Wo bringen Sie sie hin?“, fragte Wolfgang.
„Ins Josefs-Krankenhaus. Die haben eine sehr gute Unfall-Station. Wir haben sie schon angemeldet.“
„Sehr gut. Danke.“
Inzwischen war auch die Polizei eingetroffen. „Ist das das Opfer?“, fragte der Beamte, der noch sah, wie Fatma in den Rettungswagen geschoben wurde.
„Ja“, sagte Wolfgang tonlos. Diese feige Messerattacke ist ihm doch ziemlich an die Nieren gegangen.
„Und der da ist vermutlich der Täter.“
„Sehr richtig. Messerstecher und Ehemann des Opfers.“
„Oha, das ist ja heftig. – Wie es aussieht, müssen wir noch einen Krankenwagen alarmieren. Waren Sie das?“
„Ich habe nur verhindert, dass er noch einmal zustechen konnte.“
„Verstehe. Gut gemacht.“ – Wir müssen morgen noch mal vorbeikommen, um das Protokoll aufzunehmen. Ist das in Ordnung für Sie?“
„Ja, ja, Sie kriegen Ihr Protokoll.“
Am nächsten Morgen hat Wolfgang als erstes das Josefs-Krankenhaus angerufen und sich nach Fatma Güngör durchgefragt. Nach etlichem Hin und Her bekam er die Auskunft, dass sie die Intensivstation verlassen habe und auf Station 6 untergebracht sei. Es gebe aber auch noch einen Herrn Güngör auf dieser Station…
„Sorgen Sie unbedingt dafür, dass er sich der Frau nicht nähert. Er ist gemeingefährlich…“
„Er kann das Zimmer nicht verlassen. Eine Polizeiwache sitzt vor der Tür.“
„Das ist gut. Dann bin ich beruhigt.“
Eine Stunde später war Wolfgang im Krankenhaus. Kerstin konnte nicht mitkommen, sie musste sich um Aischa kümmern. Schnell hatte er die Station 6 erreicht und dann stand er auch schon in Fatmas Zimmer. Sie hing an allen möglichen Schläuchen und Geräten, war aber wach und lächelte als sie Wolfgang erkannte.
„Wie geht es dir?“, fragte er aufgeregt und ergriff ihre Hand. „Was für eine Freude, dich lebend zu sehen.“
Fatma hatte eine Sauerstoffmaske auf der Nase und konnte nicht reden, aber die Dankbarkeit und das Glück am Leben zu sein, drückte sie mit ihren großen dunklen Augen aus. Diesen Blick, dem man sich nicht entziehen konnte, hatte Aischa von ihrer Mutter geerbt. Wolfgang fühlte sich in dem Moment, als würde er zur Familie gehören. Ein junger Mann im weißen Kittel trat ein und streckte Wolfgang die Hand entgegen: „Dr. Bernhard Müller. Ich bin der Stationsarzt und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Wolfgang Baumann, Freund und Nachbar von Frau Güngör. In unserem Haus hat sich das ganze Drama abgespielt.“
„Verstehe. Ich habe stichpunktartig davon erfahren. Da hatten Sie ja ein aufregendes Weihnachtsfest.“
„Das kann man wohl sagen, aber Hauptsache, dass es Fatma einigermaßen gut geht.“
„Ja, sie hat wirklich Glück gehabt. Das Messer ist seitlich in den Bauchraum eingedrungen und hat keine lebenswichtigen Organe verletzt. Die Blutung konnten wir schnell stoppen und wenn alles gut geht, kann sie das Krankenhaus in zwei, drei Tagen verlassen.“
„Das ist ja wunderbar“, sagte Wolfgang erleichtert.
„Hat sie Angehörige hier?“
„Ja, ihren Mann. Der ist der Messerstecher und liegt hier irgendwo auf der Station.“
„Das ist mir bekannt. Und sonst?“
„Die Eltern leben in Süddeutschland, das Kind ist bei uns.“
„Hm, schwierige Situation. Wohin wird Frau Güngör gehen, wenn wir sie entlassen?“
„Zu uns. Da ist sie gestern eingezogen.“
Der junge Stationsarzt war zufrieden und ging. Auch Wolfgang verabschiedete sich von Fatma: „Ich hätte dir gern einen schönen Blumenstrauß mitgebracht, aber am zweiten Weihnachtsfeiertag haben alle Blumenläden geschlossen, und den von der Tanke wollte ich dir nicht zumuten. Außerdem bist du ja in ein paar Tagen sowieso wieder draußen, dann bekommst du deinen Blumenstrauß. Mach’s gut. Ruf an, wenn du entlassen wirst. Ich hol dich ab.“
Drei Tage später saß Fatma im Hause Baumann, was jetzt vorübergehend auch ihr Zuhause war, am Kaffeetisch, während Aischa auf dem Teppichboden herumkrabbelte und sich mit ihrem Holzbaukasten vergnügte.
„Und wie geht es nun weiter?“, wollte Fatma von Wolfgang wissen.
„Tja, so genau kann ich dir das nicht sagen, aber sicher ist, dein Mann wird mindestens wegen versuchten Totschlags angeklagt. Das wird ihm ein paar Jahre hinter Gittern einbringen. – Und was sind deine Pläne?“
„Ich werde auf jeden Fall übermorgen mit Aischa zu meinen Eltern nach Karlsruhe fahren. Die haben dort ein Haus – nicht so groß wie eures –, aber dort können wir unterkommen und sind gut versorgt. Unsere Wohnung werde ich sofort kündigen, dann habe ich bis Ende März Zeit alles, was mir wichtig ist, auszuräumen, der Rest geht auf den Müll.“
„Und was ist mit deinem Mann?“, fragte Kerstin neugierig.
„Was soll mit dem sein“, entgegnete Fatma kühl, „ich empfinde nichts mehr für ihn. Für mich ist er gestorben. Im neuen Jahr werde ich die Scheidung einreichen und hoffe, dass ich problemlos geschieden werde.“
„Das wird so sein“, bekräftigte Wolfgang. „Nach allem, was vorgefallen ist, wird das zügig über die Bühne geben und auch was das Sorgerecht für Aischa anlangt, wird es keine Probleme geben.“
„Unterschätze Murad nicht“, gab Fatma zu Bedenken, „wenn es um seine Tochter geht, wird der zum Tier.“
„Egal“, versuchte Wolfgang sie zu beruhigen. „Er hat versucht, dich umzubringen. Die Fakten sind offenkundig und da helfen keine juristischen Tricks.“
„Wirst du mich in dem Scheidungsprozess verteidigen?“
„Das geht nicht. Kerstin und ich werden ja im Strafprozess gegen deinen Mann als Zeugen auftreten und damit gelte ich als befangen. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde dir einen Kollegen zur Seite stellen, gegen den kein noch so ausgefuchster Winkeladvokat etwas ausrichten kann. Der versteht sein Geschäft.“
„Na gut, dann kann ich also beruhigt zu meinen Eltern fahren und mit ihnen Silvester verbringen.“
„Das kannst du. Wir werden uns ja im Zuge der diversen Gerichtsprozesse, die hier stattfinden werden, mehrfach sehen. Und wenn du hier bist, weißt du, unser Haus ist auch dein und Aischas Haus. Aber eines muss du uns versprechen: Das nächste Weihnachtsfest feiern wir hier zusammen.“
„Dieses Versprechen geben ich gerne“, sagte Fatma lächelnd. „Euch habe ich es zu verdanken, dass ich wieder frei atmen und leben kann.“
„Um ehrlich zu sein, hast du es unserem kleinen Christkind zu verdanken, das dort auf dem Boden krabbelt. Aischa war es, die den Weg gewiesen hat.“
Nachtrag
Wolfgang sitzt am Schreibtisch und arbeitet Akten durch, als Kerstin in sein Arbeitszimmer tritt:
„Bitte entschuldige, wenn ich dich störe, aber gerade hat Fatma angerufen. Sie möchte Weihnachten mit uns verbringen.“
„Ach, dann hält sie also ihr Versprechen. Das ist ja großartig.“
„Ja, sie und Aischa kommen mit dem Zug und Fatma fragt, ob du sie gegen 16.15 Uhr am Hauptbahnhof abholen könntest.“
„Na klar mache ich das, mit Freuden.“
Als Wolfgang, Fatma und Aischa am nächsten Tag im Hause Baumann ankamen, war es bereits stockfinstre Nacht. Kerstin hatte schon damit gerechnet, dass es verkehrstechnisch nicht einfach sein würde und eine schöne kalte Platte als Abendbrot vorbereitet.
„Euer Weihnachtsbaum ist heute noch schöner als im letzten Jahr“, stellte Fatma fest, als sie sich nach dem Essen im Wohnzimmer niedergelassen hatten. „Ich weiß, dass man sich zu Weihnachten beschenkt und ich habe euch auch ein Geschenk mitgebracht, von dem ich hoffe, dass es euch gefällt.“
„Aber das ist doch nicht nötig“, sagte Kerstin den Satz, der immer gesagt wird, wenn man aus Neugier unheimlich befangen ist.
„Ich bin zum Christentum übergetreten – Aischa natürlich mit – und so können wir aus vollem Herzen das Fest der Liebe mit euch feiern.“