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Das Märchen von der goldenen Stadtmauer

Von Hans-Jörg Müllenmeister

Vor vielen, vielen Jahren herrschte einmal ein weiser König über sein weites Reich. Sein Volk lobte ihn wegen seiner Klugheit und Sanftmut, und alle priesen und verehrten ihren Herrscher. Nie zuvor hatte je ein fremder Fuß das paradiesische Land betreten, das friedvoll verträumt in einer weiten Bergschlucht verborgen lag. Krieg und Streit, Neid und Missgunst waren unbekannt. Weit vor den Grenzen des Königreichs aber beherrschte blinder Hass die Menschenherzen.

Eines Tages begab es sich, dass ein fremder Ritter vor den König trat. Niemand, selbst der weise König, wusste das wundersame Erscheinen des Fremden zu erklären.

So war die Bestürzung groß, und die Kunde vom edlen Ritter flog rasch von Mund zu Mund. Lange und tief verbeugte sich der Edelmann, als er vor den König trat. Drauf sprach er: “Oh, König, Du bist weise und gerecht, so höre meine Botschaft, doch hüte Dich, bleibe reinen Herzens, verfalle nicht in Habgier, sonst wird Dein Volk eines qualvollen Todes sterben.

Ehe noch der König die Botschaft richtig vernommen hatte, verschwand der Ritter unter grollendem Donner auf einem feurigen Ross in ungewisse Ferne.

Eine lange Nacht grübelte der König über die seltsamen Worte des Fremden. Auf seinen Liedern lastete Blei, und erst spät im Morgengrauen schlief er, des Sinnens überdrüssig, ermattet ein.

Lange Zeit übte der König Milde und Barmherzigkeit. Er tat Gutes, und eines Nachts verwandelte sich die steinerne Stadtmauer in pures Gold. Staunend sah der König seine goldenen Zinnen wachsen. Doch allmählich wichen Sanftmut und Güte angesichts der goldenen Herrlichkeiten. Vorbei waren die Zeiten, wo der Weise Augen und Ohren seinen Untertanen schenkte. Träge und behäbig wälzte sich der feistsatte König auf seinem goldenen Thronsessel.

Schon bei Sonnenaufgang mussten ihn seine Diener keuchenden Schrittes zur prachtvollen Goldwand sänften. Von Tag zu Tag wuchs die Schatzmauer weiter in den Himmel empor. Längst hatte ein gieriger Goldrausch die Reinheit aus dem Herzen des Königs vertrieben.

Lebendige Winde, fruchtbar erquickender Regen überstieg nicht mehr die verderblich-goldenen Klippen des Königreichs. Quelle und Bäche versiegten, der wärmende Sonnenstrahl brach sich kraftlos an der goldenen Fülle. Äcker und Felder verdorrten. Labten sich die Tiere einstmals an sattgrünen, fetten Gräsern, so gab es jetzt nichts mehr zu futtern, nicht einmal einen Grashalm. Selbst die Hungerkünstler unter den Tieren litten arge Not. Dem grauen Eselvater Kauwenig und der zaundürren Ziegenmutter Genügsam standen die Knochen wie Bohnenstangen aus dem Leibe. Trüb, in ewigem Dämmerlicht getaucht, schritt der Hungertod düster von Haus zu Haus. Menschen und Vieh starben unter seinen grabkühlen Fingern.

Da befahl der König „Reisst die goldene Stadtmauer nieder!“

Vergebens, selbst das schärfste Schwert im Lande zerschellte unter der Wucht des Hiebes. Der König war verzweifelt, ratlos, dem Tode nahe. War er es doch gewesen, der sein Volk in Not und Elend getrieben hatte. Da empfand der König tiefe Reue und er weinte bitterlich. „Ich habe unrecht gehandelt“, seufzte er, „ich verdiene es nicht länger, zu leben, so will ich denn des Hungers sterben“.

Mit vollen Händen verteilte er all seine sattmachenden Herrlichkeiten, die nur noch die königliche Vorratskammer zu bieten hatte. Das hohlwangige Volk dankte es ihm.

Da plötzlich tauchte der Himmel in einen zauberhaften Glanz. Es nahte der edle Ritter von einst. In Windeseile durchmaß er die goldenen Zinnen des öden Reichs. Weit scholl der goldene Klang des vierfüßigen Hufschlags.

Die Schatzmauer zerschmolz. Reißend strudelnde Goldbäche ergossen sich über das trostlose ausgedörrte Land. Goldene Ähren und frische Gräser wogten bald im Spiel des jungen Windes, der den lang ersehnten Regen brachte. Pflanzen, Tier und Menschen erquickten und erfreuten sich am neuen, bunten, fröhlichen Leben. Von nun an regierte der König so glücklich und weise wie nie zuvor, und wenn er nicht vor Glück gestorben wäre, lebte er bis ans Ende der paradiesischen Tage.

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