Die Liebe, die Zeit und der Weihnachtsmann
„Wir müssen reden.“
Karl sah von seinem Teller auf und ließ die Gabel sinken. Diesen Satz hatte er schon aus dem Mund von mehreren Frauen gehört, mit denen er im Laufe seines Lebens zu tun hatte, auch von Franziska, seiner Angetrauten, die ihm am Abendbrottisch gegenüber saß. Und dieser Satz bedeutete in aller Regel nichts Gutes.
„Sieh mich nicht an wie ein weidwundes Reh“, fuhr Franziska lachend fort. „Nicht, was du jetzt vielleicht denkst. Nein, nein, alles in Ordnung, keine Sorge.“
„So, und worüber müssen wir dann reden?“ Karl traute dem Frieden nicht.
„In drei Tagen ist der vierte Advent. Stimmt’s?“
„Ja, das mag wohl so sein“, räumte Karl ein und schob sich die nächste Portion Spaghetti mit Tomatensoße in den Mund. Dieses einfache Gericht, mit dem er sich sein halbes Studium lang ernährt und das er seitdem nicht mehr gegessen hat, hatte er sich gewünscht und Franziska hat es ihm zubereitet. Schmackhafter denn je.
„So, dann sieh dich mal um“, sagte Franziska streng. „Siehst du in unserer Wohnung auch nur eine Spur von Weihnachten? – Da ist nichts! In all den Jahren, die wir zusammen leben, hast du rechtzeitig zum ersten Advent die Deko aus dem Keller geholt, hast den wunderbar einfachen, aber sehr dekorativen Adventskranz aufbereitet, hast auf dem Balkon die Pflanzen beschnitten, mit Tannenzweigen abgedeckt, die Weihnachts-Girlande darüber gelegt und die Zweige mit den LED-Lämpchen zum Leuchten gebracht. Das war schön und es hat mich eingestimmt auf das Weihnachtsfest. – Dieses Jahr: Nichts, nada, niente, nothing! Erkläre mir bitte, warum das so ist.“
Karl war der Appetit vergangen. „Ich hatte viel zu tun und keine Zeit für diesen Schnickschnack“, entgegnete er missmutig und legte seine Gabel beiseite.
„Das lasse ich nicht gelten“, insistierte seine Frau. „Zum Jahresende warst du immer sehr beschäftigt, dennoch hast du Zeit und Muße gefunden, um unsere Wohnung mit etwas Weihnachtsflair zu bezaubern und mir damit eine Freude zu machen. Warum nicht dieses Jahr?“
„Weil ich keine Lust mehr habe auf dieses ganze Weihnachtsbrimborium. Wild blinkende Glitzerlämpchen auf den Balkonen; in der Stadt, wo ich heute war, ein Gedränge und Geschiebe auf den Trottoirs, die Leute mit riesigen Taschen und Tüten bepackt, aus jeder Ecke dudelt „White Christmas“ und „Leise rieselt der Schnee“ – bei zehn Grad plus. Dieses absurde Theater mache ich nicht mehr mit. So einfach ist das.“
„Aber dieses ganze Theater, von dem du sprichst, hat doch nichts mit uns zu tun“, versuchte Franziska sachlich zu bleiben. „Dem haben wir uns doch nie unterworfen. Wir haben den Kaufrausch nie mitgemacht, sind immer bescheiden geblieben und hatten eigentlich nie Stress.“
„Du magst das ja so empfunden haben“, beharrte Karl stur, „ich nicht. Mit unserer Weihnachtsdeko haben wir uns letztlich doch auf dieses Spiel eingelassen. Wir haben unseren Balkon geschmückt, weil wir inmitten der blinkenden und glitzernden Las-Vegas-Nischen um uns herum nicht als schwarzes Loch dastehen wollten. Dir ist doch immer so wichtig: ‚Was die Leute sagen’.
„Nein, darum geht es nicht“, empörte sich Franziska. „Es geht nicht darum, was die anderen tun. Es geht um uns, um unsere Weihnachtsstimmung.“
„Pah, Weihnachtsstimmung“, stieß Karl wütend hervor, warf seine zerknüllte Serviette auf den Tisch und stand auf. „Mir geht Weihnachten drei Kilometer hinten vorbei und meine Stimmung … Na ja, darüber wollen wir nicht reden.“
„Wochenlang habe ich nichts gesagt und darauf gewartet, dass du von selbst auf die Idee kommst. Jetzt habe ich das Thema offen angesprochen und du bist böse auf mich. Das finde ich nicht fair.“
„Nein, ich bin nicht böse auf dich“, versuchte Karl, versöhnlich zu sein. „Hab’ du deine Weihnachtsstimmung, mich kotzt das alles nur noch an. Ich gehe jetzt in die Kneipe. Vielleicht komme ich dort auf andere Gedanken.“
Damit stand er auf, zog seinen Mantel über, steckte den Wohnungsschlüssel ein und verschwand. Franziska blieb verstört und traurig zurück. So hatte sie ihren Mann lange nicht erlebt.
„Zur Krone“ war eine von drei Lokalitäten im Ort, wo sich die Männer gern trafen: Regelmäßig nach dem Sonntagsgottesdienst, manchmal zum Kartabend, selten mit der Familie, wenn es etwas zu feiern gab. Als Karl den Gastraum betrat, waberten blaue Nebelschleier über das halbdunkle Szenario. Der Wirt hatte die Sache schlau geregelt. Gleich vorne die Raucherabteilung mit den Stehtischen und dem Zapfhahn, hinten mit separatem Zugang und durch eine Schiebetür abgetrennt, der Restaurantbereich, in dem Schnitzel, Bratwürste, Schinkenbrot und andere deftige Speisen serviert wurden.
Karl gesellte sich an „seinen“ Stammtisch, an dem bereits heftiges Palaver im Gange war. Die gleichen Gesichter, die sattsam bekannten Themen, nichts von Belang. Hierher zu kommen, war im Grunde eine völlig sinnlose Übung – und doch wurde sie gepflegt. Von manchen an jedem Tag, an dem geöffnet war. Nach dem üblichen Begrüßungsritual kam auch schon das erste Bier für Karl auf den Tisch. So war das in der „Krone“.
„Was ist los mit dir?“, fragte Josef, der Jüngste am Tisch. „Du siehst so griesgrämig aus. Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“
„Ach hör auf“, winkte Karl ab und nahm einen kräftigen Schluck. „Ich habe Stress mit meiner Frau, weil ich diesen ganzen Weihnachtszinnober nicht mehr mitmachen will.“
„Ich mache da auch nicht mehr mit“, sagte ein anderer, „aber Luzy und ich sind uns einig. Wir lassen Weihnachten einfach ausfallen. Das ist absolut stressfrei. “
„Dann hast du ja Glück gehabt“, gab Karl sauertöpfisch zurück.“
„Mann, Alter“, warf Wilfried, der Gemeindeschreiber, der normalerweise für die Witze zuständig war, in die Debatte. „Frauen sind nun mal von Natur aus zickig. Das hat der liebe Gott so eingerichtet. Dagegen kannst du nichts machen. Geh’ nach Hause, leg’ sie über den Tisch und besorge es ihr ordentlich von hinten. Und schon sind alle Probleme gelöst.“
Karl funkelte den Mann zornig an. Das war genau die Ansage, die er jetzt nicht brauchte. „Idiot“, fauchte er, schnappte sein Bierglas und stand auf. „Auf euer blödsinniges Geschwafel habe ich heute wirklich keinen Bock.“ Er sah sich um und erblickte an der Bar noch einen freien Platz. Zielstrebig ging er darauf zu und setzte sich auf den Hocker. Erleichtert, für sich sein zu können, leerte er sein Glas und bestellt ein neues. Rechts von ihm saß eine ältere Frau, die offensichtlich ein spezielles Bedürfnis hatte und intensiv mit einem Mann schäkerte. Links ein älterer Herr mit grauer Mähne, ein Glas Wasser vor sich auf dem Tresen. ‚Großartig’, dachte Karl, ‚hier werde ich nicht gestört’. Da sprach der Grauhaarige ihn an.
„Nicht so ganz die passende Gesellschaft für Sie heute Abend.“
Karl drehte sich nach dem alten Mann um und blickte in ein verschmitzt lachendes Gesicht. Der Mann strahlte Sympathie und Wärme aus, aber Karl wollte keine Einmischungen mehr.
„Was geht Sie das an?“
„Nichts, gar nichts“, gab der Grauhaarige ruhig zurück. „Ich habe nur, ohne es zu wollen, Teile des Gesprächs an Ihrem Tisch mitbekommen und daraus schließe ich, dass Sie ein Problem haben.“
„Ja, das habe ich in der Tat“, gab Karl zu.
„Wenn ich recht verstanden habe, wollen Sie den ganzen Weihnachtszirkus nicht mehr mitmachen und haben deshalb Ärger mit Ihrer Frau.“
„Genau, so ist es. Sie will, dass es so ist wie immer, und mir geht das ganze Getue gegen den Strich.“
Der alte Mann nahm einen bedächtigen Schluck aus seinem Wasserglas und strich sich lächelnd seinen Schnurrbart. „Sie haben sich verrannt, mein Bester. Weder geht es um den Weihnachtszirkus da draußen, noch um die glitzernden Balkone Ihrer Nachbarn – es geht ganz allein um Sie und Ihre Frau. Ihr beide müsst Euch wohlfühlen und Euer Leben so gestalten, dass es Euch guttut. Alles andere spielt keine Rolle.“
Das Wasserglas des Mannes war geleert.
„Darf ich Sie noch zu einem Drink einladen“, fragte Karl, der das Gespräch mit dem alten Mann zunehmend wohltuend empfand und sich gern weiter mit ihm unterhalten hätte.
„Nein, vielen Dank, ich muss nach Hause. Meine Tochter wartet auf mich.“
„Schade, ich hätte gern noch ein wenig mit Ihnen geplaudert.“
„Vielleicht ein andermal“, gab der Grauhaarige freundlich zurück, legte ein Zweieurostück auf die Theke und verließ die Kneipe.
Karl bestellte noch ein Bier, das er still vor sich hin trank. An den Stammtisch zurückzugehen, war keine Option, das was sich an der Bar abspielte, noch weniger. Also trank er aus, bezahlte und verließ das Lokal. Vor der Tür blickte er sich um. In welche Richtung musste er gehen, um nach Hause zu kommen? Er wusste es nicht. Völlig ratlos stand er auf der Straße. Die drei Biere, die er getrunken hatte, konnten es nicht sein. Drei Glas Bier verursachen bei ihm keinen Filmriss. Doch genau so fühlte es sich an: Er hatte die Orientierung verloren.
Plötzlich stand ein Mädchen im weißen Kleid neben ihm, fasste seine Hand und verkündete mit fester Stimme: „Komm’ mit. Ich werde dir helfen.“
„Was machst du denn zu später Stunde noch hier? Du solltest längst im Bett sein.“
„Mach dir keine Sorgen, es ist alles gut“, sagte die Kleine und zog ihn mit sich.
Karl folge ihr ohne Widerspruch und auch als sie ihn in eine Nebenstraße am Ortsausgang führte, ging er willig mit. Das letzte Haus in der Straße war klein und renovierungsbedürftig. Dorthin brachte sie ihn.
„Wir sind da“, sagte das Mädchen selbstbewusst und öffnete die knarrende Eingangstür.
„Das ist dein Zuhause?“, fragte Karl.
„Ja.“
„Und es ist nicht abgeschlossen?“
„Nein, wozu?“
„Man könnte euch bestehlen.“
„Bei uns gibt es nichts zu holen. Das wissen auch die Einbrecher, deswegen kommen sie nicht zu uns.“
Die verblüffende Logik des Mädchens ließ Karl schweigen. Im Innern des Hauses angekommen, sah er sich um. Es war tatsächlich mehr als bescheiden und – soweit er es einschätzen konnte – hätte sich ein Einbruch tatsächlich nicht gelohnt. Hier war nichts von Wert. Eine Oase des Friedens.
Das Mädchen, das seine Hand seit der ersten Begegnung vor der Kneipe nicht losgelassen hatte, führte ihn weiter und sie gelangen ins Wohnzimmer. In der Ecke stand ein kleiner Weihnachtsbaum, dezent geschmückt mit roten und silbernen Kugeln und mit Wachskerzen, die ein wohliges Licht verbreiteten. Vor einem kleinen Tisch saß in einem altmodischen Sessel der grauhaarige Mann, den er vor kurzem als Hockernachbar in der Kneipe kennengelernt hatte.
„Schön, dass Sie gekommen sind“, sagte jener mit breitem Lachen. „Auf meine Kleine ist schon Verlass, finden Sie nicht?“
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Karl verstört, „ich weiß nicht, wohin das Ganze führen soll.“
„Ach lassen Sie es doch einfach auf sich zukommen. Es wird schon keiner beißen“, gab der Alte lachend zurück. „Nehmen Sie doch erst einmal Platz. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?“
Karl war kein Teetrinker, aber dieses freundliche Angebot konnte er natürlich nicht ablehnen. Er nickte zustimmend und setzte sich auf das abgeschabte Sofa. Das Mädchen stellte ihm eine Tasse hin und goss ihm aus der Kanne ein.
„Danke, Elvira“, sagte der Alte sanft, „das hast du ganz toll gemacht. Aber jetzt, denke ich, ist es Zeit für dich, zu Bett zu gehen. Gute Nacht, mein Herz.“
„Gute Nacht Papa, gute Nacht, mein Herr“, verabschiedete sich das Mädchen artig und verschwand lautlos.
„Warum bin ich hier?“, fragte Karl verstört.
„Weil Sie es wollen und weil mein kleines Mädchen Ihnen den Weg gewiesen hat.“
„Das ist doch kompletter Unsinn“, blaffte Karl den Grauhaarigen an. „Ich habe Sie nie zuvor gesehen, war nie in dieser Straße. Wie soll ich etwas wollen, das ich gar nicht kenne?“
„Sehen Sie, genau darum geht es“, antwortete der Alte mit ruhiger Stimme. „Sie lassen sich beeindrucken von Blendwerk, das geschäftstüchtige Kaufleute alle Jahre wieder installieren, um zahlungskräftige Kunden anzulocken. Dagegen wehren Sie sich, zurecht. Aber das reicht nicht, ich bitte Sie. So lange Sie keine klare Vorstellung haben von dem, was Sie wollen, bleibt die Ablehnung dessen, was Sie nicht wollen, ein zahnloser Papiertiger. – Jetzt nehmen Sie erst einmal einen Schluck von dem köstlichen Tee zu sich. Das wird Ihnen guttun und Sie beruhigen.“
Der alte Herr wirkte beinahe ein wenig streng und Karl folgte seiner Aufforderung, schlürfte an seinem Tee und das würzige Aroma des heißen Getränks tat ihm wirklich gut. Er blickte sich um in der kleinen Wohnstube und fand seinen ersten Eindruck von großer Bescheidenheit bestätigt. Keinerlei Anzeichen von Prosperität oder gar Luxus.
„Sie sind enttäuscht, nicht wahr?“, meldete sich die sanfte Stimme des Alten wieder. „Diese einfache Umgebung – oder wie man heute neudeutsch sagt: dieses Ambiente – erinnert Sie womöglich an ihre früheste Kindheit, als es noch keine Konsummonster gab und die Menschen noch füreinander da waren, in der Familie, im Freundeskreis, in der Firma. Es erscheint Ihnen nostalgisch fremd, weit weg und nicht mehr zeitgemäß. Aber was ist denn schon zeitgemäß? Wer bestimmt das?“
Karl wurde nachdenklich. Der Alte hatte Recht. Tatsächlich war er groß geworden in eher ärmlichen Verhältnissen, ist dann in die Wirtschaftswunderzeit hineingewachsen und hat den damit einsetzenden Konsumrausch mit Begeisterung mitgemacht: Der erste Schwarz-Weiß-Fernseher, der Kühlschrank, die Waschmaschine, das Auto, das Telefon… so viele Dinge, die man einfach haben musste, und die Ausdruck waren von: ‚Wir sind auch wer.’ Wie hart sein Vater dafür arbeiten musste, ist ihm erst viel, viel später klar geworden. Damals konnte es einfach nicht schnell genug gehen, bis all die Segnungen der sich etablierenden Wohlstandsgesellschaft auch im Haushalt seiner Eltern Einzug fanden. Und auch später hat er dieses Haben-Haben-Haben-Wollen mitgemacht: Die abgefahrene Stereoanlage, das Auto mit über 150 PS, die 130 qm-Altbauwohnung, Designer-Klamotten, der coole Skiurlaub in Davos, Sommer in Florida – ja, das war doch toll!
Inzwischen hatte er erkannt, in welche Sackgasse jener überbordende Konsumrausch führt. Diese Entmenschlichung auf Kosten der Dinglichkeit wollte er nicht weiter mitmachen. Und weil Weihnachten der alljährliche Höhepunkt des Konsumirrsinns ist, hatte er beschlossen, sich dem in diesem Jahr komplett zu verweigern.
„Sie haben jetzt lange nachgedacht“, sagte der Alte freundlich, „sind Sie denn auch zu irgendeinem Ergebnis gekommen?“
„Ich fürchte, nicht“, gab Karl kleinlaut zurück. „Sie haben es vorhin klar formuliert: Ich weiß zwar, was ich nicht mehr will, aber was ich wirklich will, das weiß ich nicht.“
„Na, das ist doch schon mal eine gut Erkenntnis“, lachte der Alte vergnügt, griff neben sich und bracht von einem kleinen Beistelltischchen zwei Gläser und eine Flasche hervor. „Ich finde, darauf sollten wir jetzt einen trinken. – Ja, sehen Sie nicht so entsetzt drein. Ich bin nicht der alte Miesepeter, für den Sie mich halten.“
Darauf goss er die Gläser mit dem Klaren ein und prostete Karl zu. „Trinken wir auf meine geliebte Frau Leonore. Sie hätte unsere heutige Begegnung sehr geschätzt und gewiss auch einiges dazu zu sagen gehabt.“
„Sie sind verwitwet?“
„Ja, seit zwölf Jahren. Kurz vor ihrem Tod hat mir Leonore noch Elvira, meinen Augenstern, geschenkt. Dann hat der Krebs sie aufgefressen und keiner konnte etwas dagegen tun. – Tja, mein Lieber, so kann es gehen im Leben. Und deshalb nehmen Sie eine Wahrheit mit auf den Weg. Zwei Dinge gibt es, die sind nicht käuflich, nicht mit Millionen und Milliarden: Liebe und Zeit! Ich habe meine Frau mehr geliebt als mein Leben – aber das Schicksal hat uns nicht die Zeit gegeben, um diese Liebe bis zum Ende unserer Tage auszuleben. Elvira ist meine Rettung. Gott sei Dank.“
„Es tut mir leid“, stammelte Karl, „Ich meine, der Tod Ihrer Frau tut mir leid. Dass Sie Elvira haben, ist natürlich ein Segen.“ Er fühlte sich völlig von der Rolle und wusste eigentlich nicht, was er sagen sollte.
„Lassen Sie es gut sein“, half der Alte ihm aus seiner Verlegenheit. „Ich habe mein Schicksal, Sie das Ihre. Wenn ich es recht verstanden habe, vorhin in der Kneipe, wartet eine liebende Frau zuhause auf Sie. Das ist ein großes Geschenk. Gehen Sie nicht leichtfertig damit um. Das passiert einem – wenn man Glück hat – nur einmal im Leben. Ihre Frau, dessen bin ich sicher, erwartet keine teuren Geschenke von Ihnen. Sie müssen sich dem Konsumterror nicht unterwerfen. Machen Sie ihr eine riesige Freude und schenken Sie ihr Liebe und Zeit. Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, aber die Welt wird sich auch weiterdrehen, wenn Sie sich zwei Tage frei nehmen und mit Ihrer Frau etwas Schönes unternehmen: Kino, Theater, Konzert, Essengehen oder einfach Dasein und in den Arm nehmen… Da gibt es viele Möglichkeiten. Tempus fugit, die Uhr tickt, und es wir immer weniger auf dem Konto. Das sollten Sie nie vergessen. Und geben Sie dem Zauber von Weihnacht eine Chance. Der hat mit Konsum nichts, aber auch gar nichts zu tun.“
Karl fühlte sich verloren auf dem abgeschabten Sofa und es wollte ihm nichts einfallen, das er auf die klugen Ausführungen des Alten hätte erwidern können.
Vielleicht sind Sie jetzt ein wenig verwirrt“, sagte der Grauhaarige sanft, „aber ich denke, Sie haben mich verstanden. Gehen Sie nach Hause und folgen Sie meinem Rat. Dann wird alles gut.“
Karl stand auf, zog sich den Mantel über und band seinen Schal um. „Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben. Ich denke, ich habe einiges gelernt.“
„Das freut mich zu hören“, gab der Alte zurück, während er sich ächzend aus seinem Sessel erhob. „Ich bin sehr zuversichtlich.“
„Aber ich weiß gar nicht, wo ich hingehen soll“, sagte Karl ängstlich. „Ich habe schon vorhin nicht gewusst, wie ich nach Hause komme.“
„Da machen Sie sich jetzt mal gar keine Sorgen“, beruhigte ihn der alte Mann und legte freundschaftlich seinen Arm um Karls Schulter. „Vorhin waren Sie noch ein Zweifler, jetzt sind Sie ein Wissender. Das ist ein großer Unterschied. – Sie verlassen das Haus, gehen nach links bis zur großen Straße, dann wieder nach links und immer geradeaus. So kommen Sie nach Hause, ganz einfach.“
Die beiden Männer verabschiedeten sich, Karl trat vor die Tür und bog nach links ab, dann wieder nach links – und tatsächlich, dort war das Haus, in dem er wohnte. Auf leisen Sohlen betrat er die Wohnung, zog sich im Flur aus und schlich sich dann nahezu lautlos ins Schlafzimmer. Er war erleichtert; Franziska schließ tief und fest. Zu dieser Stunde musste er keine Erklärung mehr abgeben.
Als Karl am nächsten Morgen erwachte, hatte er Mühe, sich in die Realität des neuen Tages einzusortieren. Der Wecker hatte wie immer um 7.30 Uhr Alarm gemacht und während er in der Küche die Kaffeemaschine in Gang setzte, sagte ihm der Sprecher der Morgennachrichten im Radio, dass heute Freitag sei.
Allmählich wurde das Gespräch mit dem Alten am Vorabend in Karls Gehirnzellen wach und er beschloss, diesen Freitag als Arbeitstag ausfallen zu lassen. Er ging in sein Arbeitszimmer und überprüfte den Terminkalender auf seinem Schreibtisch. Da stand wirklich nichts, was absolut keinen Aufschub duldete. Zufrieden legte er den Terminkalender zur Seite, griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner Sekretärin. Natürlich war die Gute zu der frühen Stunde noch nicht im Büro. Also hinterließ er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: „Guten Morgen, Frau Grabowski, ich hoffe, es geht Ihnen gut. Mir geht es leider gar nicht gut. Mich hat ein Magen-Darm-Virus erwischt und ich fürchte, ich kann heute nicht zur Arbeit kommen. Sagen Sie bitte alle Termine ab; am Montag wird es hoffentlich schon wieder besser gehen.“
Inzwischen war Franziska aus dem Bad gekommen und hat in ihrer täglichen Routine den Frühstückstisch gedeckt. Als Karl die Küche betrat, stand sich mit dem Rücken zu ihm am Herd.
„Na, wie war’s gestern in der Kneipe“, fragte sie schnippisch über die Schulter. Seinen unfreundlichen Abgang hatte sie noch nicht vergessen.
„Sensationell“, rief Karl aus und seine Stimme klang außergewöhnlich wach. Franziska drehte sich um und war erstaunt, ihren Mann immer noch im Bademantel da stehen zu sehen.
„Was soll das denn? Willst du so zur Arbeit gehen?
„Nein, ich gehe heute gar nicht zur Arbeit. Ich bleibe zu Haus bei dir.“
Franziska brachte die gekochten Eier an den Tisch, nahm Platz und begann zu frühstücken. Karl setzte sich zu ihr und nahm einen Schluck Kaffee. Essen konnte er jetzt nicht. Er war zu aufgeregt. Da beide ziemliche Morgenmuffel waren, verlief das Frühstück üblicherweise recht wortkarg. Heute war es anders.
„Würdest du mir bitte erklären, was los ist?“, fragte Franziska immer noch leicht gereizt. „Ich verstehe das alles nicht.“
„Ich werde es dir erklären, Liebes.“ Dabei ließ Karl seine Finger sanft über ihren Unterarm gleiten.
„Aber du bist doch hoffentlich nicht wirklich krank?“ Sie versuchte, Ernst in ihre Stimme zu bringen, doch das spöttische Lächeln um ihren Mund verriet, dass sie nicht wirklich besorgt war. Dafür umso neugieriger.
„Nein, nein, mir geht es gut. Kein Grund zur Sorge.“
„Also?“
„Du wirst es nicht glauben“, sagte er schwärmerisch, „aber gestern bin ich dem Christkind und dem Weihnachtsmann begegnet.“
„Du spinnst“, gab Franziska auf ihre gewohnt coole Art zurück.
„Nein, ich spinne nicht“, konterte Karl mit breitem Lachen. Ich habe alles ganz genau analysiert. Das Christkind hat mich dorthin gebracht und der Weihnachtsmann hat mir gesagt, was Sache ist.“
„Und was ist Sache?“ fragte Franziska sichtlich amüsiert.
„Sache ist, dass ich heute, morgen und übermorgen frei habe. Sache ist, dass ich heute einen Weihnachtbaum besorgen und ihn nach allen Regeln der Kunst schmücken werde. Sache ist, dass ich dich morgen ins Kino oder zum Essen ins Restaurant einladen werden – was immer du willst.“
„Herrje, jetzt mache ich mir langsam aber doch Sorgen. Was ist bloß in dich gefahren?“
„Ich habe den Zauber von Weihnacht wiederentdeckt“, verkündete Karl mit einigem Pathos. „Ich habe verstanden, worauf es ankommt im Leben, was wichtig ist und wofür es sich lohnt zu kämpfen. Und ich weiß, was ich zu tun habe, damit ich mir nicht selbst im Weg stehe und die verloren gegangene Lebensfreude wiederentdecke – zusammen mit dir.“
Franziska sah ihren Mann mit großen Augen an. Derart euphorisch hatte sie ihn schon lange nicht mehr erlebt und der Glaube, ihn je noch einmal so erleben zu dürfen: nach vorne blickend, empathisch, optimistisch – so wie sie ihn vor 16 Jahren kennengelernt hat – hatte sich in den zurückliegenden Jahren weitgehend verflüchtigt. Karl war jetzt richtig in Fahrt geraten und fuhr gestenreich fort.
„Du, mein Herz, bist das Wertvollste, was ich habe, und Deine Liebe ist das größte Geschenk, das mir im Leben je zuteil wurde.
„Das hat dir der Weihnachtsmann gesagt?“, warf Franziska trocken ein. „Oder war es das Christkind?“ Mit dem ihr eigenen Humor konnte sie mitunter recht sarkastisch sein.
„Ach was“, wischte Karl die lästige Unterbrechung beiseite. „Das hat mir der Weihnachtsmann nicht gesagt, aber er hat mir die Augen geöffnet, es zu erkennen. Wir haben nur dieses eine Leben und wir wissen nicht, wie viel gemeinsame Zeit das Schicksal noch für uns vorgesehen hat. Also müssen wir sie nutzen, jeden Tag. – Darum geht es.“
Franziskas Sarkasmus war verflogen. Ihr Mann meinte es ernst und er sollte sehen, dass sie das verstand. Sie erhob sich, ging zu ihm hin, setzte sich auf seinen Schoß, schlang ihre Arme um ihn und gab ihm einen innigen Kuss.
„Ist das ungefähr das, was du meinst?“, fragte sie neckisch.
„Es geht auf jeden Fall in die richtige Richtung“, gab Karl vergnügt zurück und entließ seine Frau mit einem leichten Klaps auf den Po von seinen Schenkeln.
Nach diesem etwas anderen Frühstück mit unerwartetem Ausgang hatte Karl es eilig. Es gab viel zu tun und er wollte an diesem Tag alles nachholen, was er in den vergangenen Wochen versäumt hatte. Als erstes ging er los, um eine schöne Tanne zu besorgen. Dann musste er in den Keller, um die Kartons mit der Weihnachtsdekoration nach oben zu bringen. Drei Mal von der dritten Etage die Treppen hinunter und wieder hoch. Ein schweißtreibendes Geschäft, das er früher eher widerwillig und genervt erledigt hat. Dieses Jahr bereitete es ihm Freude.
Zunächst nahm er sich den Balkon vor. Girlanden, Lichterkette, die dezenten LED-Lämpchen und vor allem der aufblasbare Weihnachtsmann, der dann am Balkongeländer hängen sollte, ließen sich leichter anbringen, solange noch etwas Tageslicht herrschte. Franziska versüßte ihm die Arbeit, indem sie eine CD mit stimmungsvoller Weihnachtsmusik auflegte und ihm ein Glas Wein kredenzte.
„Danke, mein Schatz. So macht es Spaß.“
„Ich danke dir, dass du das machst. Jetzt kann ich mich endlich auf Weihnachten freuen.“ Karl nahm seine Franziska in den Arm und küsste sie. Es fühlte sich warm und gut und richtig an.
Die beiden Schwippbögen an den Fenstern waren schnell in Position und zum Leuchten gebracht. Jetzt kam der Baum dran. Mit der Routine der letzten Jahre hatte Karl auch hier in weniger als einer Stunde eine einfache Tanne in einen phantasievoll dekorierten, strahlenden Christbaum verwandelt. Franziska war begeistert und spendierte sich und ihrem fleißigen Weihnachtsmann noch ein Glas Wein. Der Zauber von Weihnacht war zurückgekehrt in ihre Wohnung und beide genossen es.
Die Türglocke läutete. Karl sah Franziska überrascht an.
„Erwarten wir Besuch?“
„Nicht direkt“, sagte sie lachend, stand auf und ging zur Tür. Karl hörte ihre Stimme und die eines Mannes, dann fiel die Wohnungstür ins Schloss.
„In fünf Minuten gibt es Essen“, rief sie ihm aus dem Flur zu. So lange wollte Karl nicht warten und ging in die Küche, wo Franziska dabei war, den Tisch einzudecken – in der Mitte eine große Platte mit Sushi, Maki, Ingwer; kleine Schälchen mit Sojasauce…
„Habe ich bei unserem neuen Japaner bestellt“, erklärte Franziska lächelnd. „Gewissermaßen als Belohnung für Deine unermüdliche Arbeit heute. Da wollten wir ja sowieso schon lange mal hingehen, nun testen wir seine Sushi eben zuhause.“
„Ach, und dabei wollte ich dich ganz schick zum Essen ausführen“, sagte Karl enttäuscht.
„Das kannst du bei Gelegenheit doch immer noch und ich freue mich schon drauf. Aber jetzt, wo du alles so schön weihnachtlich hergerichtet hast, wollte ich den Abend lieber hier verbringen. Komm’, setz’ dich. Lassen wir es uns schmecken. – Die Sushi waren vorzüglich, ebenso der Wein und später auch die Stimmung der beiden, als sie gemeinsam zu Bett gingen. Dieser Tag hatte viel verändert. Die Magie der Zweisamkeit war wieder da und das gesamte Wochenende war zauberhaft – nicht nur dank der Weihnachtsdeko.
Karl war mit sich übereingekommen, dass jetzt, kurz vor den Feiertagen, keine weltbewegenden Ereignisse in der Firma mehr anstehen und man getrost auch ohne sein Zutun auskommen würde. Also rief er kurzerhand den Arzt seines Vertrauens an – ein alter Schulfreund – und ließ sich bis nach den Feiertagen krankschreiben. Das war nicht in Ordnung und Karl war sich dessen auch bewusst. Dennoch weigerte er sich, ein schlechtes Gewissen zu haben. Sein Leben lang war er ein braver, gesetzestreuer Bürger, der stets seine Pflicht getan und sich immer dafür eingesetzt hat, dass es den Menschen um ihn herum gut ging. Jetzt machte er sich in gewisser Weise des Betrugs schuldig, aber das war es ihm wert, zugunsten der Zeit, die er damit für sich und Franziska gewinnen würde.
In die Stadt zu fahren, um dort Kultur und das schöne Leben zu genießen, was Karl eigentlich vorhatte, war zu riskant. Hätte man ihn dort im Theater oder im Konzerthaus gesehen, hätte seine Krankschreibung zu einem bösen Bumerang werden können. Also blieben sie zuhause und genossen die ungestörte Zeit miteinander, was Franziska sehr recht war.
Einen Tag vor Heiligabend allerdings ließ sie sich von Karl zu einem Spaziergang überreden. Er wollte ihr das Haus zeigen, wo das Christkind ihn hingeführt und er den Weihnachtsmann getroffen hatte. Warm angezogen spazierten sie gemächlich die Hauptstraße entlang, an der letzten Kreuzung vor Ortsausgang rechts, dann wieder rechts. Da war das Haus. Karl erkannte es sofort wieder. Aber es war in einem viel erbärmlicheren Zustand als damals und es war klar erkennbar, dass dort niemand wohnte. Tür und Fenster mit Brettern vernagelt, das Dach halb eingefallen, rundherum mit dichtem Gestrüpp umwuchert. Dieses Haus hatte schon seit sehr langer Zeit keine Menschenseele mehr betreten.
„Hier war es“, sagte Karl fassungslos vor der Ruine stehend. „Hierher hat mich das Mädchen, das Christkind, geführt und dort drin habe ich mit dem Weihnachtsmann Tee und einen Schnaps getrunken und geredet.“
Hilfesuchend sah er seine Frau an. „Das musst du mir glauben“, flehte er. „Ich bin doch nicht verrückt.“
„Nein, bist du nicht“, erwiderte Franziska sanft. „Komm, lass uns gehen. Heute hat der Weihnachtsmann jedenfalls keine Sprechstunde.“