Syrien – läuft alles nach Plan?
Von Peter Haisenko
Man hat sich geeinigt, sich nicht zu einigen und man könnte fast sagen: Mit Ansage. Außer England und Frankreich will kein europäisches Land Waffen an die Mörderbanden liefern, die Präsident Assad mit Gewalt stürzen wollen. Nur den ehemaligen Mitgliedern der Entente sind politische Ziele wichtiger als Menschenleben. Mit der versäumten Einigkeit ist der Weg frei, ab sofort Waffen nach Syrien zu liefern, ohne zu offensichtlich gegen EU-Beschlüsse zu verstoßen. Die eher lächerlichen Reisebeschränkungen für Mitglieder der syrischen Regierung bleiben weiterhin bestehen.
Die letzten Wochen brachten interessante Meldungen aus Syrien. Die UN-Kommissarin Carla del Ponte hat über den Einsatz von Chemiewaffen berichtet und diese Verbrechen klar den Gegnern der Assad-Regierung zugeordnet. In den Medien wurde diese Zuordnung schnell gestrichen, und man spricht nur noch allgemein vom Einsatz dieser schrecklichen Waffe. Nahe der syrischen Grenze wurden in der Türkei zwei Kilogramm Sarin in den Händen von Islamisten sichergestellt.
Die Gegner der Assad-Regierung mussten einige Städte räumen, weil ihnen Waffen und Munition ausgegangen sind. Die Menschen in diesen Städten können ein wenig aufatmen, und man sollte sich spätestens hier bewusst werden, dass jede Waffe, Patrone oder Sprengstoff, Menschen tötet, wenn sie nach Syrien geliefert wird. Egal, an wen. Für diejenigen Staaten, die ein Interesse daran haben, die Regierung Assad zu stürzen, kommt da das Ende des Embargos sehr gelegen. Die USA hatten sich an diesem Embargo sowieso nicht beteiligt.
Die Kultur der Toleranz hat Tradition in Syrien
Was hat Assad getan, dass einige Länder des Westens seinen Sturz unbedingt wollen? Ich kenne Syrien seit 1976 und habe das Land immer wieder bereist. Es ist ein Land scharfer Kontraste. Wüste und üppiges Grün. Überfluss und Armut. Christen und Muslime. Französisch angehauchter Charme und Beduinenzelte. Zeugnisse alter Kulturen und Hässlichkeiten in Beton. Über allem lag die jahrhundertealte Gewissheit, dass es keinen lebensbedrohenden Mangel gibt. Immerhin erstreckt sich das Land bis zur Bekaa-Ebene, und diese wird als die fruchtbarste Zone der Welt bezeichnet.
Schon der Vater Assad hat in Syrien einen Hort der religiösen Toleranz errichtet und damit die Tradition des Osmanischen Reichs fortgesetzt. Nach dessen Tod hat der Sohn Baschar al-Assad die Regierung übernommen – eher unwillig. Was für ein Mensch ist Baschar al-Assad? Sein Äußeres lässt ihn schwerlich zum Sympathieträger werden, obwohl er trotz seiner Größe von 1,89 Meter eher bescheiden auftritt. In einem Interview mit einer amerikanischen Journalistin hat Assad die Frage, warum er Augenarzt geworden ist, so beantwortet: In diesem Beruf kann ich den Menschen am meisten helfen, und es fließt dabei am wenigsten Blut. Darf man das glauben?
Wer nur die Meldungen der letzten zwei Jahre aus Syrien kennt, wird sich dabei schwer tun. Man muss genauer hinsehen und wird erstaunt sein. Während seiner Regierungszeit hat Assad seinem Land ein kostenfreies und vorbildliches Bildungssystem für alle eingerichtet. Seine Frau hat sich für zukunftsweisende Projekte im sozialen Bereich stark gemacht – und das erfolgreich und nachhaltig. In Syrien konnte man sehen, dass es sehr wohl möglich ist, alle möglichen Richtungen des Christentums und eine ebenso große Vielfalt des Islam friedlich in einem Land zu vereinen. Syrien ist traditionell ein laizistischer Staat – jedenfalls bislang.
Destabilisierung als politisches Kalkül
Syrien, so wie wir es heute kennen, ist ein junger Staat. Es ist ein Kunstgebilde der Engländer, das nach 1916 entstanden ist, nachdem das British Empire das Osmanische Reich zerschlagen hatte. Zunächst kurz unter französischer Verwaltung, wurde das gesamte Gebiet um Palästina dann komplett von England übernommen und schließlich so aufgeteilt, wie wir es heute kennen. Der Grundgedanke Englands dabei war, die Region so ungünstig aufzuteilen, dass niemals die Gefahr entstehen würde, dieser Teil Arabiens könnte sich zu einem Machtblock entwickeln. England hat auch hier gemäß seiner Maxime gehandelt, die auf seiner Flagge steht: Divide et impera – Teile und herrsche.
Nachdem Syrien sein Ziel aufgegeben hatte, Israel zu bekämpfen, nahm das Land eine rasante Entwicklung, die allerdings von der Berichterstattung des Westens nahezu vollständig ignoriert worden ist. Neben der kostenfreien Bildung für alle hat Assad eine Achtung-heischende Armee aufgebaut. Es war abzusehen, dass Syrien ein Macht- und Stabilitätsfaktor für die gesamte Region werden würde, der im Frieden mit seinen Nachbarn prosperiert. Am Rande weise ich darauf hin, dass es wiederum das British Empire war, das in den Jahren zwischen 1919 und 1948 alles getan hat, um den Hass zwischen Arabern/Syrern und Juden herzustellen. Man bedenke: Noch in den 1930er Jahren hatte die syrische Regierung um Zuwanderung von Juden gebeten.
Wie am Beispiel Irak erkennbar geworden ist, wollen die Öl-gierigen und -abhängigen Staaten des Westens eine eigenständig-unabhängig-stabile Entwicklung von Staaten in dieser Region nicht zulassen. Insbesondere diejenigen, die befürchten müssen, wegen ihrer katastrophalen Außenhandelsbilanz demnächst ihre Ölrechnungen nicht mehr bezahlen zu können.
Das programmierte Chaos im Nahen Osten
Lügen und Intrigen haben im Fall Irak dazu geführt, dass das Land auf unabsehbare Zeit im Chaos dahinvegetieren wird. Man mag von Saddam Hussein halten was man will, es wäre ihm weder gelungen, noch hätte er es gewollt, sein Volk im Millionenmaßstab umzubringen. Der Überfall der Amerikaner und Engländer hat das leicht geschafft und die Spätfolgen sind unabsehbar: Allein in der vergangenen Woche sind im Irak wieder etwa 300 Menschen bei Anschlägen ums Leben gekommen. Die UN und die Weltpresse sehen geflissentlich darüber hinweg, weder die USA, noch England werden dafür zur Verantwortung gezogen.
Libyen. Auch wer Gaddafi so wenig mochte wie ich, muss anerkennen, dass er Libyen stabil regiert und seinem Volk ein vorbildliches Bildungssystem verordnet hatte. Nach der Intervention durch NATO-Flugzeuge kann die Zahl der Leichen im Land nicht mehr gezählt werden. Es herrscht Chaos, und täglich sterben Menschen. Hoffnung gibt es nicht mehr. Dafür kommen nun bei uns Flüchtlinge aus Schwarzafrika an, die früher in Libyen als Gastarbeiter ihr Auskommen hatten und jetzt dem Chaos Richtung Norden entfliehen.
Und nun also Syrien. Die One-Man-Show „Syrische Opposition“, beheimatet in London, „berichtet“ von mittlerweile fast 100.000 Toten im Land. Wie auch immer diese Zahlen ermittelt werden konnten, bleibt fragwürdig. Eines aber verbindet alle Länder des Nahen und Mittleren Ostens: Die gestörte und uneigenständige Entwicklung der letzten hundert Jahre hat die gesamte Region von Grund auf instabil gemacht. Was im Irak unmöglich war, geht bei den anderen umso besser: Waffen in die falschen Hände, eine kampfbereite Söldnerschar und ein gezielter Funke – und schon explodiert das Ganze!
Man sollte schon mal kurz darüber nachdenken, wie es denn in Deutschland während der Zeit der RAF gewesen sein könnte, wenn die „Kämpfer“ der RAF so massiv mit Waffen und Logistik von einer Nation unterstützt worden wären, die eine andere Regierung in Deutschland gewollt hätte. Wenn die hier selbstverständlich Terroristen genannte außerparlamentarische Opposition (APO) sowohl durch die Medien als auch durch Ausbildung und Schutzräume eine ähnliche Unterstützung erfahren hätte, wie das in Syrien der Fall ist…! Das hält kein Staat aus, und es kann nur in einen Teufelskreis führen.
Gewalt erzeugt Gegengewalt – und viele Tote
Der angegriffene Staat muss Gewalt anwenden, und das erzeugt Gegengewalt. Die Bevölkerung wird polarisiert, gespalten. Es wird zunehmend schwieriger, zwischen Gut und Böse, zwischen Falsch und Richtig zu unterscheiden. Aber eines ist klar: Jede Waffe außerhalb der staatlichen Exekutive wird eine Vielzahl von Leichen produzieren – auf beiden Seiten. Und jede Leiche wird das Volk tiefer in die Spaltung treiben, bis eine Versöhnung nur noch für Heilige erreichbar sein kann. Besonders in einer Kultur, die noch Grundsätze wie ‚Auge um Auge’ lebendig hält.
Egal, wie man persönlich zu Assad stehen mag: Hätte man das Land in Ruhe gelassen, keine Waffen und Söldner geliefert – es hätte keine 100.000 Tote gegeben. Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen. Die Schäden an Bausubstanz und Infrastruktur liegen im hohen Milliardenbereich, ganz zu schweigen von der völlig kaputten Wirtschaft. Syrien ist jetzt – wie Irak und Libyen – auf unabsehbare Zeit aus dem „Gefahrenbereich“, ein stabiler Machtfaktor in der geschundenen Region zu werden. Dabei sollte man nie vergessen: Ein im „Namen der Freiheit“ Umgekommener ist dann vielleicht frei – aber er bleibt eine Leiche.
Wer zieht den Nutzen aus dem Chaos?
Will man bei allen diesen Vorgängen Licht ins Dunkel der Machtspiele bringen, muss die Frage gestellt werden: Wem nutzt es? Mal wieder zu offensichtlich könnte jetzt mit dem Finger auf Israel gezeigt werden. Da muss sofort dieselbe Frage nochmal gestellt werden: Und wem nutzt DAS? Israel will seine Grenzen gesichert sehen. Wie die letzten Jahrzehnte gezeigt haben, ist das am besten durch friedliche Kooperation mit stabilen Nachbarn zu erreichen: Jordanien, Syrien und Ägypten. Am Beispiel Ägypten zeigt sich am deutlichsten, was im Verhältnis zu Israel passiert, wenn ein solcher Staat destabilisiert wird. Israel kann es also nicht sein, denn es hat genug Ärger mit dem instabilen Libanon.
Wer hat also Interesse an einem radikalisierten und zerstörten Syrien? Es kann nur jemand sein, der größte Angst vor der eigenen Zukunft hat. Angst in dem Sinne, dass eigenständig stabile Länder entscheiden könnten, Öl nur noch gegen einen soliden Gegenwert zu liefern. Die Euro oder Waren haben wollen für ihr Öl, und grün bedrucktes Papier – US-Dollar – nicht mehr akzeptieren. Siehe Libyen, Irak und Iran. So wird klar ersichtlich, was mit Irak und Libyen passiert ist, und warum die USA im Camp Bondsteel im Kosovo Kämpfer ausgebildet haben, die in Syrien mordend und brandschatzend Terror verbreiten. Mit Waffen und Munition, die sie von den USA, England und ihren Vasallen der „Arabischen Liga“ zugeliefert bekommen. Die aktuelle Rolle Frankreichs erschließt sich mir nicht, aber Frankreich hat sich von der Diplomatie Englands ja auch schon früher in den Krieg ziehen lassen: gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg!
Mir tun die Bewohner Syriens unendlich leid. Ähnlich wie das ehemalige Jugoslawien, wird Syrien schwerlich wieder zur inneren Ruhe finden können. Millionen von Flüchtlingen werden ihre Heimat für immer verlassen, es wird Verfolgungen und Morde an ethnischen Gruppen geben, und Syrien wird ein Staat mehr sein, dem der Weg der Toleranz und Gemeinsamkeit auf unabsehbare Zeit verloren gegangen ist.
Auch im Fall Syrien steht fest: Die größte Schuld haben diejenigen Staaten auf sich geladen, die Waffen und Logistik an die Mörderbanden der „Rebellen“ geliefert und die Aufruhr und Desinformation gefördert haben. Die Folgen dafür müssen die unschuldigen Bewohner Syriens tragen, wahrend die Schuldigen wie üblich jede Verantwortung von sich weisen in der Gewissheit, dass die von ihnen gekauften Medien sie nicht an den Pranger stellen.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Russlands Lieferung von S-300-Flugabwehrraketen wird heftig kritisiert, steht aber auf einem ganz anderen Blatt. Diese Waffen können tatsächlich nicht unmittelbar gegen Menschen eingesetzt werden. Sie können aber verhindern, dass israelische, türkische oder NATO-Flugzeuge die Situation ausnutzen und völkerrechtswidrig in den syrischen Luftraum eindringen und ihr eigenes Süppchen kochen, indem sie beliebige Ziele in Syrien zerstören und Menschen umbringen. Die einzigen Menschen, die von den russischen Flugabwehrraketen bedroht werden, sind die Piloten der Kampfflugzeuge. Die russische S-300-Flugabwehrrakete ist eine reine Defensiv-Waffe.
Russland und China haben bezüglich Syrien bisher Schlimmstes verhindern können: Eine Zerbombung Syriens nach dem Muster von Libyen. Die letzte Hoffnung für die geschundene Zivilbevölkerung ist jetzt die von Russland initiierte Syrien-Konferenz in Genf. Ob das etwas bringt, ist allerdings äußerst fraglich, denn die zutiefst zerstrittenen „Rebellen“ haben ihre Teilnahme dort bereits im Vorfeld verweigert. Ich sehe eine letzte Hoffnung eher darin, dass Russland und China ihre schärfste Waffe ausspielen könnten: Ihre Dollarreserven. Besonders China kann die USA jederzeit in Armut und Bürgerkrieg stürzen, indem es seine Dollarreserven aggressiv in die Finanzmärkte wirft. Das dürfte denn auch der Grund sein, weshalb sich Barack Obama in Sachen Syrien so untypisch zurückhält.
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