------------------------------------

---------------------------------------

-------------------------------------

-------------------------------------

Unerwartete Einsichten bei Afghanistan-Dialog: Die Grenzen der deutsch-amerikanischen Freundschaft

Von Peter Haisenko

Anlässlich des afghanischen Neujahrsfests zum Jahr 1392 hatte das Afghanistan Komitee für Frieden, Wiederaufbau und Kultur e.V. zu einem Polit-Dialog zu „Grundlagen einer nachhaltigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Afghanistans nach 2014“ in das Kurt-Schumacher-Haus (SPD) im Berliner Wedding geladen. Drei bemerkenswerte Erkenntnisse durften die Teilnehmer am Ende mit nach Hause nehmen:

1. Seit 2004 hat sich die Lage in Afghanistan wesentlich verschlechtert, und die Zukunftsprognosen für das Land nach 2014 sind alles andere als rosig.

2. Auf dem Podium herrschte parteiübergreifend ein erstaunlicher Konsens darüber, was getan werden müsste, um Afghanistan vor einer Katastrophe zu bewahren.

3. Gewissermaßen als „Kollateralschaden“ der Veranstaltung bekannte ein Parlamentarier der FDP, dass es mit der deutsch-amerikanischen Freundschaft nicht weit her ist.

Dr. Kadar Wadan, Hans-Christian Ströbele, Dr. Angelika Claußen, Karl-Heinz Niedermeyer, Dr. Joachim Sproß

Zurück zum Ausgangspunkt. Angesichts der Besetzung des Podiums mit Hans-Christian Ströbele MdB - Bündnis 90/Die Grünen, Burkhardt Müller-Sönsken Mdb - FDP und Mitglied im Verteidigungsausschuss, Dr. Angelika Claußen IPPNW - International Physicians to Prevent Nuclear War, und der Afghanistankenner Dr. Joachim Sproß – Deutsch- Afganische FreundschaftGesellschaft e. V. sahen die meisten Zuhörer im vollbesetzten Saal einer kontroversen Diskussion entgegen. Doch wer Rabatz erwartet hatte, wurde enttäuscht.

Verhandlungen mit allen Interessengruppen

Unter der einfühlsamen Moderation von Karl-Heinz Niedermeyer (SPD) wurde vielmehr sehr bald ein erstaunlicher Konsens unter den Diskutanten erkennbar: Es ist allerhöchste Zeit, dass Gespräche über die Zukunft Afghanistans nicht länger nur mit der Zentralregierung in Kabul geführt werden dürfen. Vielmehr müssen dezentral die Warlords sowie die Vertreter der Taliban und anderer Interessengruppen in die Verhandlungen mit einbezogen werden, um ein völliges Auseinanderbrechen des Landes und womöglich einen neuen Bürgerkrieg nach Abzug der ISAF-Truppen in 2014 zu verhindern. Nur ein umfassender Dialog mit allen Beteiligten könne die verfahrene Situation noch retten und den holprigen Transitions-Prozess doch noch zu einem glücklichen Ende verhelfen.

Beeindruckend das Referat des ausgewiesenen Afghanistan-Kenners Dr. Joachim Sproß, der zwischen 2004 und 2012 mit Unterbrechungen insgesamt vier Jahre am Hindukusch gelebt und gearbeitet hat und aus einer Vielzahl persönlicher Eindrücke und Erlebnisse zu dem klaren Schluss kommen musste: Die Situation im Land hat sich in diesen acht Jahren auf allen Ebenen kontinuierlich verschlechtert. Die Korruption boomt ebenso wie das Drogengeschäft, die anfängliche Zuneigung und Offenheit gegenüber den deutschen Soldaten und zivilen Helfern sind einem tiefen Misstrauen und einer eher ablehnenden Haltung gewichen, und auch unter der einheimischen Bevölkerung gibt es kaum noch gegenseitiges Vertrauen. Die wirtschaftliche Situation des Landes ist katastrophal, und niemand hat bis heute ein tragfähiges Konzept vorgelegt, wie dieses geschundene Land aus eigener Kraft zu Wohlstand in Frieden und Freiheit gelangen soll.  

Die USA in Afghanistan und das Völkerrecht?  

Burkhardt Müller-Sönsken mit Dalai Lama, Foto: Wikipedia

Im Verlauf der Diskussion führte die Einschätzung des FDP-Abgeordneten Müller-Sönsken gewissermaßen zu einem „Kollateralschaden“ bei dieser Veranstaltung als er bemerkte, er beurteile einen Teil der Aktionen der USA in Afghanistan nicht nur als völkerrechtswidrig, sondern sogar als Verstoß gegen das Kriegsrecht. Erst die diesbezügliche Nachfrage aus dem Publikum führte dann zu einer erstaunlichen Offenbarung. Die Frage lautete: „Wenn Sie als Mitglied einer Regierungspartei und Mitglied des Verteidigungsausschusses Aktionen der USA als völker- und kriegsrechtliches Vergehen bezeichnen, warum erhebt die Bundesregierung dann nicht Anklage gegen die USA vor der UN oder dem Haager Landgericht?“

Nachdem sich Müller-Sönsken in seiner ersten Antwort in üblicher Politikermanier mit allgemeinen Floskeln um eine konkrete Antwort zu drücken versucht hatte, führte die Wiederholung der Frage zu einem bemerkenswerten Statement des FDP-Politikers: „ Weil wir uns nicht trauen!“ Diese Antwort ist so ungeheuerlich, dass sie am Ende der offenen Diskussion noch einmal von mir im persönlichen Gespräch nachgefragt werden musste. – Und sie wurde bestätigt!

Wie weit dürfen Freunde gehen?

Nicht nur im Zusammenhang mit Afghanistan geht die öffentliche Meinung davon aus, dass die USA und Deutschland Freunde sind. Wie kann es also sein, dass man sich unter Freunden nicht traut, seine Einschätzung zu gravierenden  Fehlverhalten des Freundes an geeigneter Stelle zu kritisieren und notfalls auch zur Anklage zu bringen? Wovor muss man sich derart fürchten, worin liegt die Gefahr, erkannte Fehlverhalten einer befreundeten Nation vor der Weltgemeinschaft offen zu diskutieren? Das sollte unter Freunden nicht nur gefahrlos möglich, sondern erwünscht sein, wenn man sich nicht der Komplizenschaft schuldig machen will?

Ich sehe nur eine mögliche Antwort: Die USA sind keine wirklichen Freunde Deutschlands, und auch Müller-Sönskens hat dieser Einschätzung im späteren persönlichen Gespräch nicht explizit widersprochen. Vielleicht bedarf es der schrecklichen Zustände und des Versagens der Interventionsmaßnahmen in Afghanistan, um den Menschen klar vor Augen zu halten, was Wolfgang Schäuble ausdrücken wollte, als er im November 2011 festgestellt hat: „Deutschland war seit dem Mai 1945 bis heute niemals mehr eine vollständig souveräne Nation.“ Ich füge an: Wie kann es sein, dass „befreundete“ Nationen nicht im Frieden miteinander leben, sondern lediglich im Zustand des Waffenstillstands? Fakt ist, Deutschland hat seit fast 70 Jahren keinen Friedensvertrag, weder mit den USA, noch mit Großbritannien. Solange das so ist, kann Deutschland weder national noch international seine Interessen vertreten, ohne Zustimmung der USA oder Großbritanniens.

Wann gibt es endlich einen Friedensvertrag?

Wie verträgt sich dieser Zustand mit einem vereinten Europa? Wie können Eurokrisen nachhaltig gelöst werden, wenn die größte und zentrale Wirtschaftsnation Europas nicht souverän Entscheidungen zum eigenen Wohl und dem Europas treffen kann? Wenn in Deutschland immer noch ein provisorisches Grundgesetz gilt und keine vom Volk abgesegnete Verfassung, obwohl uns diese 1990 versprochen worden ist, aber bis heute nicht einmal in Angriff genommen wurde?

Präsident Obama hat im November 2011 vor amerikanischen Truppen in Deutschland festgestellt: „Deutschland ist ein besetztes Land und wird das auch bleiben, bis 2099“. Wie soll Deutschland Afghanistan in seiner souveränen Entwicklung hilfreich zur Seite stehen, wenn wir uns selbst nicht „trauen“, für unser eigenes Land einen völkerrechtlich verbindlich souveränen Status herzustellen? Fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist es an der Zeit, Friedensverträge für Deutschland abzuschließen – mit allen Nationen. Nur dann kann sich niemand mehr damit herausreden, dass er sich nicht traut, Vergehen gegen das Völker- und Kriegsrecht einer befreundeten Nation anzuklagen. Eine echte Freundschaft muss das aushalten.

„Schwerter zu Pflugscharen“

Auch für Afghanistan ist festzustellen, dass dieses Land mit seiner alten Kultur und seiner Geschichte seit dem Überfall der Sowjetunion 1980 keine echte Souveränität mehr genießt. Unter diesem Aspekt gewinnt die traditionelle deutsch-afghanische Freundschaft noch mehr an Bedeutung. Beide Länder sollten mit Nachdruck auf ihre vollständige Souveränität hinarbeiten. Beide Länder sollten mit Nachdruck den auf der Afghanistan-Konferenz allseits ausgedrückten Wunsch verfolgen, dass das Geld, das für militärische Aktionen ausgegeben wird, in Zukunft sehr viel effektiver für rein zivile Hilfsprojekte eingesetzt werden sollte. So werden nicht noch mehr Leichen produziert, sondern echte Fortschritte für das geschundene Volk erreicht. Auch darüber herrschte im Kurt-Schumacher-Haus parteiübergreifend Konsens.

Bezüglich der Forderung nach Gesprächen mit allen Gruppierungen Afghanistans wurde abschließend festgestellt: Nachdem alles andere bis heute nicht zum Erfolg geführt hat – lasst uns wenigstens versuchen, diesen Weg zu beschreiten. Dem schließe ich mich vollumfänglich an.

Weitere detaillierte Informationen zur Lage in Afghanistan erfahren Sie in dem beeindruckenden Buch von Dr. Joachim Sproß: „Verteidigung am Hindukusch – Ein persönlicher Rückblick“. Anhand einer Fülle persönlicher Erlebnisse und Begegnungen macht der Autor deutlich, dass die Afghanen anders „ticken“ als wir Europäer, und Vorgehensweisen nach rein westlichen Maßstäben selten zum Erfolg führen. Versandkostenfrei zu beziehen beim AnderweltVerlag.

Beachten Sie bitte auch die Einschätzung der Lage in Afghanistan von Dr. Kader Wadan:

Verhindert den drohenden Bürgerkrieg nach 2014 in Afghanistan

Nach oben