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Kritik der „Story im Ersten“:

Antisemitismus heute – Wie judenfeindlich ist Deutschland?

Gesendet in der ARD am Montag, 28.10. 2013, 22:45 - 23:30 / Wiederholung: Bayerisches Fernsehen, Mittwoch, 08.01.2014, 21:00 bis 21:45 Uhr, www.youtube.com/watch

Von Jürgen Jung

Von einer mit Mitteln des öffentlich-rechtlichen Rundfunks realisierten „Dokumentation“ zu einem so wichtigen Thema darf man wohl erwarten, daß sie den Mindestansprüchen eines professionellen, eines redlichen Journalismus genügt. Aber statt seriöser Information und Analyse bekommt der Zuschauer mehr oder minder geschickte Manipulation serviert und fragt sich am Ende, wer hierzulande eigentlich kein Antisemit ist?

Zu Beginn des Films (fast eine Viertelstunde lang) wird der Antisemitismus der Rechten mit erschreckenden Details vorgestellt. Allerdings – so der Film – „kannten wir diesen AS bereits“. Wenn dem so ist, warum wird dann gerade dieser traditionellen Geisteskrankheit derart viel Raum (ja, auch zur Selbstdarstellung) eingeräumt. Auf eine wirklich relevante neue Tendenz in diesem rechten Sumpf, nämlich die zunehmende Israelfreundschaft aus einer anti-islamischen Motivation heraus und der freundliche Empfang, der ihren Protagonisten (Geert Wilders, Heinz-Christian Strache, neuerdings anscheinend auch Marine Le Pen ...) von Vertretern der israelischen Regierung bereitet wird, geht der Film dagegen überhaupt nicht ein.

Der Präsident des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, deutet zwar den größeren Zusammenhang von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus an, in den das antijüdische Ressentiment einzuordnen wäre, allein dieser richtige Ansatz bleibt leider folgenlos für die Argumentationslogik des Films. Es hätte zumindest erwähnt werden dürfen, daß xenophobe Einstellungen sich in unserer Gesellschaft mittlerweile vorwiegend gegen Moslems, gegen Araber, gegen Asylanten.... richten (siehe die „NSU“-Morde, die Angriffe auf Moscheen, Asylantenheime usw.).

Dieser Hinweis soll nicht missverstanden werden als Relativierung der Judenfeindschaft, die bei uns allerdings mitnichten – wie der Film alarmistisch behauptet – nennenswert zunimmt. (In Ländern wie Ungarn oder Frankreich mag dies anders sein.) Auch Vorfälle wie der brutale Überfall auf den Berliner Rabbiner Daniel Alter beweisen keineswegs das Gegenteil.

Die Doku dringt dann vom rechten Rand in „die Mitte der Gesellschaft“ vor, wo sich – so die Filmemacher - ein Antisemitismus „gebildeter Leute“ ausmachen lässt, deren Bildungsgrad sie keineswegs gegen rassistische Vorurteile immunisiere. Diese Abneigung gegen Juden wird von ihren Vertretern zumeist mit deren Erfolg im Geldgeschäft und der daraus resultierenden gesellschaftlich-politischen Macht gerechtfertigt (siehe dazu die Straßen-Interviews im Film).

Hier haben die Filmemacher die Chance versäumt, in einem selbstkritisch-aufklärenden Sinne auf die historischen Wurzeln dieses Phänomens im christlichen Anti-Judaismus – die Juden als „Mörder Jesu Christi“ – zumindest hinzuweisen. Das „christlich-abendländische“ Europa hat seine jüdische Minderheit geradezu abgedrängt in die Geldsphäre – brave Christenmenschen durften sich die Hände ja nicht schmutzig machen mit dem „schnöden Mammon“ –, wo sie dann logischerweise auch besonders erfolgreich wurde.

Das Übergehen dieses historisch-sozialen Zusammenhangs im gängigen Diskurs ist insofern geeignet, von unserer christlich-abendländischen Schuld am Phänomen der jüdischen Geldorientierung abzulenken mit der Folge, dass man sich bereits als Antisemit verurteilt sieht, wenn man den unbezweifelbaren Erfolg der Juden im Geldgeschäft auch nur erwähnt – was gewiss nicht zu einem Abbau des Antisemitismus beiträgt. (Nebenbei: der Hinweis auf die überproportional hohe Zahl jüdischer Nobelpreisträger wird schließlich auch nicht als antisemitisch verurteilt.)

Nur allzu verständlich übrigens, dass sich jüdische Deutsche, wie etwa die im Film vorgestellte Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde in Niedersachsen, zurückziehen von nicht-jüdischen Bekannten und Freunden, wenn sie sich immer wieder auf diese ihnen zugeschriebene Eigenart reduziert sehen und ihnen „Moralpredigten“ gehalten, gute Ratschläge erteilt werden, wie sie sich zu verhalten hätten, um nur ja keine antisemitischen Reaktionen hervorzurufen, und sie sich ständig einem diesbezüglichen Rechtfertigungszwang unterworfen sehen. Allerdings drängt sich die Frage auf, was für zweifelhafte Freunde sie sich da ausgesucht haben. 

Dass 16.5 % der Deutschen meinen, Juden hätten „zu viel Einfluss“, mag zwar im Einzelfall, muss aber nicht generell wie der Film nahelegt –, als Ausweis für Antisemitismus gelten, sondern ist angesichts von gerade einmal 0.2 % Juden in der Bevölkerung eher eine Tatsachenfeststellung. Und 16,5 Prozent – in vergleichbaren Ländern ist dieser Prozentsatz ähnlich hoch, wenn nicht höher - sind ja nun kein Grund zur Panik.

Durch die Lektüre der gründlichen Untersuchung zum überproportionalen Einfluss der Juden etwa auf die Nahost-Politik der USA von zwei renommierten konservativen amerikanischen Politologen (Walt/Mearsheimer, Die Israel-Lobby, 2007) hätten die Autoren des Films ein angemesseneres Problembewusstsein hinsichtlich des unverhältnismäßigen Einflusses der Israel-Lobby bekommen können, der sich allerdings auch deshalb so wirkmächtig zur Geltung bringen kann, weil die Interessen Israels mit den geopolitischen Interessen der USA im Nahen Osten bislang weitgehend identisch sind. Angesichts der deutschen Judenvernichtung dürfte mit thematisch ähnlichen Arbeiten hierzulande kaum zu rechnen sein.

Erschreckend unzulänglich wird die Doku da, wo sie sich an die Darstellung des angeblich „islamischen“ Antisemitismus macht. Dabei wird ausser Acht gelassen, dass es im arabisch-muslimischen Raum ursprünglich keine dem europäischen Antisemitismus vergleichbare rassistische Judenfeindschaft gab (siehe dazu die grundlegende Arbeit von Gilbert Achcar, Die Araber und der Holocaust, 2012). Die Palästinenser im Besonderen waren auch gänzlich unschuldig an der im fernen Europa geschehenen Judenverfolgung und -vernichtung, für die sie allerdings vom schuldbeladenen und -bewussten Westen zu zahlen gezwungen wurden – mit dem Verlust ihrer Heimat und ihrer Freiheit. Die Probleme in Palästina zwischen den europäischen Siedler-Kolonialisten und der indigenen Bevölkerung begannen überhaupt erst – so der jüdische Orientalist Maxime Rodinson – mit dem „zionistischen Herrschaftsanspruch“.

Den Filmemachern ist der Gedanke, den ein so integrer und als Politologe überdies sachkundiger Mann wie der Jude Alfred Grosser geäußert hat, nämlich dass der Antisemitismus durch die Politik Israels gefördert wird, offensichtlich fremd. Und die ersten und unmittelbaren Opfer dieser Politik, die Palästinenser – der Zeuge und Überlebende von Auschwitz, der italienische Schriftsteller Primo Levi bezeichnete sie als „die Juden der Israelis“ –, sehen sich seit annähernd einem Jahrhundert einer systematischen Enteignung und Vertreibung aus ihrem angestammten Land ausgesetzt. In der Wissenschaft und im Völkerrecht wird dies ethnische Säuberung genannt. Von daher entwickelten sie naturgemäß zunächst einmal eine starke Aversion gegen das zionistische Projekt – und eben nicht gegen „die Juden“. Dieser historisch plausible und von etlichen israelischen und nicht-israelischen Juden geteilte Antizionismus wird im Film weitgehend mit Antisemitismus gleichgesetzt.

Nun darf man, wenn man sich im Jahr 2013 mit diesem Thema befasst, nicht über die Ergebnisse hinweggehen, die die jüngste, gründlichste und methodisch anspruchsvollste „Studie zu Antisemitismus und Israelkritik“ der Universität Konstanz (Lehrstuhl Wilhelm Kempf) von 2012 erbrachte. Dazu gehört zum einen, dass die allerorten beklagte Zunahme des Antisemitismus sich nicht verifizieren ließ. Die Studie weist vor allem nach, dass es – anders als der Film nahelegt – einen einfachen linearen Zusammenhang von Antisemitismus und Antizionismus nicht gibt. Im Gegenteil: Die 15% der Befragten, die antizionistische Äußerungen für rechtfertigbar hielten, lehnten antisemitische Äußerungen kategorisch ab.

Dass sich die Grenzen zwischen Antizionismus und Antisemitismus aufgrund der konkreten Erfahrungen der Palästinenser mit dem zionistischen Siedlerkolonialismus im „Kampf um das Heilige Land“ – gerade auch wegen der von zionistischer Seite stets behaupteten Identität zwischen Zionismus bzw. Israel und Judentum – im arabischen Raum immer mehr verwischten, ist insofern nicht verwunderlich, wobei diese eher nicht-rassistische Form des Antisemitismus vor allem auf verschwörungstheoretische Vorstellungen von der Macht des „Weltjudentums“ rekurriert.

Der Auftritt des in Deutschland aufgewachsenen israelischen Armeesprechers Ari Shalika, der die Auffassung vertritt, der islamische Antisemitismus habe „nur begrenzt zu tun mit dem Nahen Osten“, ist in diesem Zusammenhang von geringem Erkenntniswert. Er folgert dies nämlich aus dem Umstand, dass sein „Kronzeuge“ schließlich ein Inder sei. Aber auch ein indischer oder indonesischer Moslem dürfte aus religiösen Gründen schlecht zu sprechen sein auf die zionistischen Unterdrücker der muslimischen Glaubensbrüder, auf die Besatzer der heiligen Stätten des Islams in Jerusalem.

Der palästinensisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour – immerhin Mitautor des Films – der „klare Aufrufe zur Gewalt“ beklagt und behauptet, der „Judenhass“ sei „alles, was die Menschen hier [auf den Demonstrationen gegen die israelische Politik] verbindet“, scheint sich dieser Zusammenhänge auch nicht wirklich bewusst. Sein sicherlich gut gemeinter Versuch, dem von ihm konstatierten „muslimischen Antisemitismus“ entgegenzuwirken (etwa durch seine Mitarbeit am „Projekt Hero“), in dem muslimische Jugendliche im Rollenspiel lernen, dass die von den Arabern in Palästina konkret als Täter erlebten Juden eigentlich die Opfer (des europäischen Antisemitismus) sind, wird dann problematisch, wenn u. a. die unbezweifelbare Tatsache der bis auf den heutigen Tag andauernden zionistisch-kolonialistischen Landnahme in ein von den Eltern vermitteltes „anti-jüdisches Vorurteil“ verkehrt wird.

Vor diesem Hintergrund ist auch das „Schwein“ in der Rock-Show von Roger Waters ganz gewiss nicht – wie der Film unterstellt – Ausdruck antisemitischer Gesinnung, sondern, wie „The Wall“ insgesamt, Symbol repressiver Verhältnisse und Ideologien. Neben dem hier skandalisierten Davidstern (den das grundsätzlich auf eine Politik der Gewalt setzende Israel für sich reklamiert) finden sich auf dem Ballon nämlich auch das christliche Kreuz, Hammer und Sichel, Firmenlogi wie Coca Cola, MacDonalds etc. Insofern ist die Unterstellung, „The Wall“ bediene antisemitische Klischees, schlicht unredlich.

Auf die in der Doku gestellte Frage „Wer liefert die Zutaten für dieses gefährliche Gemisch von alten judenfeindlichen Klischees, religiös geprägtem Antisemitismus und Nahost-Konflikt“ werden munter „Schuldige“ benannt: Neben Erziehung und Medien die angeblichen intellektuellen „Stichwortgeber“ (explizit Günter Grass und Jakob Augstein), die, „Sprache als manipulatives Instrument“ nutzend, „öffentlich aussprechen, was viele [heimliche Antisemiten] meinen“ – so der „Publizist“ Henryk M. Broder, der – man fasst es kaum – als „Experte“ vor die Kamera gebeten wird. Ausgerechnet Broder, der Großmeister der Demagogie, für dessen Auszeichnung mit dem Börne-Preis der schon erwähnte Alfred Grosser sich seinerzeit (2007) öffentlich schämte.

Und eben dieser Broder – eine Ungeheuerlichkeit! – darf Grass unwidersprochen des Antisemitismus bezichtigen, konkret: Der „Wiederbelebung des antisemitischen Klischees vom Juden als Kriegstreiber“, weil er sich in seinem Gedicht („Was gesagt werden muss“) darauf hinzuweisen gestattet hatte, dass der (auch atomar) hochgerüstete Staat Israel eine „Gefahr für den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ sei (was 1982 schon der UNO-Sicherheitsrat anlässlich der israelischen Bombardierung des irakischen Atomreaktors Osirak – sogar mit der Stimme der USA – festgestellt hat). Angesichts der seit ca. 20 Jahren wiederholten und in jüngster Zeit immer intensiveren (eindeutig völkerrechtswidrigen) Drohungen Israels mit einem Militärschlag gegen die lediglich – so Grass – „vermutete Atommacht“ Iran ist dies eine durchaus plausible Warnung. Vom „Experten“ Broder aber wird sie schlicht als „Unsinn“ abgetan, der bei den Leuten so ankomme – „wie Grass es gemeint hat – nämlich als Antisemitismus“!

Zum Konflikt um das Gedicht des Nobelpreisträgers hätten die Filmemacher auch die Stellungnahmen z. B. des israelischen Historikers und Soziologen Prof. Moshe Zuckermann von der Universität Tel Aviv zu Rate ziehen können, die wohl das Klügste waren, was dazu zu sagen war (s. Anhang). Warum hat man so ein intellektuelles Schwergewicht wie Zuckermann, der perfekt Deutsch spricht und den Diskurs in Deutschland genau kennt, nicht als Antipoden zu Broder eingeladen? Dann wäre der Film dem öffentlich-rechtlichen Anspruch auf „Ausgewogenheit“ vielleicht ein wenig näher gekommen.

Der „streitbare Journalist“ Broder darf dann auch überleiten zum angeblichen „Antisemitismus der Linken“ – der filmische Gipfel manipulativer Irreführung – mit seiner zynischen Bemerkung, er „bewundere das gute Gewissen der Linken, weil sie ja gegen den Imperialismus sind, für die Gleichheit der Völker und weil sie nichts dagegen haben, dass die Juden in die Synagoge gehen“.

Der im Film zitierte Jakob Augstein hat es gewagt, Gaza mit „einem Gefängnis, einem Lager“ zu vergleichen – womit er sich prompt als Antisemit entpuppt hat, denn Vergleiche von Israelis und Nazis sind ja angeblich von vornherein antisemitisch. Da spielt es auch keine Rolle, dass es im Gazastreifen, aufgrund der israelischen Blockade – eine eindeutig völkerrechtswidrige Kollektivstrafe – nur noch sporadisch Strom und sauberes Trinkwasser und keine angemessene medizinische Versorgung mehr gibt. Die Abwasser-Pumpen sind auch nicht mehr zu betreiben, so dass die Abwässer, wie jüngst erst, unkontrolliert Wohngebiete überschwemmen. Die UNO sagt voraus, dass der Streifen in 5 Jahren nicht mehr bewohnbar sein wird, sollte der israelische Würgegriff nicht beendet werden. Man lese die in unseren Medien weitgehend ignorierten erschütternden jährlichen Berichte v. a. israelischer Menschenrechtsorganisationen sowie der UNO. Die Autoren hätten – so informiert – vielleicht verstanden, was „die Linken“ motiviert, sich für Gerechtigkeit in Palästina einzusetzen.

Stellt sich überdies die Frage, wieso „eine der größten Gestalten des Judentums in den letzten Generationen“ – so der damalige israelische Staatspräsident Ezer Weizmann –, wieso der israelische Religionsphilosoph Yeshayahu Leibowitz die israelischen Besatzungssoldaten als „Judennazis“ bezeichnete und bereits 1968 voraussah, dass Israel sich zu einem „korrupten kolonialistischen Geheimdienststaat“ entwickeln werde. 45 Jahre später bestätigt der ehemalige Chef des Inlandsgeheimdienstes (von 2005-2011), Yuval Diskin – also ganz gewiss kein „linker Spinner“ –, diese Voraussage Wort für Wort: „Die Lage, in der wir uns gegenüber den Palästinensern befinden, hat zweifellos Zustände erzeugt, die dem ähneln, was Yeshayahu Leibowitz prophezeiht hat.“ (So im israelischen, von der ARD mitfinanzierten Dokumentarfilm „Töte zuerst“ von 2013). Im gleichen Film sagt Avraham Shalom, Shin-Bet-Chef von 1980-86, das israelische Militär sei „eine grausame Besatzungsarmee, die an die Deutschen im 2. Weltkrieg erinnert ...Ich meine, wie sie sich gegenüber den Polen, Belgiern und Holländern verhalten haben, gegenüber den Tschechen. Das ist ein sehr negativer Charakterzug, den wir da übernommen haben, als wir ... grausam wurden gegenüber uns selbst, besonders aber gegenüber der Bevölkerung, über die wir herrschen. Und das alles unter dem Vorwand (!) des Krieges gegen den Terror.“

Nicht gänzlich abwegig also, wenn 40 % der Deutschen, wie die Doku berichtet, die Aussage bejahen: „Israel behandelt die Palästinenser im Prinzip so wie die Nationalsozialisten die Juden.“

Wenn man die Logik der „Dokumentation“ ernst nehmen wollte, dann wären die zuvor genannten Säulen des israelischen Sicherheitsapparats üble Antisemiten, bzw. „jüdische Selbsthasser“ – absurd und bezeichnend für das dürftige argumentative Niveau der Sendung.

Auf der anderen Seite erlaubt es sich der Film, seinerseits die (vorwiegend linken) Vertreter der BDS-Kampagne (Boycott, Desinvestment, Sanctions) ungeniert in die Nähe der Nazis zu rücken, weil sie u. a. zu einem Boykott israelischer Waren aufrufen. Zur Erinnerung: der rassistische deutsche Staat wollte die wirtschaftliche Existenz seiner jüdischen Bürger vernichten („Kauft nicht bei Juden!“), während die Befürworter der BDS-Kampagne – orientiert am Kampf gegen das damalige Apartheid-Regime Südafrikas – versuchen, den israelischen Staat mit ihrem Boykott, also mit ausdrücklich und ausschließlich friedlichen Mitteln, zur Einhaltung von Menschen- und Völkerrecht, sprich zu einem Ende der brutalen Besatzung zu bewegen.

Die in der EU diskutierte und auch von der im Film befragten Abgeordneten Kerstin Müller (stellvertretend für die Grünen) befürwortete Kennzeichnung israelischer Waren, die in den völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen hergestellt werden, als „Siedlungsprodukte“ soll dem Konsumenten eine bewußte Kaufentscheidung ermöglichen: Will ich die Besatzung unterstützen oder eben nicht?

Auch die EU-Kommission hat in ihren am 19.7.2013 erlassenen Leitlinien jegliche Kooperation mit diesen Siedlungen nunmehr ausgeschlossen. Selbst die deutsche Regierung ist mittlerweile bemüht, eine entsprechende Territorialklausel für ihre zukünftige Kooperation mit Israel durchzusetzen.

Der Film aber entblödet sich nicht, diesen Teil mit der scheinheiligen Frage abzuschließen: „Verbraucherschutz als politische Waffe oder doch Antisemitismus?“ Drängt sich die Frage an die Filmemacher auf: „Seriöse Aufklärung oder doch manipulative Irreführung?“

Einen weiteren beliebten Antisemitismus-„Nachweis“ lässt der Film Dieter Graumann vom Zentralrat der Juden vortragen, nämlich dass Israel „allein an den Pranger gestellt“ werde: „Wenn für Juden, für Israel andere Maßstäbe gelten als für den Rest der Welt, ist das Antisemitismus“. Nun gelten für die Politik Israels in der Tat – anders allerdings als Graumann meint – andere Maßstäbe als für den Rest der Staatenwelt: Es genießt faktisch Straffreiheit, darf etwa systematisch die Menschenrechte und alle UNO-Resulutionen ignorieren, eine völkerrechtswidrige Besatzung Tag für Tag sanktionslos ausweiten, die 1,7 Millionen Bewohner des Gazastreifens durch eine rigide, gleichfalls völkerrechtswidrige Blockade nahezu erdrosseln, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Laut Film haben 38 % der Deutschen Verständnis dafür, dass man – aufgrund der Politik, die Israel betreibt – , „etwas gegen Juden hat“. Das ist nicht sonderlich überraschend angesichts der auch von Graumann (s. o.) vorgenommenen, durchaus nicht selbstverständlichen (und keineswegs von allen Juden geteilten) Gleichsetzung von Juden und zionistischem Israel, das behauptet, im Namen und im Interesse der Juden weltweit zu sprechen und zu handeln. Solange sich diese nicht von der Politik Israels distanzieren, müssen sie es sich wohl oder übel gefallen lassen, mit ihr identifiziert zu werden.

Die zahlreichen israelkritischen Stimmen von Juden in- und außerhalb Israels kommen in dieser höchst einseitigen „Dokumentation“ überhaupt nicht zu Gehör – ein grober journalistisch-handwerklicher Fehler. Man hätte z. B. neben Alfred Grosser den Lübecker Psychologen Prof. Rolf Verleger von der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ zum Gespräch bitten können, einen gläubigen Juden, dem es ein Anliegen ist, „dem durch Israels Politik anwachsenden Groll gegen Juden entgegenzuwirken“. 

Israel wird von den Linken – so hören wir im Film – „als Apartheid-Staat diffamiert“. Auch dies sei – wer hätte das gedacht – Ausdruck ihrer antisemitischen Gesinnung. Das Völkerrecht definiert Apartheid als systematische und institutionalisierte Herrschaft einer ethnisch-religiösen Gruppe über eine andere, was auf Israel bei genauerem Hinsehen zweifelsfrei zutrifft. Auch die international renommierte Professorin für Komparatistik und Linguistik an der Hebräischen Universität (in Jerusalem), Nurit Peled-Elhanan, bezeichnet Israel als „ein System der Apartheid“. Es lasse sich „eine durchgängige kolonialistische Haltung“ feststellen. „Die Judaisierungs-Ideologie geht mit der Forderung der Ent-Arabisierung des Landes einher ... Rassismus und Militarismus beherrschen hier alles.....Israel nähert sich dem Faschismus in einer Geschwindigkeit, die sich niemand vorstellen konnte.“ Nurit Peled-Elhanan ist übrigens Trägerin des Sacharow-Preises für geistige Freiheit des Europa-Parlaments.

Statt sich mit derartigen Einschätzungen auseinanderzusetzen, darf die im Film befragte deutsche Antisemitismus-Forscherin Monika Schwarz-Friesel ihr Wunschbild von Israel zeichnen: „In Israel gibt es keine Vergewaltigung von Frauen, werden die Menschenrechte beachtet, gibt es eine freie Presse, Meinungsfreiheit. Deswegen liegt hier eine ganz schiefe Argumentationslage vor.“

Abgesehen davon, daß Demokratie und Meinungsfreiheit ethnokratisch in erster Linie für Juden gelten – mittlerweile ist gar das öffentliche Gedenken der Nakba (arabisch für „Katastrophe“) von 1948 unter Strafe gestellt –, wie mag die Berliner Professorin wohl die „Argumentationslage“ des Aufrufs „an Juden in aller Welt“ qualifizieren („Wenn Ihr Euch Sorgen um Israel macht, dann solltet ihr nicht länger schweigen!“ – siehe Anhang), den im Mai 2013 Hunderte von nahmhaften jüdischen Israelis (darunter etliche Israel-Preisträger, Jerusalem-Ehrenbürger, Alon-Preisträger...) unterschrieben haben. Darin wird Israel aufgefordert, „ zu den friedlichen, moralischen, demokratischen und humanistischen Werten, die uns lieb und wert sind, zurückzukehren..... Die andauernde Besatzung des Westjordanlands und die Expansion der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten verletzen die elementaren Menschen- und kollektiven Rechte der Palästinenser und reißen das moralische Gefüge der israelischen Gesellschaft auseinander.....Was auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als die Zukunft des Staates Israel, der israelischen Gesellschaft und des jüdischen Volkes..... Dies ist ein ultimativer Ausdruck unserer Sorge und Liebe zu Israel. Wir müssen alle Teil der gemeinsamen Anstrengungen sein, Israel vor den nationalistischen, antidemokratischen und fremdenfeindlichen Strömungen zu retten, die es jetzt noch fest im Griff halten.“ 

Der Film aber kommt zu dem nicht mehr sonderlich überraschenden Schluss: „So ist Israelkritik die moderne Möglichkeit, wie sich Judenfeindlichkeit neue Wege bahnen kann.“

Nach dem gleichfalls vor die Kamera gebetenen Prof. Andreas Zick „glauben die meisten Menschen [in Deutschland], dass man einen Schlussstrich ziehen sollte, weil man die Schande [des Holocaust] loswerden will.“ Dies mag für etliche Zeitgenossen zutreffen, wobei es allerdings auch durchaus ehrenwerte Gründe für die Ablehnung der ritualisierten öffentlichen Dauerbeschwörung des Holocaust geben kann, etwa dessen Banalisierung durch eine vielfach in Routine erstarrte „Gedenkkultur“. Gerade die in dieser „Dokumentation“ so gescholtenen „Linken“ sind es, die einen Schlussstrich unter die Vergangenheit entschieden ablehnen. Menschen- und völkerrechts-rechtsorientiert beharren sie aber darauf, dass die Lehre aus der deutschen Geschichte keine partikularistische sein kann – „Das darf den Juden nie wieder passieren“ – sondern allein die universalistische: „So etwas darf niemandem jemals wieder passieren“.

Fazit: Der Film leistet dem Kampf gegen den Antisemitismus, falls dies je seine Intention gewesen sein sollte, einen Bärendienst. Für das selektive Vorgehen, die Auslassung wesentlicher zum Verständnis erforderlicher Zusammenhänge, das unverhältnismäßige Aufblasen anderer, die Unterstellung, dass der Antisemitismus überall auf dem Vormarsch sei, die einseitige Auswahl der befragten „Experten“ sowie für die durchgängige begriffliche Ungenauigkeit verdient dieses journalistische Machwerk, das ziemlich genau die angekränkelte deutsche „Befindlichkeit“ reproduziert und damit verfestigt, nur das Pradikat: ungenügend!

Warum wird so ein Film, der bei der Analyse dieses so wichtigen Sachverhalts offensichtlich kläglich versagt, in der ARD ausgestrahlt und in den dritten Programmen, z. B im Bayerischen Fernsehen, auch noch wiederholt?

Eine mögliche Antwort findet sich bei dem erwähnten Moshe Zuckermann. Er sieht – ähnlich wie die Unterzeichner des oben zitierten Aufrufs – in der inflationären Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs, derer sich auch der Film befleißigt, ein Herrschaftsinstrument zur Abwehr berechtigter Israel-Kritik.


Redaktion: Eckhard Lenner

SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel e.V. www.salamshalom-ev.de 
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