Europa am Scheideweg
Von Peter Haisenko
Achtzig Prozent derjenigen, die den ZDF-Wahlomat benutzt haben, wissen es: Nach Abfragen der Parteiprogramme hätten sie die LINKE wählen müssen. Wiederum achtzig Prozent davon haben es nicht getan. Das meistgehörte Argument lautet: Wenn die erstmal dran sind, dann tun sie doch etwas ganz anderes, als sie uns jetzt versprechen. Dann kam die Griechen-Wahl.
Die Griechen sind nach fünf gescheiterten konservativen Regierungen und deren Armutsprogrammen nur noch verzweifelt. Sie haben das getan, was der ZDF-Wahlomat auch unseren Wählern empfohlen hat: Sie haben die linksgerichtete Syriza gewählt. Deren Chef Tsipras hat sofort Maßstäbe gesetzt, die in Europa beispiellos sind. Innerhalb von drei Tagen stand die Koalition und die neue Regierung war im Amt. Die europäischen Politsaurier waren alarmiert, besonders die deutschen.
Die soziale Schere öffnet sich immer weiter
Was sagen uns die – natürlich nicht veröffentlichten – Ergebnisse des ZDF-Wahlomaten und die Wahl in Griechenland? Die Europäer sind den Turbokapitalismus leid. Sie wollen eine Wirtschaftsordnung, die zurückkehrt zur Sozialen Marktwirtschaft, die besonders Deutschland zu großem allgemeinem Wohlstand verholfen hat. Dafür sind die Bürger des ehemaligen Ostblocks auf die Straße gegangen – und sie sind betrogen worden. Weder Lech Walesa mit der Solidarnosc noch die Bürger der DDR oder auch die Russen haben ihren Kampf gegen das System geführt mit dem Ziel, sich dem Diktat des Kapitals zu unterwerfen. Mit dem Fall der Sowjetunion, dem Sieg des Kapitalismus, verschwand die Pflicht des Kapitalismus zu beweisen, dass er das bessere System für das Wohlergehen der Menschen ist. Er konnte fortan seine hässliche Fratze ungeniert zeigen, den Turbokapitalismus.
Seit 1990 müssen wir einen steten Abbau von Sozialstandards beobachten. Die soziale Schere öffnet sich weiter und weiter. Die Globalisierung hat einen Wettbewerb nach unten eingeläutet, der auch innereuropäisch wirksam wird. Arbeitnehmer werden zu Zugeständnissen erpresst mit der Drohung, in billigere Länder auszuweichen. Der zweifellos große technische Fortschritt der letzten 25 Jahre kommt beim “kleinen Mann” nicht an. Im Gegenteil können zu viele nicht mehr von nur einem Arbeitsplatz leben. Man könnte es als den Witz des Jahrhunderts bezeichnen, wenn in einer der reichsten Industrienationen – Deutschland – ein Mindestlohn per Gesetz verordnet werden muss. All das wollen die Bürger nicht.
Die alten Methoden sind nicht zielführend
Tsipras hat seinen Griechen versprochen, einen neuen Weg zu gehen. Dafür hat er ein eindeutiges Mandat erhalten. Nun könnte man sagen, dass es doch vernünftig wäre, wenn dieses kleine Griechenland gleichsam als Versuchslabor verwendet wird, um zu überprüfen, ob es nicht bessere Wege gibt, als die erfolglose Armutspolitik. Eine Vielzahl renommierter Wirtschaftswissenschaftler sind zumindest der Überzeugung, dass die alten Methoden nicht zielführend sind. Ein vernünftiges Vorgehen seitens Brüssel wäre gewesen, den Griechen einige Jahre Zeit zu geben, die Funktionsfähigkeit ihres neuen Weges nachzuweisen. Man hätte für diesen Versuch Griechenland für diese Zeit von allen Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen freistellen müssen, damit der Versuch – frei von Altlasten – eine Chance auf Erfolg haben kann. Doch genau das darf nicht sein.
Vom ersten Tag an nach dem Wahlsieg der Syriza war es das Ziel der Politsaurier, diese Regierung zum Scheitern zu bringen. Dazu hat unser Schäuble solchen Unsinn von sich gegeben, dass die neue griechische Regierung ihr Vertrauen verspielt hat. Wie kann jemand Vertrauen verspielen, dem von Anfang keines entgegengebracht worden ist? Oder das: Verträge müssen eingehalten werden! Wer hat denn als Erster europäische Verträge gebrochen? Wer hat denn als Erster die Stabilitätskriterien verletzt? Was will Herr Schäuble denn tun, wenn die Zinsen auf deutsche Staatsanleihen in die Höhe schießen? Will er uns Deutschen dann auch ein Armutsprogramm verordnen? Eines müsste selbst dem Juristen Schäuble klar sein: Kein einziges Land wird jemals seine Schulden tilgen können. Niemals in der Geschichte hat ein Land seine Schulden getilgt. Die Reparationszahlungen Deutschlands stehen hier auf einem anderen Blatt.
Politsaurier wollen den Erfolg der Griechen nicht
Was wäre denn die Folge, wenn der neue Weg Griechenlands erfolgreich ist? Alle, ausnahmslos alle konservativen Regierungen Europas würden abgewählt. Die Bürger, die Wähler müssten erkennen, dass sie seit Jahrzehnten mit einer falschen Politik Opfer einer globalen Kleptokratie geworden sind, die die Armen ärmer und die Reichen reicher macht. Dass es eben keineswegs “alternativlos” war, was uns die Politiker zugemutet haben. Hier ist der Grund zu sehen, warum unsere Politsaurier mit allen Mitteln daran arbeiten, die neue griechische Regierung zum Scheitern zu bringen. Dazu nochmals ein Schäuble-Zitat: “Man muss naiv sein zu glauben, dass Wahlversprechen eingehalten werden”. Tsipras jedenfalls hatte die Absicht, seine Wahlversprechen einzuhalten. Brüssel hat das verhindert mit dem Ziel, die Wähler in ihrer Auffassung zu bestätigen, dass “die” (Linken) etwas ganz anderes machen, wenn sie erstmal an der Macht sind. So soll verhindert werden, dass als nächstes Spanien eine Regierung wählt, die sich ebenfalls nicht mehr dem Finanzdiktat unterwerfen will.
Voller Einsatz der Finanzwaffe
Warum hat man uns die Verhandlungspositionen vorenthalten? Die von Brüssel und auch die griechischen Pläne. Man hätte erkennen können, wie frech wir angelogen werden. Äußerst großzügige Angebote von Brüssel an Griechenland? Glatte Lüge! Brüssel unter dem Kommando von Schäuble hat sich nicht einen Millimeter auf griechische Vorschläge zubewegt. Das jetzige Ergebnis spricht doch Bände hierzu. Tsipras sah sich einer harten Front der Politsaurier gegenüber, die mit diktatorischem Gebaren einem Land vorschreiben wollen, wie es seinen Weg zu gehen hat. Kriegsschiffe sind nicht entsandt worden, aber die Finanzwaffe kam voll zur Anwendung, bis Tsipras nicht mehr anders konnte, als sich zu beugen und so seine Wahlversprechen zu brechen. Was zu beweisen war....
Selbst jetzt, nachdem Tsipras einknicken musste, muss man einem Herrn Altmaier zuhören, wie er sagt, dass er nicht daran glaube, dass Tsipras seine Versprechen einhalten wird – jene, die er Brüssel geben musste. Fünf Jahre lang hat keine der fünf griechischen Regierungen seine Versprechen eingehalten. Aber sie haben das System nicht infrage gestellt. Deswegen sind die Parteifreunde der Konservativen nicht an den Pranger gestellt worden. Sie waren keine Gefahr für das Kleptokratensystem. Die Griechen haben die alte Politik abgewählt, weil sie einen Neuanfang wagen wollen. Dieser beinhaltet selbstverständlich einen weitreichenden Mentalitätswechsel, vor allem was das alte System der Vetternwirtschaft anbelangt. Die jungen Wähler der Syriza wollen genau das erreichen. Dafür braucht es Zeit und die wird nicht gestattet.
Die Bürger haben den Turbokapitalismus satt
Zurück zum ZDF-Wahlomat. Eine billigere Methode, herauszufinden wie die Bürger denken gibt es nicht. Das Ergebnis war eindeutig: Wir wollen zurück zur Sozialen Marktwirtschaft. Die Alarmglocken aller kapitalhörigen Politiker haben angeschlagen. Spätestens jetzt wissen sie, dass sie eine Politik machen, die nicht von einer Mehrheit getragen wird. Das gilt für ganz Europa. Und genauso wissen sie, dass ihre Tage im Amt gezählt sind, sobald es einem Land gelingt, sich aus dem Würgegriff des Kapitals zu befreien. Das ist der wahre Grund, warum die neue griechische Regierung zum Scheitern gebracht werden muss.
Soziale Standards und die Soziale Marktwirtschaft entsprechen einer langen europäischen Tradition. Ausgenommen davon ist Großbritannien, das Mutterland des Kapitalismus. Europa ist mit diesem Kurs gut gefahren, bis eben 1990. Allerdings muss man auch sehen, dass die Soziale Marktwirtschaft das Macht- und Ausbeutungsstreben des Kapitals stark eingeschränkt hat. Das entsprach dem Willen der Bürger. Was wir in den letzten 25 Jahren erleben müssen, ist die stückweise Demontage aller Sozialstandards, zugunsten der Gewinngier des angelsächsischen Kapitals. Politiker machen keine Politik mehr, sie reagieren auf die Vorgaben der Finanzgewaltigen. Sie lassen sich erpressen mit Argumenten, das Kapital würde ein strenger reguliertes Land verlassen. Das mag stimmen, hat aber mit Demokratie gar nichts mehr zu tun. Zudem sollte die lapidare Frage gestellt werden: Na und?
Wem schulden die Staaten eigentlich all ihre Schulden?
Kein Land kann (auf Dauer) vom Kapital leben. Der Reichtum eines Landes wird bestimmt von der Arbeitskraft seiner Bürger und deren Erfindungsreichtum. Betrachten wir dazu die Schulden Griechenlands. Sie sind irgendwo verbucht im Finanznirwana. Wir konnten beobachten, dass nichts, rein gar nichts passiert ist, als die griechischen Schulden umgeschuldet, gestreckt oder geschnitten worden sind. Wem schulden eigentlich die Griechen das Geld? Oder wir? Wenn die Griechen Schulden zurückzahlen sollten – was sie nicht können – bekommt dann der deutsche Steuerzahler dieses Geld? Wenn deutsche Schulden getilgt würden, bekommen dann die Griechen etwas davon? Oder die Franzosen, oder sonst ein Steuerzahler? Oder sogar der deutsche Steuerzahler? Sicher nicht! Wem also schulden wir das ganze Geld?
Auch Herr Schäuble wird diese Frage nicht beantworten können. Schon gar nicht die Frage, in wessen Taschen eventuelle Schuldentilgungen fließen werden. Eines aber ist klar: Kein normaler Bürger wird etwas davon abbekommen, wenn ein Staat Schulden tilgen sollte. Alle Staaten haben Schulden. Sie schulden sich aber gegenseitig nichts, wenn man von Bürgschaften für andere Staaten absieht. Aber auch das sind imaginäre Vorgänge, die nur mit Umbuchungstricks zu tun haben. Die EZB kauft Staatsanleihen auf, Staatsschulden also. Das tut sie mit Geld, das es nicht gibt. Sie kreiert es aus dem Nichts. Die EZB gehört den Euro-Staaten. Vereinfacht betrachtet, kaufen also die Staaten ihre eigenen Schulden auf. Daraus folgt der absurde Zustand, dass die EZB Zinsen kassiert von ihren Eigentümern für Staatsanleihen, die die EZB mit Geld aus dem Nichts gekauft hat, mit Genehmigung der Eigentümer selbst. Es ist ein Finanzkarussell, bei dem einem nur noch schwindlig werden kann, das aber jeder Logik widerspricht. Vergessen wir nicht: Die “Regeln” für den Umgang mit Geld haben keinerlei naturgegebene Grundlage. Sie werden weitgehend willkürlich festgelegt und zwar von denen, die es haben und den höchsten Profit damit erzielen wollen.
Spanien-Wahl kann zur Nagelprobe werden
Die nächste große Wahl wird im Herbst in Spanien stattfinden. Man darf gespannt sein, ob sich die Spanier von der Erpressung Griechenlands abschrecken lassen und der linksgerichteten Podemos keine Mehrheit geben. Wenn aber doch, dann wird es eng. Mit dem großen Spanien kann nicht so einfach umgesprungen werden, wie mit dem kleinen Griechenland. Das wird bereits daran erkennbar, dass dem bislang “linientreuen” Spanien ein Haushaltsdefizit von sechs Prozent genehmigt worden ist und zeitgleich von Griechenland verlangt wird, einen Überschuss zu produzieren. Man fürchtet offensichtlich, dass noch härtere Auflagen für Spanien einen ähnlichen Erdrutschsieg der linken Podemos bewirken könnte.
Die europäischen Finanzminister haben sich nicht konstruktiv an der Lösung der Probleme Griechenlands beteiligt. Mit einem fröhlichen, aber diktatorischen und unsinnigen “Weiter so” versuchen sie ihre eigene Haut zu retten. Um das Projekt Europa voranzubringen, müssten sie sich mit der Schuldenproblematik ganz Europas befassen und nach konstruktiven Lösungen suchen, die nicht im monatlichen Rhythmus nach neuen Schuldengipfeln verlangen. Nur so ist das europäische Projekt zu retten. Aber was kann man von Finanzministern erwarten, die Juristen sind und von Finanzen eigentlich nichts verstehen, geschweige denn von Mathematik und Infinitesimalrechnung. Man kann nur hoffen, dass die Spanien-Wahl den nächsten Weckruf bringt. Früher war nicht alles besser, die Soziale Marktwirtschaft schon, und die wollen die Bürger Europas zurück haben.
Noch ein Wort zu den “faulen Griechen”. Wer hat es noch nicht beobachten können: Ein deutsches Lokal funktioniert auch nach dem fünften deutschen Wirt nicht. Dann kommt ein Grieche und fortan floriert das Lokal. Europa lebt von der Vielfalt. Jedes Volk hat seine Stärken und Schwächen. Die Stärken müssen gefördert werden. Es kann nicht zielführend sein, wenn ein Land, das größte, den Anspruch erhebt, allen anderen aufzudrücken wie man leben soll. Viele Wege führen nach Rom und nur die Zeit kann zeigen, welcher der beste sein könnte.
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Wilfried Schuler hat zum Thema eine Glosse verfasst: Genialer Gedanke: Soli für Griechenland!