In Memoriam Sarajewo: Belgrad setzt Mördern Denkmäler
Von Wolfgang Effenberger
Zum 101. Jahrestag der Ermordung des österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand und seiner Ehefrau Fürstin Sophie von Hohenberg ehrt Belgrad den serbisch-bosnischen Oberrealschüler Gavrilo Princip und setzt dem Attentäter mit einer zwei Meter hohen Bronzestatue in der Belgrader Innenstadt ein Denkmal – welch eine Verhöhnung der Opfer!
Um etwas Licht in das extrem düstere Kapitel der europäischen Geschichte zu bringen, ist es erforderlich, einige wesentlichen Eckpunkte jener komplexen und latent gefährlichen Gemengelage auf dem Balkan zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwas näher zu betrachten: Großmachtstreben, wechselvolle Bündnispolitik, perfide Geheimdienst-Aktivitäten, traditionell verfeindete Ethnien und Glaubensgemeinschaften, Nibelungentreue… Wer sich der Mühe dieses kleinen historischen Rekurses unterzieht, wird schnell erkennen, wie unhaltbar die Mähr von der deutschen Alleinschuld am Ersten Weltkrieg ist, und dass die eigentlichen Strippenzieher ganz woanders saßen.
Das „Pulverfass Europa“ war zum Bersten gefüllt
Die beiden Schüsse Princips, am Jahrestag der 525sten Wiederkehr der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) und in der aufgeheizten Atmosphäre der beiden Balkankriege abgegeben, hallten in der ganzen Welt wider. Gavrilo Princip hatte die Lunte an das von vielen anderen bereits aufgefüllte "Pulverfass Europa" gelegt. Die beiden Geschosse beendeten zunächst augenblicklich das Leben des Thronfolgerpaares. Damit waren auch die Pläne Franz Ferdinands für eine vielversprechende Neuordnung der K.u.K.-Monarchie gestorben.
Franz Ferdinand vertrat die Idee des "Trialismus". Neben den deutschen und ungarischen Reichsteilen sollte auch ein bosnischer – also ein südslawischer Reichsteil – entstehen.
Warum ein bosnischer Reichsteil? Im Sommer 1875 erhoben sich die Balkanvölker gegen die türkische Herrschaft. Russland, dass sich als Schutzmacht der orthodoxen Christenheit verstand, erklärte den Türken den Krieg, der im März 1878 erfolgreich beendet werden konnte. Im Berliner Vertrag von 1878 – Bismarck erwarb sich hier den Namen eines „ehrlichen Maklers“ – wurde die Unabhängigkeit von Rumänien, Serbien und Montenegro anerkannt. Österreich wurde von den europäischen Großmächten – ähnlich dem Vorgang später im Kosovo (hier war es die EU/USA) – mit der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas beauftragt.
Serbien hatte die Finger mit im Spiel
Der Machtzuwachs Österreichs wurde von den Slawen argwöhnisch beäugt. Die Panslawisten wollten einen südslawischen Teil innerhalb der K.u.K.-Monarchie unbedingt verhindern. Einige Südslawen jedoch favorisierten Franz Ferdinands Lösung. So machte die bosnisch-muslimische Bevölkerung in Sarajewo Serbien für den Doppelmord verantwortlich und zerstörte in ihrer Wut serbische Einrichtungen. Bis heute ist für Slowenen, Kroaten und die bosnischen Muslime Serbien die größte Bedrohung. Diese Völker lebten bis 1918 in der Habsburger Monarchie und sollten von den Serben „befreit“ werden. Was folgte, war jedoch die Unterdrückung in einem südslawischen Staat namens Jugoslawien. Das Ergebnis war der Krieg 1991 bis 1995, mit dem die Serben das Auseinanderfallen ihres Herrschaftsgebiets verhindern wollten.
Franz Ferdinand war nicht das einzige Opfer
Auch die Weltpresse war empört über das Attentat von Sarajewo und stellte sich auf die Seite Habsburgs. In Serbien hingegen verherrlichten die Zeitungen den Mord. (1) In dieser Lage versicherte Kaiser Wilhelm II. Wien die "unbedingte Bündnistreue". Damit handelte er zwar vertragskonform, (2) gab aber ein gefährliches Zeichen. (3) Die europäische Öffentlichkeit reagierte 1914 ähnlich schockiert wie die Weltöffentlichkeit später beim Anschlag von 9/11. Fast alle Kabinette waren der einheitlichen Auffassung, dass Serbien der K.u.K.-Monarchie Genugtuung schuldig sei, denn eine zumindest indirekte Verantwortung der serbischen Regierung für das Attentat schien durch deren Duldung eines ganzen Netzes großserbischer Geheimorganisationen außer Frage zu stehen.
Über die Hintergründe des Attentats brachte am 29. Juni 1914 die in London erscheinende liberale Daily Chronicle eine beachtenswerte Analyse: „Der Erzherzog [Franz Ferdinand, W.E.] bildete zweifellos das ernsteste Problem für den russischen Ehrgeiz in Südost-Europa. Er war bereits sehr einflussreich, er war … sicherlich ein willensstarker Mann und ein Mann mit klaren Zielen, und es ist ein widerliches Faktum in Russlands äußerer Politik… , dass fast jeder Mensch, der im Balkan in moderner Zeit Russlands Gegner war, durch Mörderhand gefallen ist. Die Ermordung des letzten Königs von Serbien, … die Entführung des Fürsten Alexander von Bulgarien, der ermordet worden wäre, wenn er nicht abgedankt hätte, alles das sind nur die bemerkenswerten Fälle einer schrecklichen Liste, von der wie wir fürchten, auch die Sarajevoer Tragödie nicht völlig zu trennen ist.“ (4)
Die Motive für das Attentat sind immer noch umstritten
Dem Attentat vom 28. Juni waren in den Jahren zuvor weitere Anschläge vorausgegangen – der letzte fand am 20. Mai 1914 statt. Die österreichischen Behörden waren gewarnt. Doch die jungen Terroristen entgingen allen Kontrollen. Gavrilo Princip und seine Freunde waren als Oberrealschüler für den österreichischen Geheimdienst noch unbeschriebene Blätter. Bis heute sind die Motive für die Anschlagsserie und die Ermordung des Erzherzogs und seiner Gemahlin nicht hinreichend geklärt. Es ist verständlich, dass Serbien nahestehende Geschichtsforscher – wie der historisierende Philosoph Karl-Heinz Deschner und dessen Mitautor Milan Petrovic – als führende Köpfe für Vorbereitung und Abwicklung des Mordplanes nur die serbischen Geheimdienstoffiziere Oberst Dragutin Dimitrijevic-Apis und den Major Vojislav Tankosic sehen wollen. (5) Und Historiker mit besonderem Gespür für "Political Correctness" lassen bis heute gerade einmal die Mitglieder der serbischen Geheim-Organisation "Crna Ruka" (Schwarze Hand) als Drahtzieher des Komplotts gelten. (6)
So scheint es sich – oberflächlich besehen – um ein sinnloses Verbrechen zu handeln. Seinem Wesen und den explosiven Zeitumständen nach war es ein politischer Schachzug, der über Serbien hinaus Zustimmung erfahren haben muss. Fakt ist die Verwicklung des damaligen serbischen Ministerpräsidenten Nikola Pašic in den Anschlag. Die Version der Alleinschuld des Geheimdienstes lässt sich in keiner Weise aufrechterhalten.
Ministerpräsident lässt Waffen an Schüler austeilen
Im Wiener Heeresgeschichtlichen Museum befindet sich ein aufschlussreiches Beweisdokument. Neben anderen Requisiten dieses Terroranschlags liegt in einer Glasvitrine eine Anfang Juni 1914 von Nikola Pašic handschriftlich verfertigte Anweisung aus. Auf informellem Papier wurden der Pašic-Vertraute General Jankovi, der Major Tankosi sowie der Narodna Odbrana-Resident Boda Milanovi angewiesen, den Schülern Waffen und Munition auszuhändigen:
Offizieller Übersetzungstext der Pašic-Anweisung: „2 Schüler des Ober-Realgymnasiums Triša des Mladen.....6 Bomben, 4 Revolver von der Narodna Odbrana dem Jankovi dem Boda Milanovi und dem Tankosi, Vertrauensmann des zweiten, und dieser des dritten, in Trnovo, in Priboj, in Tuzla, in Sarajewo“. ( 7)
Gegenüber dem früheren serbischen Geschäftsträger in Berlin, Mosil Boghitschewitsch bekannte sich Ministerpräsident Nikola Pašic dazu, dass er, um Bosnien und die Herzegowina zu erwerben, es schon im ersten Balkankrieg auf den europäischen Krieg hätte ankommen lassen. Er habe aber zunächst den Besitz Mazedoniens für Serbien sichern wollen, „um dann erst zur Erwerbung Bosniens und der Herzegowina schreiten zu können“. (8)
Russland erfüllt seine „slawische Pflicht“
Es lässt sich zweifelsfrei nachweisen, dass die Außenpolitik von Pašić und seiner Radikalen Partei darauf abzielte, bei einer künftigen Aufteilung Österreich-Ungarns die südslawischen Gebiete der K.u.K.-Monarchie zu beerben. Am 2. Februar 1914 berichtete Pašić seinem König von seiner Audienz beim Zaren. Er habe Russland im Namen des serbischen Volkes dafür gedankt, dass es während der ganzen Zeit der Balkankrise Wache stand und auf „diese Weise die Einmischung Österreichs in den Balkankrieg verhinderte.“ (9) Darauf habe der Zar geantwortet, „dass Russland nur seine slawische Pflicht erfüllt habe, wenn es seine Armee an der österreichischen Grenze aufmarschieren ließ, denn es wollte nicht zugeben, dass Österreich die Befreiung der Balkanstaaten verhindere.“ (10)
Strebte Oberst Dimitrijewitsch ein Großserbien an, wollte der gebürtige Bulgaro-Macedonier Pašić Serbien zum Zentrum der jugoslawischen Einigung machen. Durch die siegreichen Balkankriege und dank einer unverhüllten Unterstützung der Entente schien nun für die serbischen Chauvinisten der Traum vom Großreich in greifbarer Nähe. (11) Seine Verwirklichung war aber nur mit der Rückendeckung Russlands möglich. Konnte ein so kleines Land wie Serbien Petersburg vor vollendete Tatsachen stellen? Wusste die Regierung in Petersburg vom Attentat, billigte sie es oder gab es sogar aktive Unterstützung? Oder waren nur die national-chauvinistischen russischen Kreise der "Schwarzen Hundert" eingeweiht?
Großserbische Phantasien
Allein die Wahl des symbolträchtigen 28. Juni – 1914 jährte sich der Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) zum 525sten Mal – spricht für die Absicht der Drahtzieher, tief in der Seele der Serben zu rühren. Diese Schlacht, die als Symbol der Aufopferung für die christlichen Werte und des Kampfes gegen die osmanischen Fremdherrscher in die serbische Geschichte und Mythologie einging, fand am Gedenk- und Feiertag des heiligen Sankt Veit statt, der für die Serben als Vidovdan eine besondere Bedeutung hat.
Für die großserbischen Phantasien hatten der serbische Chef der Nachrichtenabteilung des Generalstabs, Oberst Dragutin Dimitrijevic-Apis und dessen Major Vojislav Tankosic – beide Mitglieder der serbischen Organisation "Schwarze Hand" – über Monate einen großen Schlag geplant und eine Menschheitskatastrophe billigend in Kauf genommen. (12) Dem analytisch denkenden und patriotisch fühlenden Dimitrijevic war bewusst, dass eine überzogene serbische Provokation Österreichs unweigerlich Krieg mit dem Nachbarn und im Fall einer Niederlage das Ende der großserbischen Träume bedeuten würde. Dieses Risiko wäre Dimitrijevic auf keinen Fall eingegangen – es müssen also noch weit höhere Interessen im Spiel gewesen sein. Besonders aufschlussreich ist ein Passus im Geständnis des Obersten Dragutin Dimitrijevic-Apis: „Bevor ich den endgültigen Entschluss fasste, dass das Attentat verübt werden sollte, holte ich von Oberst Artamanow ein Gutachten ein (was Russland tun würde), falls Österreich uns (Serbien) angriffe.“ (13)
Führende Politiker waren in das Komplott eingeweiht
Neben Pašic sollen nach Aussagen des serbischen Geheimdienstchefs auch der serbische Thronfolger Alexander sowie der russische Gesandte in Belgrad, Nikola von Hartwig, von dem Komplott gewusst haben. (14) Schirmherr des Terroranschlags soll der russische Militärattaché, Oberst Victor Alexejewitsch Artamanow (1873-1942) gewesen sein, der schon früh dem Chef des serbischen Geheimdienstes anvertraut hatte: "Macht vorwärts. Wenn ihr angegriffen werdet, seid ihr nicht alleine." (15)
Der Schutz galt auch schon die Jahre zuvor. Von 1911 an war die Serie von Krisen kaum mehr abgerissen: Zwischenfälle in Nordafrika sowie zwei Balkankriege. Russland mit dem Drang zum Mittelmeer, Frankreichs Revanchegedanken für die Schmach von 1871 und ein England, das der deutschen kulturellen und wirtschaftlichen Prosperität gerne einen Dämpfer gegeben hätte. (16) Am 29. Mai 1914 berichtete "Colonel" Edward House, Präsident Wilsons Berater und Amerikas Graue Eminenz hinter dem anglo-amerikanischen imperialen Bündnis, seinem Präsidenten aus seiner Dienstreise nach Europa: „Wenn immer England zustimmt, werden Frankreich und Russland in Deutschland und Österreich eindringen“. (17)
Oberst Artamanow soll durch eine fingierte Meldung vom bevorstehenden österreichisch-ungarischen Einmarsch den serbischen Geheimdienst zum Handeln veranlasst haben. Ab 1915 war Artamanow als Generalmajor im russischen Generalstab tätig, um sich nach der Oktoberrevolution der serbischen Armee anzuschließen. Ab 1920 diente der ehemalige russische Militärattaché als General in der jugoslawischen Armee.
Das Ende der „Schwarzen Hand“
1916, mitten im Ersten Weltkrieg, musste die serbische Armee unter dem Druck der Mittelmächte ausweichen. Sie schlug sich zur Adriaküste durch, wobei sich Teile auf die Insel Korfu retten konnten. (18) Hier residierte die serbische Exilregierung. Angesichts des wenig aussichtsreichen Kampfes an der alliierten Saloniki-Front schien es 1916 angebracht, über einen Separatfrieden mit Österreich nachzudenken. Dazu mussten aber die Urheber des Attentats von Sarajewo eliminiert werden, damit die serbische Regierung von Österreich nicht mehr mit den Vorgängen in Sarajewo in Verbindung gebracht werden konnte. Die "Schwarze Hand" musste zerschlagen werden! Am 10. September 1916 sollen zwei Gewehrschüsse auf das mit dem serbischen Prinzregenten Alexander Karageorgewitsch von der Front kommende Auto abgegeben worden sein. Als sich herausstellte, dass an diesem Tag gar kein Frontbesuch stattgefunden hatte, telegraphierte Pašić dem Innenminister Ljuba Jovanowitsch nach Saloniki: „Setzen Sie als Datum des Attentats den 11. September fest.“ (19)
Nun setzte eine Verhaftungswelle ein. Die ganze Organisation der "Schwarzen Hand" wurde zerschlagen, ihre Führer des Hochverrats angeklagt. Die nicht zur "Radikalen Partei" von Pašić gehörenden Mitglieder wurden ihrer Stellung enthoben, pensioniert oder nach Bizerta verschleppt, eine Hafenstadt am Mittelmeer im nördlichen Tunesien. Im dortigen französischen Konzentrationslager wurden sie dann als "Boches" empfangen. Diejenigen Mitglieder der "Schwarzen Hand", die zugleich auch Mitglied von Pašić´s Partei waren, wurden in ihren hohen Stellungen belassen. Dimitrijević und seine engen Mitverschwörer wurden unter dem Vorwand verhaftet, die Ermordung des Prinzregenten Alexander Karadjordjević geplant zu haben.
Hinrichtungen nach dem „Saloniki-Prozess“
Es kam zu einem Hochverratsprozess in Thessaloniki vor einem serbischen Militärgericht. Dieser sogenannte "Saloniki-Prozess" dürfte einer der dunkelsten Punkte im Leben des Ministerpräsidenten Nikola Pašić und im Wirken der Dynastie Karageorgewitsch gewesen sein – hatte doch Geheimdienstchef Dimitrijević-Apis die Dynastie 1903 auf den Thron gebracht. Ab 1911 führte Apis die "Schwarze Hand" unbeugsam und mit dem alleinigen Ziel: "Großserbien". Das brachte ihm Popularität und bedeutsamen Einfluss auf die Innen- und Personalpolitik Serbiens. Einem von Pašić favorisierten Vielvölkerstaat der "Südslawen" stand er dagegen ablehnend gegenüber.
Hatte Apis vor, die Regierung Nikola Pašićs gegenüber den Alliierten zu desavouieren oder gar Pašić die Stellung streitig zu machen? Für den machthungrigen Regierungschef war vermutlich klar, dass sich kaum eine bessere Gelegenheit bieten würde, den ehemaligen Mitstreiter loszuwerden.
Neben Major Vulović (Major Tankosic war im Krieg gefallen) kannte nur noch Apis die genauen Umstände des Attentats von Sarajewo samt allen Verstrickungen des ehrbaren Staatsmannes Nicola Pašić und der russischen Botschaft.
Apis war für Regierung und Dynastie ein Unsicherheitsfaktor geworden, so dass der serbische Regierungschef ihn auch im Hinblick auf eine mögliche Annäherung an Österreich liquidieren musste.
Also wurde Apis zusammen mit weiteren acht von elf angeklagten Offizieren am 5. Juni 1917 wegen Hochverrats zum Tod verurteilt. Während die fünf nicht direkt an der Organisation des Attentats von Sarajewo beteiligten Offiziere vom König begnadigt wurden, mussten Apis, der Artillerie-Major Velimir Vulović und Wachtmeister Radeta Malobabić am 26. Juni 1917 sterben.
Vor der Urteilsverlesung sagte Apis sarkastisch zu dem Kriegsgerichtsrat Ljubomir Dabitsch: „Verstehst du, was man mir angetan? Ich versichere dir, dass ich unschuldig bin.“ (20) Apis gab zu, nach dem formalen Gesetz schuldig zu sein. Die Beziehungen zwischen dem Prinzregenten, der Regierung und ihm seien durch seine Schuld stark angespannt worden: „... darum ist es nötig, dass ich verschwinde.“ (21) Hatte Apis in der aussichtslosen Situation Friedensfühler nach Österreich-Ungarn ausgestreckt?
36 Jahre später: Bewusste Justizmorde wurde zugegeben
Am Tag nach der Hinrichtung unterzeichnete der serbische Ministerpräsident Pašić gemeinsam mit dem kroatischen Politiker Ante Trumbić die sogenannte Deklaration von Korfu. Darin wurde als Ziel ein Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen als konstitutionelle Monarchie unter der serbischen Dynastie Karađorđević formuliert. Trumbić hatte 1915 im Pariser Exil das "Jugoslawische Komitee" – eine Vereinigung von südslawischen Politikern aus der K.u.K.-Monarchie – gegründet mit dem Ziel, einen südslawischen Staat zu schaffen. (22) Diese südslawische Einheitsidee entstammte dem „Geiste des Kompromisses zwischen den großserbischen, zentralistischen und annexionistischen Bestrebungen der Radikalen Partei von Nicola Pašic – mit starkem Rückhalt im Offizierskorps und auch am Hofe in Belgrad – und den mehr auf einen föderativen Ausgleich zwischen den verschiedenen Landesteilen bedachten Vorstellungen der habsburgischen Südslawen“. (23) 1953 wurde auf Anordnung des legendären jugoslawischen Minister- und Staatspräsidenten (von 1945 bis 1980) Josip Broz Tito, der mit eiserner Hand Jugoslawien einte, die Wiederaufnahme des berühmten Saloniki-Prozesses vom Obersten Gerichtshof vorgenommen.
Fast auf den Tag genau 36 Jahre nach der Hinrichtung von Apis und zwei seiner Mitangeklagten sprach der jugoslawische Oberste Gerichtshof sämtliche Angeklagten frei. Zwei Belastungszeugen beeideten vor Gericht, 1917 durch Todesdrohungen zu falschen Aussagen erpresst worden zu sein. Offensichtlich ging es 1917 ausschließlich darum, den Einfluss des gefährlichen Geheimdienstchefs auf die Innenpolitik zu stoppen und die Regierung vor Enthüllungen im Sarajewo-Komplott zu bewahren. Im Verfahren wurden die Opfer von 1917 voll rehabilitiert und es wurde festgehalten, dass die damaligen Hinrichtungen bewusste Justizmorde waren – was die Geschichtsforschung schon immer vermutet hatte. Daneben wurde aber die vielleicht noch wichtigere historische Tatsache dokumentiert, nämlich dass der amtierende Chef einer serbischen Behörde für den Thronfolgermord in Sarajewo verantwortlich war. Dazu wurde im Belgrader Wiederaufnahmeverfahren ein Bericht von Apis´ eigener Hand vorgelesen und als Sensation in der jugoslawischen Presse im Faksimile reproduziert. Darin bekennt Apis, dass er in der Funktion des serbischen Geheimdienstchefs den Mord von Sarajewo angeordnet und durch seine Agenten hat ausführen lassen. Definitiv habe er sich dazu erst entschlossen, als ihm Artamanow seine Überzeugung vermittelt hatte, dass Russland Serbien im Falle eines österreichischen Angriffs nicht ohne Hilfe lassen werde. (24)
Geheimdienstchef Apis hatte den Mord angeordnet
Im Saloniki-Prozess wurden die Hintergründe des Attentats von Sarajewo vollkommen ausgeklammert, hatte doch die serbische Regierung damit nichts zu tun. Apis soll während der Untersuchungshaft sein Ehrenwort gegeben haben, in dieser schwierigen Lage die serbische Regierung und sein Vaterland nicht durch Aufhellung der Hintergründe des Attentats von Sarajewo zu belasten.
1953 wurden alle angeblichen Verschwörer als unschuldig rehabilitiert, weil ihre Beteiligung am Attentat von 1916, bzw. das Attentat selbst nicht nachgewiesen werden konnte. (25)
So ist dieser Freispruch zugleich eine furchtbare Anklage gegen Pašić.
Im gleichen Jahr, als die Opfer des Justizmordes von 1917 rehabilitiert wurden, begannen in Belgrad die Bauarbeiten für die Umgestaltung des Terazije-Platzes in den "Marx und Engels-Platz" zu Ehren der beiden kommunistischen Ideologen. Als die kommunistische Ideologie an Zugkraft verloren hatte und in Belgrad wieder Politiker regierten, die, wie seinerzeit Pašic, zum Westen enge Kontakte unterhalten, dachte man in Belgrad wieder über Namensänderungen von Straßen und Plätzen nach. 1998 wurde auf dem Platz eine überlebensgroße Statue des als Justizmörder überführten Nikola Pašić errichtet und der Platz nach ihm benannt (Trg Nikole Pašića).
Der Erste Weltkrieg wurde minutiös von den Briten geplant
In seinem SZ-Kommentar „Denkmal für Gavrilo Princip“ (26) kommt Hubert Wetzel zu dem Schluss, dass Princip an den Millionen Toten des Ersten Weltkriegs wenig Schuld trägt. „Dieser Krieg wurde von vielen anderen Männern in Europas Hauptstädten betrieben“, so Wetzel, der sich dann aber zur Aussage versteigt: „Einer der fleißigsten dabei war Kaiser Wilhelm II.“ Hier outet sich Wetzel als Anhänger von Friedrich Fischers These von Deutschlands Hauptschuld. Fischer hat nur einseitig deutsche Dokumente nach Belegen durchsucht, aus denen der deutsche Kriegswille herauszulesen ist. Hätte Fischer mit gleicher Akribie in allen Hauptstädten (Petersburg, Paris, London und auch Washington!) geforscht, hätte er herausgefunden, dass die wahren Drahtzieher – damals wie heute – aus dem Umfeld der Finanzelite und der Rüstungsindustrie kommen, der sogenannten "Merchants of Death" 27).
Nach dem verlustreichen und desaströsen Burenkrieg schuf Premier Balfour das „Committee of Imperial Defence“ (CID), um künftig derartige Fehlentwicklungen auszuschließen. Ab 1907 beschäftigte sich das CID ausschließlich mit dem Krieg gegen das wirtschaftlich aufstrebende Deutschland. Als zentrale Maßnahmen wurden geplant
a) ein Expeditionskorps für Frankreich/Belgien,
b) die schnelle Einbeziehung des Commonwealth und
c) eine See-Blockade gegen Deutschland, die nachhaltig die deutsche Wirtschaft treffen sollte.
Zwei Mitglieder der Marineabteilung des CID haben zu Punkt c) eindeutig Zeugnis abgelegt: Maurice Hankey in ‘The Supreme Command’ (28) und A.C. Bell in ‘A History of the Blockade of Germany’ (29). Und sogar der britische Marinehistoriker, Marinestratege und offizieller Historiker der Royal Navy, Sir Julian Corbett, stellt dazu unumwunden fest: Der Erste Weltkrieg wurde von Hankey und seinen Mitarbeitern innerhalb der britischen Regierung mit "einer geordneten Vollständigkeit im Detail, die keine Parallele in unserer Geschichte hat", (30) geplant. Bezeichnenderweise fehlen alle drei Autoren im Index von Christopher Clarks "Schlafwandlern" – Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Princips Idealismus wurde von Rattenfängern missbraucht
Zurück zu Pašić und Princip – die beide in der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts nur eine unbedeutende Rolle gespielt haben. Der fanatische Extremist Princip kann für sich nicht in Anspruch nehmen, ein Tyrannenmörder zu sein. Der Ermordete war es nicht und erst recht nicht seine Frau. Es ging nur um ein terroristisches Fanal und nicht um die direkte Beendigung einer Tyrannei. So war es nur schlicht ein politischer Mord, den man jedoch nicht feige nennen kann. Der "Idealismus" von Princip und seinen Mitattentätern wurde von skrupellosen Rattenfängern für deren schmutzige Politik missbraucht – wie heute bei den jungen Dschihadisten. Welchen Impuls erhalten heute die verführten Extremisten durch ein derartiges Denkmal? Ein Mahnmal über Missbrauch und Verführung junger, idealistisch gesinnter Menschen wäre angebracht gewesen, aber kein heroisches Denkmal! Das bekennt sich zu Terrorismus und Krieg als Mittel der Politik– wie es in Serbien ja auch noch in den 1990er-Jahren beobachtet werden konnte.
Aber nicht nur Princip, sondern alle Serben sind seit 1914 für die Ziele anderer eingespannt worden. Nachdem Pašić´s Träume von einem südslawischen Vielvölkerstaat 1917 mit Hilfe Großbritanniens in Erfüllung gegangen sind, hat Serbien nach knapp 100 Jahren alles verloren. In Dayton legten die USA 1995 – nur wenige Monate nach Srebrenica – Restjugoslawien/Serbien die ersten Fesseln an, um es 1999 dann 78 Tage lang intensiv zu bombardieren. Entgegen der UN-Resolution 1244 folgte die Abtrennung des Kosovo – einschließlich des geschichtsträchtigen Amselfeldes.
Bleibt nur zu hoffen, dass sich an diesem unglücklichen Denkmal für Princip nicht weiter die Gemüter in und außerhalb Serbiens erhitzen – denn es sind immer nur einige wenige, die für solche Entscheidungen verantwortlich sind.
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Anmerkungen
1) Gebhardt, Bruno (Hg.): Handbuch der deutschen Geschichte, Stuttgart 1973, Band 4/I, Seite 42
2) Schultze-Rhonhof, Gerd: Der Krieg der viele Väter hatte, München 2003, S. 42
3) Ebenso wie 87 Jahre später Bundeskanzler Schröder mit seiner »uneingeschränkten Solidarität« nach den Terroranschlägen auf New York und Washington.
4) Zitiert in der Wiener Zeitung Nr. 149, vom Dienstag, den 30. Juni 1914
5) Deschner/Petrovic, Krieg der Religionen, München 1999, S. 145
6) Z. Bsp. Professor Dr. Ulrich Lappenküper (Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh) in seinem am 28. Juni 2013 (!) „Nibelungentreue versus Bündnisfreiheit. Deutsche Außenpolitik 1871-1914 auf einer Expertentagung in Wildbad-Kreuth.
7) Der undatierte Zettel mit eigenhändiger Notiz des serbischen Ministerpräsidenten Nikola Pašic wurde wahrscheinlich zwischen 2. und 13. Juni 1914 niedergeschrieben.
8) Boghitschewitsch, Kriegsursachen, S. 65
9) Boghitschewitsch, Die Auswärtige Politik Serbiens, Band I, S. 414
10) Ebenda
11) Vgl. Würthle, Die Spur führt nach Belgrad, 1975
12) Vgl. Max von Montgelas in der „Kriegsschuldfrage“, Oktober 1923, S.79 ff.; Siehe auch Stanojewitsch, Die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand, 1923.
13) Würthle, Dokumente zum Sarajevoprozeß, 1978, S. 124
14) Boghitschewitsch,Milos (Hg): Die auswärtige Politik Serbiens 1903–1914, Band II, Berlin 1931,Seite 201 sowie Würthle, Friedrich: Die Spur führt nach Belgrad, Wien 1975, Seiten 198, 214
15) Stoyan Gavrilovic, «New Evidence on the Sarajevo Assassination», The Journal of Modern History, Bd. 27, Heft 4 (Dez. 1955), S. 410 – 413
16) Quigley, Carroll: Tragedy and Hope , New York 1965, S. 221
17) Owen, Robert: The Russian Imperial Conspiracy, o.O. 1927, S. 15.
18) Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer, München 1988, S. 187.
19) Boghitschewitsch, Milos: Mord und Justizmord, Süddeutsche Monatshefte, Heft 5, 26. Jahrgang, München Februar 1929, S. 363
20) Ebd., S. 369
21) Ebd., S. 370
22) Nach dem Ende des ersten Weltkriegs wurde der jugoslawische Staat als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet und vereinigte Serbien, Montenegro mit Gebieten der atomisierten Habsburgermonarchie: Kroatien-Slawonien, Vojvodina, Dalmatien, Krain und Südsteiermark sowie Bosnien-Herzegowina. Nach Serbien (Srba), Kroatien ( Hrvata) und Slowenien (Slovenaca), wurde das Gebilde auch SHS-Staat genannt.
23) Hösch, Geschichte der Balkanländer, 1988, S.192
24) W. Fredericia: Das Geheimnis von Sarajewo, in DIE ZEIT vom 25. Juni 1953 Nr. 26 unter http://www.zeit.de/1953/26/das-geheimnis-von-sarajewo/seite-2 [25.12.2013]
25) MacKenzie, David: The Exoneration of the „Black Hand“ ,Boulder/Colorado 1998, S. 290ff
26) Hubert Wetzel: Denkmal für Mörder Gavrilo Princip vom 29.6.2015 unter www.sueddeutsche.de/politik/denkmal-fuer-moerder-gavrilo-princip-trotz-signal-aus-belgrad-1.2542503
27) Wolfgang Effenberger/Willy Wimmer: “Wiederkehr der Hasardeure”, Höhr-Grenzhausen 2014, S. 438; Nye Committee oder "Senate Munitions Investigating Committee". Report of the Special Committee on Investigation of the Munitions Industry (The Nye Report), U.S. Congress, Senate, 74th Congress, 2nd sess., February 24, 1936, pp. 3-13.
28) Hankey, Maurice: The Supreme Command 1914-1918, George Allen & Unwin, London1961
29) Bell, A. C.: A history of the blockade of Germany and of the countries associated with her in the great war, Austria-Hungary, Bulgaria, and Turkey, 1914-1918, London 1937
30) Corbett, Julian: Official History. Naval Operations, London 1921,Vol. 1, p.18