Das kollektive Vergessen in Ostdeutschland – Ein offener Brief
Von Hubert von Brunn
26 Jahre nach Vollendung der Deutschen Einheit – also ungefähr eine Generation weiter – drängt sich die Frage auf: Wie einig Vaterland sind wir denn inzwischen wirklich? Eine objektive, allgemeingültige Antwort auf diese Frage kann es naturgemäß nicht geben. Also kann man nur eine subjektive, in eigenem Erleben begründete Einschätzung wiedergeben. Ich will das in Form eines offenen Briefes an die Bevölkerung in den neuen Bundesländern tun: Als Wessi, der mehr als die Hälfte seines Lebens in Berlin verbracht hat – zunächst eingemauert, dann befreit –, der nach der Wende als Journalist sehr viel im Osten gearbeitet und die Entwicklung des Landes zwischen Ostsee und Thüringer Wald seitdem sehr intensiv erfahren hat, erlaube ich mir diese kritische Bestandsaufnahme.
Liebe Landsleute in Ostdeutschand,
der Eindruck, den Dresden mit den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt hinterlassen hat, ist kein guter. Vielmehr ist es außerordentlich beschämend, dass aus dieser Stadt der Kultur und er schönen Künste, der Stadt, der durch britische Bomben in den letzten Kriegstagen so unendlich viel Leid zugefügt wurde, der Stadt, die trotz Zerstörung und DDR-Diktatur nach der Wende zu neuer Blüte gelangt ist – dass ausgerechnet von dieser Stadt aus nun wieder das Bild des “hässlichen Deutschen” in die Welt gesendet wird. Warum lasst Ihr anständigen, wohlmeinenden und gutwilligen Dresdner zu, dass ein paar hundert verblödete Dumpfbacken mit ihren widerlichen Auftritten die Stadt, Sachsen und letztlich ganz Ostdeutschland in Verruf bringen?
Damals, als es darum ging, die verlogene SED-Führungskaste des Politbüros hinwegzufegen und der maroden DDR mit Euren friedlichen Montagsdemonstrationen das verdiente Ende zu bereiten – da wart Ihr alle sehr mutig in Leipzig, in Ost-Berlin, in Dresden und in all den anderen Städten, in denen die Menschen auf die Straße gegangen sind. Schließlich hattet Ihr keine Gewähr, dass Gorbatschow sich nicht einmischt, dass die Truppen der NVA und der Roten Armee in den Kasernen blieben und Ihr letztlich die Mauer nur mit Euren Füßen, friedlich und ohne Blutvergießen zum Einsturz bringen konntet. Dafür habe ich und hatte die Mehrheit der Bürger im Westen Euch aufrichtig bewundert und Euch herzlich willkommen geheißen, als Ihr mit Euren Trabis und Wartburgs aufgebrochen seid, den Westen zu erkunden und mit diesen stinkenden Zweitaktern massive Duftmarken in den Innenstädten gesetzt habt. Das war nur eine banale Begleiterscheinung. Wichtig war, dass Ihr da wart und es endlich keine todbringende Grenze mehr gab, die uns trennte.
Investitionen in Miliardenhöhe
Heute fahrt Ihr mit Euren Volkswagen, Opels, BMWs,und Mercedes über top ausgebaute Autobahnen, Bundes- und Landstraßen und nehmt es für selbstverständlich, dass dem so ist. Aber diese Segnungen sind ja nicht vom Himmel gefallen. Lasst es mich mal an einem Beispiel illustrieren. Im Zuge der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE) wurde die Thüringen-Autobahn A 71 Erfurt-Schweinfurt/A 73 Suhl-Lichtenfels realisiert. Der Umwelt zuliebe hat man im Thüringer Wald weit mehr als 100 Autobahnbrücken und sechs Tunnel mit einer Gesamtlänge von mehr als 14 km gebaut. So etwas ist ziemlich teuer heutzutage, rund 2,5 Milliarden Euro, um genau zu sein. Man hat sich entschlossen, dieses extrem anspruchsvolle und aufwendige Fernstraßenprojekt zu realisieren, um die traditionell strukturschwachen Regionen im Thüringer Wald an das deutsche/europäische Autobahnnetz anzubinden und durch diese sehr viel bessere Erreichbarkeit dort Industrie und Gewerbe anzusiedeln und Arbeitsplätze zu schaffen.
Und das ist nur eines von unzähligen Projekten, die unter dem Sammelbegriff “Aufbau Ost” umgesetzt wurden, um die Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern zu verbessern. Dafür wurden Hunderte von Milliaden D-Mark bzw. Euro investiert. Gewiss, die “blühenden Landschaften” haben sich nicht so schnell eingestellt, wie der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl es versprochen hatte, und mancherorts ist bis heute noch nicht allzu viel davon zu sehen. Das ist nicht zu leugnen, aber die Älteren unter Euch werden sich auch noch daran erinnern, in welch erbärmlichen Zustand Eure historischen Innenstädte waren: Görlitz, Erfurt, Bautzen, Rostock, Wismar…, um nur einige zu nennen. Wären nach der Wende nicht diese immensen Summen in den “Aufbau Ost” gesteckt worden, wäre von all diesen jahrhundertealten Bauwerken heute nichts mehr zu sehen und an ihrer Stelle würde uniformierte Platte die Innenstädte “zieren”.
Der Soli in der heutigen Form ist nicht mehr gerecht
Das ist gottseidank nicht geschehen und aus den aufwendig restaurierten Ruinen sind wahre Schmuckstücke geworden. All diese großen Infrastrukturmaßnahmen haben in ihrer Gesamtheit entschieden dazu beigetragen, dass sich in den neuen Bundesländern etwas entwickeln konnte, was es in der eingemauerten DDR mit ihren heruntergekommenen Städten, den kaputten Straßen und dem letztlich nicht existenten Service-Gedanken nicht gab: Eine lebendige und erfolgreich agierende Fremdenverkehrswirtschaft, in der Hunderttausende arbeiten und gutes Geld verdienen können.
Seid mir nicht böse, ich will nicht aufrechnen. Diese unmittelbar nach der Wende getroffenen Entscheidungen waren vollkommen richtig und wir, die westdeutschen Steuerzahler, haben das mit unserem Soli gern unterstützt. Ein Vierteljahrhundert später müssen wir uns aber schon mal fragen, ob dieser Solidaritätsbeitrag in seiner bisherigen Form noch gerecht ist. Allein bei dem Thema Verkehrsinfrastruktur haben sich die Verhältnisse inzwischen vollkommen verschoben. Wo Ihr zu DDR-Zeiten über Hubbelpisten geholpert seid, fahrt Ihr jetzt über großzügig angelegte Straßen, von denen die Leute im Westen – gerade in ländlichen Gebieten – vielerorts nur träumen können. Dort sind nämlich in den 1990er Jahren viele Projekte zugunsten des “Aufbau Ost” zurückgestellt bzw. gestoppt worden. Das finden die Wessis dort inzwischen nicht mehr witzig und fordern zurecht, dass der Soli entweder abgeschafft oder anders verteilt gehörte. Darüber seid Ihr wiederum empört, weil es Euch doch noch sooooo schlecht geht, im Vergleich zu denen im Westen. Diesbezüglich ist Eure Wahrnehmung ziemlich getrübt, wie bei anderen Themen auch, beispielsweise bei der Flüchtlingsproblematik.
Die paranoide Angst vor dem Verlust
Es ist doch schon bemerkenswert, dass ausgerechnet dort, wo die wenigsten Flüchtlinge untergebracht sind, die Ausländerfeindlichkeit am deutlichsten und brutalsten Raum greift. Nun gut: Als ehemalige DDR-Bürger seid Ihr nicht geübt im Umgang mit Ausländern. Mit den Angehörigen der sowjetischen Armee wolltet Ihr grundsätzlich nichts zu tun haben und die andere Ethnie, die in Eurem Land existent war, die Vietnamesen, war mehr oder weniger ghettoisiert und Ihr hattet mit denen auch recht wenig zu tun. Inzwischen seid Ihr aber doch selber in der Welt herumgereist – was Ihr früher nicht konntet – und habt erlebt, wie es sich anfühlt, “Ausländer” zu sein. Daraus gelernt habt Ihr offensichtlich nichts, denn sonst könntet Ihr nicht so bösartig gegen die paar Migranten geifern, die in Euren Städten und Gemeinden untergebracht werden sollen. Ihr seid nach der Wende zu einem gewissen Wohlstand gekommen – wie auch immer – und habt jetzt panische Angst, die Flüchtlinge aus Syrien und irgendwelche Asylbewerber würden Euch das wieder wegnehmen. Das ist blanke Paranoia und wer so denkt, sollte schleunigst einen Termin beim Psychiater machen.
Ich bin, weiß Gott, kein Freund von Angela Merkel und auch nicht von Joachim Gauck. Ich habe die Kanzlerin in unzähligen Artikeln heftig kritisiert für ihre verfehlte Flüchtlingspolitik, für ihre unterwürfige Haltung gegenüber den USA, für ihren Starrsinn gegenüber Russland… Aber ich reklamiere für die Kanzlerin wie für den Bundespräsidenten das Maß an Würde und Respekt, wie ich es für jeden Menschen reklamiere. Man kann gegen eine Person sein und gegen ein Politik, für die sie steht. Um seiner Ablehnung dagegen Ausdruck zu verleihen, kann man auch auf die Straße gehen und demonstrieren – aber nicht so! Wie war es denn zu Walters und Erichs Zeiten? Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort hat genügt, wenn der “Oberindianer” und Gefolge in der Nähe waren, und die Stasi hat gnadenlos zugegriffen. Das Ergebnis waren zwei bis fünf Jahre Bautzen. Schon vergessen? – Nein, Freunde, so geht es nicht. Ich richte meinen Appell an diejenigen, die längst in der bundesrepublikanischen Welt angekommen sind und die Vorzüge dieses Lebens zu schätzen wissen: Weist diese wildgewordenen “Wutbürger” in ihre Schranken und lasst nicht zu, dass durch sie ein Bild von unserem Land in die Welt getragen wird, das so nicht stimmt.
Der politische Diskurs geht nicht über Beschimpfungen
Es ist gewiss nicht alles gut in unserem Land und es gibt hinreichend zu kritisieren – wir, die Autoren, die für AnderweltOnline schreiben, tun das jeden Tag mit der Macht des Wortes. Diese Möglichkeit, seinem Ärger oder seinem Frust, worüber auch immer, Luft zu machen, hat nicht jeder, das ist mir schon klar. Aber jedem steht es frei, einer demokratischen Partei beizutreten und mit seiner Arbeit im politischen Raum – vom Gemeinderat bis zum Bundestag – konstruktiv mitzuwirken, dass Veränderung zum Besseren geschieht. Trillerpfeifen, Pöbeleien und Beschimpfungen unter der Gürtellinie sind hierfür ebenso ungeeignet wie das Abfackeln von Flüchtlingsunterkünften. “Die Würde des Menschen ist unantastbar.” So steht es ganz vorne in unserem Grundgesetz und dieses zutiefst humanistische Prinzip gilt für ALLE – selbst für missliebige Politiker. Diejenigen, die sich über diese schlichte Feststellung hinwegsetzen, haben nicht verstanden, dass der politische Diskurs in einer Demokratie nicht über krude Beschimpfungen geht, sondern über eine sachliche Auseinandersetzung. Die Älteren unter Euch sollten sich daran erinnern, welche Möglichkeiten es für eine sachliche Auseinandersetzung Andersdenkender mit dem politischen Establishment in der ehemaligen DDR gegeben hat. Keine! – Erinnert Euch daran und sagt es auch Euren Kindern, die diese Zeiten nicht erlebt haben und den Unterschied nicht kennen können.
Es gibt sehr viel schlechtere Lebensumstände auf der Welt und ein wenig Dankbarkeit, hier leben zu dürfen, ist ohne weiteres angebracht. Oder wie wärs mit Eritrea, Süd-Sudan, Nordkorea, Mexiko…? – Halten wir fest: Auch im Westen gibt es verblödete Dumpfbacken und Neonazis, die wir nicht brauchen und nicht haben wollen. Aber auch dort gibt es Arbeitslosigkeit, Altersarmut, Wohnungsnot, auch dort haben Politiker zugelassen, das es soziale Ungerechtigkeiten gibt und auch dort ist es deren verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dafür zu sorgen, dass die Schere von arm und Reich nicht immer weiter auseinander geht. Was das anlangt, sind wir durchaus einig Vaterland – aber darauf sollten wir es nicht beschränken.
Herzlichst
Euer
Hubert von Brunn
Hier geht´s direkt zum Antwortbrief von Bernd Biedermann:
BUCHTIPP
Vor zwei Jahren hat der Anderwelt Verlag das höchst spannende und ausgesprochen unterhaltsam geschriebene Buch “Wundersame DDR” herausgebracht. Meinen Landsleuten in Ostdeutschland möchte ich die Lektüre dieses Buches aufs Wärmste empfehlen: den Älteren, weil es womöglich den einen oder anderen in Vergessenheit geratenen Aspekt vom Leben in der ehemaligen DDR wieder in Erinnerung bringt, den Jüngeren, weil sie hier aus erster Hand von bestimmten Merkwürdigkeiten erfahren, von denen sie bisher nichts wussten, nichts wissen können. Der letztgenannte Aspekt trifft natürlich auch auf Menschen zu, die im Westen groß geworden sind. Im Buchhandel oder direkt vom Verlag hier.