Die neuen Themen antirussischer Propaganda
Von Bernd Murawski
Auch notorischen Russlandhassern ist mittlerweile nicht entgangen, dass die Ukraine die Hauptschuld an der mangelnden Umsetzung von Minsk II trägt. Um das Russland-Bashing dennoch fortsetzen zu können, bedarf es neuer Themen. Solche sind die angeblichen russischen Angriffe auf Zivilisten in Syrien und vermeintliche Versuche, die EU schwächen zu wollen.
Bereits seit vier Monaten bombardiert die russische Luftwaffe militärische Objekte des IS wie auch der Al-Nusra-Front, an deren Seite andere terroristische Gruppierungen wie auch moderate Assad-Gegner kämpfen. Zwar wurden schon früher vereinzelt Vorwürfe erhoben, dass auch Zivilobjekte betroffen seien. Aber erst die Erfolge der syrischen Armee in und um Aleppo haben westliche Politiker und Medien zu massiver Kritik an den russischen Einsätzen veranlasst. Nun ist allgemein bekannt, dass sich Kollateralschäden kaum vermeiden lassen. Warum wird dann aber zu den Leiden von Zivilisten bei den gleichzeitig stattfindenden US-amerikanischen Bombardements in Syrien und im Irak geschwiegen?
Sobald es um Kritik an Russland geht, sind westliche Medien augenscheinlich bereit, Informationen aus dubiosen Quellen wie der „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ zu übernehmen. So wird dann auch von einer gezielten Bombardierung der Zivilbevölkerung berichtet. Dabei macht es aus militärstrategischer Sicht wenig Sinn, Aleppo zum zweiten Grosny zu bomben, wie der „Spiegel“ tituliert.
Sorge um den Schutz syrischer Zivilisten ist begründet
Wenn Zehntausende Syrer in den letzten Tagen in Richtung Türkei geflohen sind, dann offenbar deshalb, um angesichts der vorrückenden Front nicht in die Schusslinie zu geraten. Ein weiterer Grund ist die Furcht vor Racheakten durch die Truppen Assads. Diese bestehen nicht nur aus regulären Armee-Einheiten, sondern auch aus Freiwilligenverbänden, deren Handlungen schwer kontrollierbar sind. Die Ängste der Bewohner Aleppos sind durchaus berechtigt, da viele von ihnen – bereitwillig oder gezwungen – mit den „Rebellen“ kooperiert haben. Die Sorge um den Schutz der Zivilisten ist demnach begründet, und hier sollte die Assad-Regierung in die Verantwortung genommen werden.
Anstatt sich für eine konstruktive Vorgehensweise im Interesse der Zivilbevölkerung einzusetzen, damit diese ihren Wohnort nicht verlassen muss, missbrauchen westliche Medien und Politiker die Flüchtlingsströme zu dem Zweck, Russland an die Wand zu stellen. Mit der Forderung nach Einstellung aller Bombardements wird außerdem das Ziel verfolgt, den Vormarsch der syrischen Armee zum Stehen zu bringen. Hier wird verschwiegen, dass deren militärischen Erfolge einer großen Zahl von Binnenflüchtlingen ermöglicht haben, in ihre Heimat zurückzukehren. Auch endete der tägliche Raketenbeschuss ziviler Objekte in Damaskus und anderen Städten.
Angebliche hybride Kriegsführung
Ist es Russlands Ziel, die EU zu schwächen, dann ist ein Anwachsen des Flüchtlingsstroms verständlicherweise von Vorteil. Bevor aber derartige Annahmen in Zusammenhang mit der neuen Flüchtlingswelle aus der Aleppo-Region geäußert werden, sollte die Interessenlage Russlands in Augenschein genommen werden. Eine Schwächung der EU-Staatengemeinschaft würde diese zum gegenwärtigen Zeitpunkt unweigerlich in die Arme der USA treiben. Als ein Schritt in diese Richtung kann Angela Merkels Bemühen gewertet werden, die Nato in den Schutz der Außengrenzen des Schengen-Raums einzubeziehen. Sollten die USA durch die Hintertür in die Brüsseler Etagen gelangen, dann können alle Hoffnungen auf eine baldige Wiederannäherung zwischen Russland und der EU begraben werden.
Wenn auch eine direkte Bedrohung der EU trotz gegenteiliger Beschwörungen mancher Nato-Fantasten allgemein ausgeschlossen wird, so werfen Politiker und Medien Russland dennoch hybride Kriegsführung vor. Dabei wird vor allem auf eine verstärkte Medientätigkeit und auf Kontakte zu Rechtsradikalen und anderen erklärten EU-Gegnern verwiesen. Albrecht Müller hat in den Nachdenkseiten derartige Vorwürfe, insbesondere Behauptungen, Russland würde regierungsfeindliche Parteien und Gruppen im Westen finanzieren, als lächerlich zurückgewiesen. Er sieht hier vielmehr den Versuch, von eigenen hausgemachten Problemen abzulenken und das in letzter Zeit erblasste Russland-Feindbild aufzupolieren.
Eindruck der Isolation sollte vermieden werden
Die Kontakte zu rechtsradikalen, separatistischen und anderen EU-feindlichen Kräften gehen auf eine Zeit zurück, als kein westeuropäischer Politiker mit Putin sprechen wollte. So waren diese Gruppierungen die einzigen, die der Einladung der russischen Regierung gefolgt waren, den Urnengang auf der Krim zu beobachten. Verständlicherweise nutzten jene mit dem Makel von Staatsfeinden behafteten Politiker die Gelegenheit, sich an der Seite Putins ins Rampenlicht zu rücken. Die russische Führung war ihrerseits daran interessiert, der Bevölkerung zu vermitteln, dass Russland keineswegs isoliert sei.
Wie berechtigt der Vorwurf auch ist, man solle sich seine Freunde bitteschön aussuchen, so trifft er in gleichem Maße westliche Politiker. Auch wenn man sich hierzulande nach Staatsbesuchen damit brüstet, den Gegenpart auf Menschenrechtsverletzungen und anderes Fehlverhalten aufmerksam gemacht zu haben, bleibt dies in der Regel ohne praktische Konsequenzen. Eine solche Rhetorik dient vielmehr dazu, dem Aufschrei liberal, ökologisch oder sozial gesonnener Aktivisten im eigenen Land Gehör zu verschaffen. Dagegen würden in Russland derartige Stellungnahmen als Unfreundlichkeit dem Gast gegenüber begriffen werden, was der Bildung einer Vertrauensbasis abträglich wäre.
Fehlinterpretationen durch Mentalitätsunterschiede
Wer oft auf Geschäftsreisen in Russland war, wird den Mentalitätsunterschied zum Westen kennen, für die andern sei auf ein Interview mit Kai Ehlers verwiesen. Über Jahre gewachsene persönliche Beziehungen werden hoch geschätzt, da sie das gegenseitige Vertrauen vertiefen. Dieses wird wiederum als wesentliche Grundlage für jede Form von Verhandlungen und Kompromissen betrachtet. Nur so ist die maßlose Enttäuschung zu verstehen, als der Westen seine Zusage brach, die Nato nicht nach Osten auszudehnen.
Welche Konsequenzen ein Vertrauensbruch nach sich ziehen kann, hat kürzlich Erdogan erfahren. Die scharfe russische Reaktion auf den Abschuss des Militärflugzeugs erklärt sich vor allem dadurch, dass Erdogan sich umgehend an die Nato um Unterstützung wandte, anstatt das Problem gemeinsam mit Russland zu erörtern. Natürlich kann angenommen werden, dass die russische Entscheidung nicht ohne das Kalkül geschah, künftig unbeschwerter in Syrien agieren zu können, während die Türkei für den Westen angesichts der Differenzen in der Flüchtlingsfrage und bei der Unterstützung der syrischen Kurden ein widerspenstiger Partner bleibt.
Zweifellos erregt das Hofieren westeuropäischer Nationalisten und EU-Feinde durch Moskau Argwohn, ja es trägt zuweilen peinliche Züge. Bei einer korrekten Interpretation kann dennoch nicht geschlussfolgert werden, Russland wolle jenen Kräften den Rücken stärken oder befände sich mit ihnen auf gleicher politischer Wellenlänge. So verloren etwa Verweise auf eine vermeintliche Nähe zum EU-„Pariastaat“ Ungarn spätestens dann an Glaubwürdigkeit, als sich das russophobe Polen an dessen Seite begab.
Geringe Gesprächsbereitschaft bei den EU-Staatenlenkern
Tatsächlich hat die russische Führung fortwährend ihre Bereitschaft signalisiert, mit demokratisch gewählten EU-Staatenlenkern verkehren zu wollen, während diese die Kontakte infolge der Ukraine-Krise auf ein Minimum reduzierten. So blieb nur der Rückgriff auf Politiker zweifelhafter Couleur übrig, um bei der eigenen Bevölkerung zu punkten. Dasselbe gilt für Interviewpartner und Informationsquellen aus dem Westen. Wer allerdings regelmäßig russische Medien liest, wird feststellen, dass bei der westlichen Quellenauswahl das linke und liberale Spektrum ein deutliches Übergewicht hat.
Verständlicherweise werden Medien favorisiert, die sich nicht am Russland-Bashing beteiligen. Wenn dagegen Veröffentlichungen des Mainstream aufgegriffen werden, dann wird häufig selektiert. So hat das Internetportal "Sputnik" kürzlich einen Kommentar des „Tagesspiegel“ partiell übernommen, in dem Putin als „richtiger Ansprechpartner in der Flüchtlingsfrage“ bezeichnet wurde. Dass dies allerdings ironisch gemeint war und Putin im Artikel zum Bösewicht stilisiert wurde, hat „Sputnik“ verschwiegen. Zwar wurde hier ohne Zweifel manipuliert. Sind aber westliche Medienberichte und -kommentare zu Russland überhaupt würdig, dort veröffentlicht zu werden? Viele sind derart beleidigend, dass russische Leser eher verwirrt wären, als dass sie in die Dämonisierung Putins einstimmen würden. Auch wenn jede Form von Zensur prinzipiell abgelehnt werden muss, stellt sich dennoch die Frage, ob sich nicht ohne diesen Filter in Russland antiwestliche Ressentiments verstärkt hätten.