Im Widerspruch von Schein und Sein: Deutsche Speerspitze in Litauen
Von Martin Kunze
Eine alte Volksweisheit weiß um die mitunter gravierenden Unterschiede zwischen Schein und Sein. Die Beschlüsse des NATO-Gipfels von Warschau im Juli 2016 erinnern eben daran. Der wenigstens in Teilen schöne „Schein“ der seit 1990 vom Verteidigungsbündnis zur global agierenden Interventionsmacht veränderten NATO zählt auf: Erhöhte Anstrengungen zur Bekämpfung des IS, Unterstützung der Bemühungen zur Eindämmung der Migration über das Mittelmeer mit der Operation „Sophia“ vor der Küste Libyens und Verlängerung des Mandats in Afghanistan.
Dieses „Mandat“ allerdings beinhaltet letztlich nur eine Art Notfalleinsatz zur Linderung der durch den Einsatz von US-Truppen und ISAF selbst hervorgerufenen Probleme. Beim Gipfel gab es aber auch Äußerungen führender NATO-Vertreter, so ihres Generalsekretärs Stoltenberg, die dem unbedarften Bürger wie himmlisches Manna erscheinen mussten (oder sollten?), so z.B.: „Der Kalte Krieg ist Geschichte, und soll es auch bleiben“. Oder: „Wir handeln defensiv, transparent und angemessen“. Und als Höhepunkt: „Wir werden den Dialog mit Russland fortsetzen“. Zu ergänzen wäre nur eine Kleinigkeit, sprich, das „Sein“, nämlich die auf dem Gipfel auch beschlossenen Fakten, dem schönen „Schein“ gegenüber zu stellen. Was im Klartext heißt: Die NATO stationiert, nach der über Jahre entgegen allen einstigen Absprachen erfolgten systematischen Annäherung an den russischen Grenzen, „rotierende“ (aber trotzdem ständig präsente) kampfbereite Truppen in den Nachbarstaaten Russlands. Je ein Bataillon mit etwa 1.000 Mann bezieht mit voller Bewaffnung Quartier bzw. Lager in Estland, Lettland, Litauen und Polen.
Die Logik von „Stolperdrähten“ und „Vornepräsenz“
Die Einsatzqualität soll stets Elemente der Land-, Luft-, See- und Spezialkräfte umfassen. Die Bataillone seien eine Art „Stolperdraht“ für die in der NATO vielfach heraufbeschworene russische Invasion in seinen Nachbarstaaten. Und sollte der Stolperdraht Signale aussenden, erfolge sofort Verstärkung durch die „Speerspitze“ der NATO. Alles klar für den Kreml? Und da geteiltes Leid immer halbes Leid ist, teilte man die Verantwortung für die Aufstellung der Bataillone. Die Führungsrolle in Polen übernehmen die USA, in Estland Großbritannien, in Lettland Kanada, und in Litauen – man höre und staune – ist es Deutschland. Betont wurde darüber hinaus auf dem Gipfel die Einsatzbereitschaft des die Sicherheit Russlands verletzenden und von diesem scharf kritisierten Raketenschildes in Europa mit vier Schiffen, der Raketenbasis in Rumänien und der Ortungsanlage in der Türkei.
Und die deutsche Bundesministerin für Verteidigung, richtig, Frau von der Leyen, setzte noch eins drauf. Deutschland stellt mit einer Kapazität von 13.500 IT- Spezialisten eine Einheit für den „Cyber -und Informationsraum“ auf. Ganz nebenbei bereicherte sie bei diesem Treffen den militärischen Wortschatz noch mit einem neuen Ausdruck: Die Truppenverlegung in die russischen Nachbarstaaten sei keine Stationierung, sondern „Vornepräsenz“. Generalstabsausbildung alter Schule?
Dass die USA als Führungsmacht der NATO den zu schaffenden „Stolperdrähten“ und selbst dem angedrohten Einsatz der „Speerspitze“ kein volles Vertrauen schenken, findet seinen Ausdruck in der vorgesehenen Stationierung einer US- Panzerbrigade mit 5.000 Mann und 250 Panzern in einem der östlichen Nachbarstaaten Russlands, wahrscheinlich in Polen.
Bedrohungs-Szenario für Russland
Die o.a. Speerspitze ist neuester Bestandteil der seit dem Gipfel 2002 in Warschau in mehreren Etappen aufgestellten NATO-Response Force (NRF), der „Eingreiftruppe“. Sowohl die heute erreichte Einsatzstärke der NRF mit 40.000 Mann als auch die Bildung ihrer Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), eben der ganz schnellen Eingreiftruppe, der Spitze des Speers, gehen maßgeblich zurück auf die intensiven Bemühungen des deutschen Vier-Sterne-Generals Hans-Lothar Domröse, bis April 2016 Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command in Brunssum, Befehlshaber NATO für Ost- und Nordeuropa. Die VJTF, die neue und laut Berichten „superschnelle“ neue Speerspitze, eine rein europäische Truppe, geführt vom Deutsch-Niederländischen Korps in Münster, soll in der Lage sein, mit ca. 5.000 Mann, davon 2.700 aus der Bundeswehr, in 48 bis 72 Stunden weltweit (und damit auch an der russischen Grenze) den Kampf aufzunehmen. Selbst dem Laien sollte an Hand dieser Daten deutlich werden, dass hier eine sehr ernst zu nehmende Bedrohung Russlands inszeniert wird.
Deutschland lässt in dieser Situation deutlich erkennen: Die Zeit der in den 1990-er Jahren ohnehin geringfügigen Reduzierung von Truppen und Bewaffnung ist beendet. Die Rüstungsindustrie schreibt wieder tiefschwarze Zahlen, energisch fordert das Verteidigungsministerium die zahlenmäßige und natürlich finanzielle Verstärkung der Deutschen Bundeswehr. Mit dem soeben herausgegebenen „Weißbuch 2016“ lässt Deutschland zudem seine neue, unverhohlen auch auf militärische Mittel setzende Rolle im Ringen um die globale Mitherrschaft erkennen. Unter Führung der „mächtigsten Frau der Welt“ scheut sich die Bundesregierung in eben dieser angespannten Situation nicht einmal, im Rahmen eines erneuerten Zivilschutzprojektes die eigene Bevölkerung zur persönlichen Vorsorge gegen Katastrophen und mögliche Gefährdung des bisher nur von Freunden umgebenen Landes aufzurufen.
Bundesweht folgt einer unheilvollen „Tradition“
Deutschland übernimmt, 75 Jahre nach dem 22.6.1941, mit der Teilnahme deutscher Soldaten an der zunehmenden Einkreisung Russlands Führungsverantwortung für dessen reale Bedrohung. Deutschland schickt sich an, zusätzlich zu den bereits weltweit laufenden Einsätzen der Bundeswehr ein weiteres Kontingent gerade dorthin zu entsenden, wo deutsche Soldaten schon mehrfach eingesetzt waren und nicht eben mit Ruhm bedeckt zurückkehrten, nach Litauen, in Richtung russische Grenze, in Richtung „Erzfeind“. Als Kern des deutschen „Bataillons“ wird bisher das Panzergrenadierbataillon-371 aus Marienberg/Sachsen genannt. Damit folgt die Bundeswehr einer unheilvollen „Tradition“.
Litauen, mit 65.300 km² und 2,3 Mio. Einwohnern Nachbarstaat der russischen Enklave Kaliningrad, war mit der Unabhängigkeitserklärung vom 11.3.1990 die erste der sich von der Sowjetunion lösenden baltischen Sowjetrepubliken. Das Land blickt auf eine lange, immer wieder von fremden Mächten bestimmte Geschichte zurück. Mehrfach war es auch das Ziel deutscher Truppen. Im 1. Weltkrieg unterwarf die deutsche Militärverwaltung unter dem Kommando des Oberbefehlshabers Ost Litauen einer harten Unterdrückung. Das Ziel bestand darin, das Land als Herzogtum Kurland und Großfürstentum Litauen der Deutschen Krone zuzuschlagen. Die Besetzung Litauens endete nicht nur mit dem schmählichen Rückzug der deutschen Besatzer, sondern mit dem revolutionären Ende des deutschen Kaiserreiches 1918. Im 2. Weltkrieg meldete der deutsche Generalstab nur wenige Wochen nach dem wortbrüchigen Überfall auf die UdSSR bereits am 10.7.1941, Litauen sei erobert. Diese Besetzung währte bis 1944, das litauische Staatsgebiet wurde als „Reichskommissariat Ostland“ geführt mit dem Ziel, es später deutsch zu besiedeln und damit „einzudeutschen“. Unter anderem zahlten neben ungezählten anderen Terrormaßnahmen mehr als 34.000 jüdische Bürger des Landes diese Besatzungszeit mit ihrem Leben.
Gegen welche Bedrohung muss Litauen verteidigt werden?
Eigentliches Ziel der deutschen Großmachtpolitik war beide Male nicht Litauen. Das Angriffsziel hieß Russland bzw. Sowjetunion. Ob die Soldaten der neuen deutschen „Schutztruppe“ die Geschichte Litauens – sowohl die alte bis 1990 als auch jene der ab 1990 freien Republik – besser kennen und verstehen als jene Soldaten, die ohne echte Kenntnis der Vergangenheit und Gegenwart des Landes Afghanistan und mit nur marginaler Kenntnis der zu diesem Krieg führenden Zusammenhänge „Deutschland am Hindukusch“ verteidigten und in einigen traurigen Fällen mit dem Leben bezahlten? Ob ihnen klar ist, dass auch bei dieser dritten Präsenz deutscher Truppen in Litauen der eigentliche Grund Russland heißt? Ob sie wissen, dass die russische Führung einen eigenen Angriff auf die baltischen Staaten als Phantasieprodukt der NATO kennzeichnet?
Heute ist Litauen eine freie, selbständige Republik, seit 2004 Mitglied der NATO und der EU. Es wird von keinem anderen Land bedroht, ausdrücklich auch nicht von Russland. Warum das Land selbst den direkten, präsenten Schutz der NATO anruft, bleibt dem neutralen Betrachter unverständlich. Für die Tatsache, dass gerade Deutschland seine Soldaten in dieses Land schickt, dass es damit erneut bereit ist, Russland zu bedrohen und gegebenenfalls mit seinen Truppen russische Grenzen zu überschreiten, findet der Betrachter nur zwei Erklärungen. Die erste: Die tief sitzende Feindschaft der herrschenden Kreise Deutschlands gegen Russland überwiegt die eigentlich selbstverständlichen, geschichtsnotorischen Erfahrungen aus allen gegen russische Lande geführten und immer verlorenen Kriege. Es fehlt offenbar jede Vorstellung davon, wie Russland selbst auf die geringfügigste Verletzung seines Territoriums gerade durch deutsche Truppen reagieren würde. Und die zweite: Deutschland unterwirft sich, völlig freiwillig und ohne den Willen der eigenen Bevölkerung zu beachten, bedingungslos dem Willen der NATO und damit der vom Militärisch-Industriellen Komplex dominierten Führung der USA.
Erinnert sei hier noch einmal an das eingangs genannte Sprichwort. Mit der Entsendung deutscher Truppen nach Litauen, dem „Sein“ der aktuellen deutschen Sicherheitspolitik, widerspricht Deutschland diametral dem schönen „Schein“ seiner im „Weißbuch 2016“ genannten Aussage: „Unser sicherheitspolitisches Selbstverständnis ist geprägt durch die Lehren aus unserer Geschichte.“ – Wenn es nur so wäre!
Eigentlich wäre es Zeit für einen Staatsstreich. Geht nicht in Deutschland? Dass die Idee nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist, kann man genüsslich nachvollziehen, wenn man das Werk von Peter Orchekowski und Robert B. Thiele gelesen hat. Der Jurist und ehemalige Reservist Thiele beleuchtet sachkundig und realistisch die Möglichkeiten. Für alle, die Merkel nicht lieben, ein echtes Lesevergnügen. Im Buchhandel oder direkt vom Verlag hier bestellen.