Merkels Kontrollverlust in der Flüchtlingspolitik – Attacke auf Rechtsstaat, Verfassung und Demokratie
Von Jean-Patrick Lavalle
12. September 2015. Deutschland steht kurz vor einer völligen Grenzschließung. Bis in die Nacht hinein hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière 21 Hundertschaften der Bundespolizei an die bayerisch-österreichische Grenze verlegen lassen, zum Teil mit Helikoptern. In jenen Spätsommertagen erlebt die Bundesrepublik einen in der neueren Geschichte der Nationalstaaten noch nie dagewesenen, weder geplanten noch geregelten Ansturm von Migranten und Asylbewerbern aus aller Welt. Hunderttausendfach strömen sie über die deutschen Grenzen – und täglich werden es mehr.
Man zählt bis zu 3.000 pro Tag. An den Wochenenden des 5./ 6. und des 12./13. September werden allein am Münchner Hauptbahnhof jeweils rund 20.000 Ankömmlinge gezählt. In den ersten drei Septemberwochen gelangen mehr als 135.000 Migranten nach Bayern – was ziemlich exakt der Einwohnerzahl Regensburgs entspricht. Das Ungeheuerliche an diesem Vorgang: Sie strömen ungehindert. Niemand hält sie auf. Kein Mensch kontrolliert oder registriert sie. Sie laufen über die Brücken, von Österreich nach Freilassing, von Österreich nach Passau. In vollgestopften Regionalzügen fahren sie problemlos von Kufstein in Tirol nach Rosenheim in Oberbayern. Fotos und Filme, die zeigen, wie sie zu Hunderten auf den Autobahnen entlanglaufen, flimmern über unsere Bildschirme. Selbst regierungsnahe Medien wie die FAZ sprechen von einer neuen „Völkerwanderung“.
Die Kanzlerin fällt ihrem Innenminister in den Arm
Schließlich reagiert die Bundesregierung. Zumindest hat der gemäß seinem Diensteid der Grenzsicherung verpflichtete Bundesinnenminister – endlich – die Initiative ergriffen, um ein in höchstem Maße überfälliges Signal an die Welt zu senden: Deutschland steht nicht unkontrolliert zur Disposition! In der vorläufigen Fassung des 30 Seiten langen Einsatzbefehls stand nach Informationen der BILD-Zeitung: "Nichteinreiseberechtigte Drittstaatsangehörige sind zurückzuweisen, auch im Falle eines Asylgesuchs." Dazu muss man wissen, dass gemäß grundgesetzlicher Festschreibung Bewerber, die sich aus einem sicheren Drittstaat – etwa aus Österreich, Tschechien oder Ungarn – den deutschen Grenzen nähern, per se nicht asylberechtigt sind.
Die Direktive des Innenministers war also eine simple Umsetzung von Artikel 16 a, Grundgesetz. Beginnen sollte der Einsatz am Sonntag, den 13. September um 18:00 Uhr. Kurz vorher wurde der Einsatzbefehl aber auf Intervention der Bundeskanzlerin abgeändert und der letzte Halbsatz gestrichen. Sie war ihrem pflichtgetreu agierenden Innenminister buchstäblich in den Arm gefallen. „Die Grenzen bleiben offen!“ Mit überwältigenden Konsequenzen: Der Folgemonat Oktober brachte mit 202.000 Personen die bis heute höchste Monatszahl von polizeilich gezählten Flüchtlingen.
Und sie bleibt weit offen, unsere Staatsgrenze. Weiterhin laufen täglich tausende Menschen an den Grenzposten vorbei. Einfach so. Auch im November 2015 sind es am Ende weitere Hunderttausende, die unkontrolliert und unregistriert ins Land strömen, ebenso im Dezember: Aus Syrien, aus dem Irak, aber auch aus Nordafrika, aus Schwarzafrika, aus Afghanistan oder Pakistan. Einer, der es in der CDU nie an deutlichen Worten fehlen ließ, sagte es so: „Der Kontrollverlust an den deutschen Grenzen muss so schnell wir möglich beendet werden“. Wie meist, verhallten Wolfgang Bosbachs Mahnungen ungehört. Bald wurde klar, dass rund 80 Prozent dieser Asylsuchenden und Flüchtlinge mit gefälschten Pässen ins Land gekommen waren.
Merkels einsame Entscheidung gegen die eigne Bevölkerung
Über das politische Motiv dieser einsamen Entscheidung der Bundeskanzlerin wird bis heute gerätselt. Fest steht: Es war nicht nur eine Entscheidung ohne die Bevölkerung – es war eine Politik gegen die eigene Bevölkerung. Eine Entscheidung, die die uralte Mahnung an alle Politiker dieser Welt gnadenlos außer Acht ließ: Respice finem! Welche langfristigen Folgen mit einer derart ungeordneten Zuwanderung speziell aus dem islamischen Kulturbereich einhergehen, können wir in deutlichen Ansätzen in den Parallelgesellschaften bewundern, die sich seit etwa 20 Jahren in unseren Städten und Ballungsräumen zunehmend verfestigt haben.
Die kurzfristigen Folgen zeigten sich rasch. In der Silvesternacht 2015 wurde die deutsche Öffentlichkeit mit Belästigungen, Diebstählen und Vergewaltigungen ungeheuren Ausmaßes konfrontiert. Nein, nicht nur in Köln, wo über tausend Anzeigen von begrapschten, beraubten, geschockten oder vergewaltigten Frauen eingingen. Gleiches geschah in Hamburg, Frankfurt, Stuttgart und in zahlreichen anderen Städten. Das wird gern verschwiegen, weil es unwiderlegbar beweist, dass wir es mit einem flächendeckenden Phänomen zu tun hatten und haben, ausgelöst durch unkontrollierte Migrationsströme aus fernen Teilen der Welt. Und ohne jeden Zweifel ist dieses Phänomen zurückzuführen auf eine unverantwortliche politische Weichenstellung im Spätsommer 2015 sowie – und hier liegt der Kern des Politikversagens – auf ein um ein Vielfaches verantwortungsloseres Festhalten an dieser Weichenstellung über die folgenden Monate.
Für eine Demokratie stellen sich Fragen, die an das Fundament rechtsstaatlicher Parameter gehen: Wurde hier die grundlegende Basispflicht verletzt, die Grenzen des Staatsgebiets zu sichern und zu schützen? Oder gegen die elementare Obliegenheit, die eigene Bevölkerung vor Gefahren zu bewahren. Diese Verantwortlichkeiten sind im Amtseid von Bundeskanzler und Bundesministern in Artikel 64 Grundgesetz klassisch in Worte gefasst: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ „Schaden von ihm wenden“? Über die Eidesformel kommen verfassungsrechtliche Aspekte zum Tragen. Muss bei Weichenstellungen dieser Tragweite nicht unser Parlament einbezogen werden? Namhafte Staatsrechtler vertreten diesen Standpunkt.
Angriff auf Rechtsstaat und Rechtsempfinden
Rechtsstaatlich betrachtet dürfte die an der Bevölkerung vorbei und unter rational nicht nachvollziehbaren Maßstäben mit der Brechstange durchgesetzte Entscheidung der Bundeskanzlerin im September 2015 als fatal zu bewerten sein. Sie hat nicht nur eine landesweite Verständnislosigkeit ausgelöst, sondern eine grundlegende staatsrechtliche Skepsis gegenüber dem Handeln der Bundesregierung befördert. In ungezählten Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern hat der Verfasser die nahezu einmütige Bewertung mit nachhause genommen, dass die unregistrierte Massenzuwanderung im Herbst 2015 als beunruhigender Kontrollverlust des Staates wahrgenommen und die Weichenstellung von Angela Merkel als eine Außerkraftsetzung geltenden Rechts – mindestens des Art. 18 des Asylgesetzes – bewertet wird. Ein Jahr später sprechen namhafte Autoren im Rückblick sogar von einem „Präzedenzfall von strukturverändernder Qualität“ (Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Herausgeber): Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2016) .
Wem selbst diese „Erosionstendenzen des Rechtsstaats“ (Peter M. Huber a.a.o.) – das heißt immerhin: der grundlegenden Errungenschaft der Moderne – aus menschenrechtlich-zivilgesellschaftlichen Gründen nicht als Problem erscheinen, dem hält Otto Depenheuer entgegen: „Ein flüchtiger Rechtsstaat aber ist kein Segen für die große Idee der Menschenrechte, sondern im Gegenteil: das Ende ihrer rechtspraktischen Wirksamkeit.“
Verfassungsrechtler: „Schlimmste Verfassungskrise in der Geschichte der BRD“
Die erstaunlich häufig und von den verschiedensten Seiten zu hörende Kritik, die Bundesregierung breche in der Flüchtlingspolitik das Recht, erhielt im Januar 2016 einen gewaltigen Schub, als der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, dem „Handelsblatt“ ein Interview gab. Man musste ihn so verstehen, dass mit der Öffnung der deutschen Grenze für Flüchtlinge, die anderswo einen Asylantrag hätten stellen können (oder nach EU-Recht hätten stellen müssen), die schlimmste Verfassungskrise in der Geschichte der Bundesrepublik eingetreten sei: „Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit.“
Im Juni 2016 hielt Papier in der Münchner Universität einen Vortrag über „Flüchtlingspolitik als Herausforderung für Staat und Verfassung“. Er wiederholte den „Vorwurf des historisch bedeutsamen Politikversagens“. Die Regierung habe es an Vorsorge fehlen lassen, als sie die Überlastung des europäischen Asylsystems sehenden oder blinden Auges hinnahm. Wie ein roter Faden durchzog die Klage über den „Mangel an exekutiver Voraussicht“ Papiers Vortrag – und zu recht: Natürlich ist die Vorsorge für das Gemeinwohl die ureigene Aufgabe der Regierung. Kurzum: Papier präzisiert, dass der Kurs der Regierung Merkel von der rechtlich vorgegebenen Bahn abweicht: Seit der Grundgesetzänderung von 1993 sei gemäß dem geltenden Asylartikel für Asylbewerber die Einreise aus den – ohne Wenn und Aber sicheren – Nachbarstaaten illegal, also zu unterbinden.
„Einwanderungsliberalisierung am Gesetzgeber vorbei“
Danach ist es konsequent, wenn Papier ausdrücklich der Bundesregierung die Verantwortung für den „Funktionsausfall des flüchtlingsrechtlichen Instrumentariums“ zuweist: „Die engen Leitplanken des deutschen und europäischen Asylrechts sind gesprengt worden. Bestehende Regelungen wurden an die Wand gefahren.“ Mit den Folgen wird unsere Gesellschaft nun auf Jahre konfrontiert sein. – Papier weiter: „Der Verfassungsstaat muss funktionieren, er darf durch die Politik nicht aus den Angeln gehoben werden.“ Überraschend mutig deutet Papier in seinem Vortrag an, dass er in der „Einführung eines liberalisierten Einwanderungsrechts durch die Hintertür des Asylrechts eine Quasi-Gesetzgebung“ erkennt – also eine am Parlament vorbeigemogelte de facto – Gesetzgebung, deren Folgen aber fatal, sprich: in ihrer historischer Tragweite völlig unabsehbar sind. Die Frage des Umfangs der Zuwanderung sei so wichtig, dass sich der Gesetzgeber damit befassen müsse. Im Kern gehe es um das „Tafelsilber unserer Demokratie“. – Stellt sich also die Frage: Ist die Machtbalance zwischen Bundestag und Bundesregierung im Sommer 2015 von der Administration Merkel beschädigt worden?
Die Europäer tragen den „deutschen Sonderweg“ nicht mit
Unabweisbar beschädigt worden sind die Beziehungen Deutschlands zu seinen 27 EU-Partnerstaaten. Im Karnevalskostüm der Retterin Europas ruft die deutsche Kanzlerin gebetsmühlenartig nach der „europäischen Lösung“, hat sich aber de facto 2015 auf einen Kurs begeben, der von anderen EU-Staaten als „neuer deutscher Sonderweg“ wahrgenommen – und entsprechend missbilligt – wird. Noch nie, so schrieb der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, im Handelsblatt, habe sich Deutschland in der EU so sehr von seinen Partnern entfernt. Kurz vor Angela Merkels Besuch in Prag am 25.August 2016 bezeichnete Tschechiens Staatspräsident Milos Zeman ihre Migrationspolitik als „absurd“.
Bereits Außenminister Fischer hat gültiges Recht gebrochen, als er eine unkontrollierte Visapolitik für die Ukraine befohlen hat. Man kann das als Vorbereitung auf das sehen, was Frau Merkel im letzten Jahr vollendet hat. Deswegen sollte man die Vorgänge um Migration und Zuwanderung nach Deutschland im Zusammenhang der letzten 20 Jahre kennen, um zu verstehen, dass die Ereignisse des letzten Jahres keineswegs isoliert zu sehen sind. Es kann der Verdacht aufkommen, dass es sich hierbei um die schreckliche Manifestation eines langgehegten und nicht minder schrecklichen Planes handelt. Lesen Sie dazu „Auf nach Germania“ aus der Feder eines Insiders, der seine Erfahrungen aus den Zentren der Macht aufgeschrieben hat. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag bestellen hier.