Eine Minderheitsregierung kann die Demokratie beflügeln
Von Peter Haisenko
Es ist schon erstaunlich, dass ein fortlaufender Verstoß gegen das Grundgesetz völlig unbeanstandet von den Medien geduldet wird: Der Fraktionszwang. Laut Grundgesetz sind die Abgeordneten nur ihrem Gewissen verpflichtet. Das verträgt sich nicht mit dem Fraktionszwang. Solange es diesen aber geben darf, ist eine Minderheitsregierung schwer vorstellbar.
Koalitionsvereinbarungen sind eine Kungelei – hauptsächlich um Posten – und nur selten Abbild des Wählerwillens. Kleine Parteien mit einstelligen Wahlergebnissen setzen Forderungen durch, die oftmals kaum mehrheitsfähig wären. Der Wahlsieger schluckt dann so manche Kröte, denn sonst könnte er nicht regieren. Gerade der Ausgang der letzten Wahl zum Bundestag zeigt, wie sehr sich Parteien verbiegen müssen, was im Fall der CSU zum Untergang führen kann. Warum also fürchtet man sich so sehr vor der Bildung einer Minderheitsregierung?
Koalitionen sind immer faule Kompromisse
Um es vorab klar zu sagen: Kein Minister, nicht einmal der/die Kanzler/in muss Parteimitglied sein, nicht einmal Mitglied des Bundestags. Während der Wahlperioden 1 bis 11 waren 23 Minister einschließlich Bundeskanzler ohne Bundestagsmandat. (Tabelle hier einsehbar) Es gibt folglich keine Regel, die die Besetzung von Regierungsposten mit echten, auch parteilosen Fachleuten verbieten würde. Das ist eine Voraussetzung, die einer Minderheitsregierung große Zustimmung bringen kann, wenn sie denn – wiederum mit Sachverstand und ohne Parteienfilz – umgesetzt würde.
Die Alliierten, die USA und England, haben allen Ländern, die sie „demokratisiert“ haben, ein anderes Wahlrecht und Staatsrecht verordnet, als sie selbst haben: Ein Verhältniswahlrecht, kein Präsidialsystem und kein Mehrheitswahlrecht. Das Verhältniswahlrecht aber macht stabile und handlungsfähige Regierungen nahezu unmöglich. Auch in Deutschland hat es nach dem Krieg nur eine Wahlperiode mit einer absoluten Mehrheit gegeben. Das war von 1957 bis 1961 und in Deutschland ist niemals mehr vorangegangen, als während dieser Periode. In Bayern regiert die CSU mit einer Ausnahme allein, ist also für alles allein verantwortlich (zu machen). Das dürfte den Erfolg Bayerns begründen, so, wie es auch in Baden-Württemberg am besten ging, solange die CDU dort allein regieren durfte. Koalitionen sind immer faule Kompromisse, die es erlauben, Versäumnisse auf den Koalitionspartner zu schieben.
Der Fraktionszwang ist nicht grundgesetzkonform
Lässt man aber den Parteienklüngel beiseite, könnten die Defizite des Verhältniswahlrechts überwunden werden. Mit einer Minderheitsregierung könnte man zu echter Demokratie finden. Der „Wahlsieger“, auch wenn er, wie in diesem Fall nur 26 Prozent (CDU ohne CSU) erreicht hat, stellt die Regierung. Grundgesetzkonform darf es keinen Fraktionszwang geben. Die Folge wäre, dass die Regierung so handeln muss, dass sie für ihre Politik eine Mehrheit im Bundestag findet. Jede Abstimmung darüber muss namentlich erfolgen, damit der Wähler sehen kann, wie „sein“ Abgeordneter abgestimmt hat und ihn in der Folge abstrafen oder belohnen kann. Die Koalitionskungelei hätte damit ein Ende und alle Parteien bzw. Abgeordnete kämen jetzt zu ihrem Recht, die ihnen wichtigen Positionen mehr oder weniger wirksam zu vertreten.
Koalitionsverträge sind überaus schädlich für effizientes Regieren. Ist der Vertrag erst einmal ausgehandelt, wird es schwer bis unmöglich, während der folgenden vier Jahre situationsnotwendige Änderungen in der Agenda durchzusetzen. Im Prinzip wird vorab beschlossen, was in der gesamten Legislaturperiode geschehen soll, ganz gleich, was die aktuelle Entwicklung an Notwendigkeiten mit sich bringt. Ganz anders eine Minderheitsregierung.
Es ist an der Zeit, neue Formen der Demokratie zu wagen
Eine Minderheitsregierung ist geradezu gezwungen, immer situationskonform zu handeln, eben weil sie auf einen breiten Konsens im Parlament angewiesen ist. Sie muss über die gesamte Periode hinweg auch auf die Bedürfnisse von Minderheiten eingehen, denn sie braucht jede Stimme. Im Gegensatz zu einem Koalitionsvertrag aber werden die Forderungen von kleinen Parteien nicht mehr überbewertet; sie können die große nicht mehr erpressen. Es ist der gesamte Bundestag in seiner Vielfalt, der darüber bestimmt, was wirklich mehrheitsfähig ist – eben auch die Opposition, die sich dann in einer ganz anderen Rolle wiederfindet. Es gibt keine aussichtslose Position mehr, so, wie es bislang bei Abstimmungen unter Fraktionszwang der Fall ist. Im Prinzip könnte bei Fraktionszwang auf die Abstimmung verzichtet werden, denn der Ausgang steht sowieso von vornherein fest. Die Gestaltungsmöglichkeit der Oppositionsparteien ist Null.
Der Charme einer Minderheitsregierung besteht auch darin, dass selbst die kleinste Partei einen Antrag oder Gesetzentwurf einbringen kann, und wenn dieser von einer Mehrheit als gut erkannt wird, dann wird er eben angenommen. Verweigert die Regierungspartei, dann wird sie eben abgewählt und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie das riskieren wird. Ich muss es hier wiederholen: Voraussetzung ist das Verbot des grundgesetzwidrigen Fraktionszwangs.
Die letzten Wahlen haben einen allgemeinen Unmut über den Zustand unserer Demokratie gezeigt. Wie sonst ist der Aufstieg der AfD zu erklären? Mit „Jamaika“ wird sich das sicher nicht verbessern. Es ist folglich an der Zeit, neue Formen der Demokratie zu wagen und warum sollte es nicht eine Minderheitsregierung sein? Allerdings wird sich Merkel massiv dagegen wehren, denn ohne Fraktionszwang und Koalitionsvertrag wird sie nicht wiedergewählt. Wer sonst in der CDU sollte dann den Kanzler spielen? Da habe ich einen ganz unkonventionellen Vorschlag: Holt euch doch einen Fachmann von außen, schreibt die Position des Kanzlers öffentlich aus! Er/sie muss kein CDU-Mitglied sein, nicht einmal Mitglied des Bundestags, nur die Zustimmung von genügend Abgeordneten haben! Dasselbe gilt für Minister. DAS wäre echte Demokratie!