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Politik und Krieg unter der nuklearen Schwelle

Eine Hintergrundanalyse von Dr. Wolfgang Caspart

Bekanntlich ist nach Clausewitz der Krieg ein Mittel der Politik. Daran hat sich auch in der globalisierten Welt nichts Grundsätzliches geändert. Nur die Kriegsmittel ändern sich. Die Taktik und damit die operativen Methoden entwickeln sich weiter, doch die Grundsätze der Strategie bleiben dieselben. Offensive und Defensive sind gleichbleibende Maßnahmen und verfolgen das Ziel, den Feind niederzuwerfen oder zu ermatten. Niederwerfungsstrategie und Ermattungsstrategie können einander auch abwechseln, wie eine Offensive sich tot laufen und zur Defensive nötigen und Defensiven in Offensiven umzuschlagen vermögen.

Der Begriff des Politischen meint mit Carl Schmitt (1927) den Kampf wider einen Gegner. Nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch will man sich in der Umwelt durchsetzen. Die Gesetzes- und Verfassungslage mildert die innenpolitischen Auseinandersetzungen, wogegen außenpolitisch nur der Angriffskrieg verpönt und der Verteidigungskrieg erlaubt ist. Staaten wollen und dürfen sich erhalten und verteidigen, haben aber immer wieder auch außenpolitische Ambitionen. Um sich nach außen durchzusetzen, erscheint es argumentativ vorteilhaft, sich nur verteidigen zu wollen und als Angegriffener dazustehen. Auch wenn man den Krieg haben und gewinnen will, darf man ihn nicht „machen“, ihn sichtbar anfangen oder als Kriegstreiber erscheinen.

Der Vorrang der Politik

In den meisten Fällen lässt sich darüber streiten, wer eigentlich der Angreifer und wer der Verteidiger ist. Die laufenden Interaktionen der Beteiligten verwischen ein klares Bild. Schon bei Gericht ist es schwer, die Schuldfrage eindeutig zu klären, und hinterlässt wenigstens auf einer Seite das Gefühl, durch einen Urteilsspruch Unrecht erhalten zu haben. Druck und Gegendruck, die diplomatischen Demarchen, Rüstungen und Gegenrüstungen, Aufmärsche sowie die Mobilisierung auf beiden Seiten lassen die Kriegsschuldfragen zu Objekten der Propaganda werden und hängen vom jeweiligen Standpunkt ab. Zu Recht spricht die Geschichtsforschung von Kriegsursachen, die aufzuklären schon schwierig genug sind, und vermeidet einfache Schuldzuweisungen.

Der Krieg ist eine Folge der Politik. Diejenigen, welche ihn auszufechten haben, also die Soldaten und das Militär, handeln im politischen Auftrag. Sofern die Regeln des Kriegsvölkerrechtes nicht verletzt werden, trifft die Kombattanten keine und die Politik alle „Schuld“. Im operativen und taktischen Sinn können Soldaten Fehler machen, nämlich Fehler in der Umsetzung des politischen Willens ihre politischen Vorgesetzten. Die Strategie legt die Politik fest und kann technisch bzw. situativ ebenfalls richtig oder falsch sein. Wie die Strategie der Politik folgt, gehen die Operationen aus der Strategie hervor. Nur die Taktik, also das Heranführen und der Gebrauch der Truppen für das Gefecht, unterliegt der alleinigen Verantwortung des Militärs, wogegen schon die kriegerischen Operationen in der Mitverantwortung der politischen Strategie stehen. Das Strategische wird immer von der Politik zumindest mitbestimmt, vor allem auch in Koalitionskriegen. Bezüglich der Strategie trägt die Politik die Hauptverantwortung, und das Militär hat die politische Strategie nur ins Technische zu übersetzen.

Was die Geschichte lehrt

Staaten im Besitz von ABC-Waffen und den dazugehörigen Trägerwaffen haben sich bisher gehütet, diese gegeneinander einzusetzen. Solange ein nuklearer Erstschlag den Feind nicht vollständig entwaffnet und niederschlägt, herrscht die Angst vor dem nuklearen Zweitschlag. Da man nie sicher sein kann, dass ein nuklearer Erstschlag wirklich vollständig gelingt, vermeidet ein offensiver Angreifer ihn und muss zu einer Eskalation auf niedrigerer Stufe greifen, solange er an seinen Ambitionen festhält. Dadurch ergeben sich die Chancen des Verteidigers und führen zu einer Defensivstrategie, die gleichfalls subatomaren Möglichkeiten folgt. Offensive und Defensive wechseln miteinander und gehen ineinander über. Eine gewisse Waffengleichheit scheint hergestellt, sofern die ursprünglichen Intentionen des Aggressors aufrecht erhalten bleiben.

Von nun an gelten die alten Regeln über die Vor- und Nachteile von Offensive und Defensive sowie ihren Wechselbeziehung. Während der Verteidiger möglichst alles zu decken sucht, benötigt der Angreifer eine Übermacht, wenigstens sucht er seine Kräfte auf einen Punkt zu konzentrieren, möglichst auf die Schwachstelle der Verteidigung. Gelingt dem Verteidiger – in der Regel durch den Einsatz von Reserven – ein Abschlagen des Angriffs, bricht er die Kraft des Angreifers und kann nun selbst zur Offensive übergehen. Bezweckt die Offensivstrategie das Niederschlagen oder sogar die Vernichtung des Gegners, will die Defensivstrategie den Feind ermatten, ermüden und auslaugen. Wirkliche oder angebliche Bedrohungen reizen zu Präventivschrägen und „preemptive wars“. Nicht zuletzt die Wut des scheinbar zunächst Angegriffenen sucht nach Rache und Bestrafung des ursprünglichen, tatsächlichen oder vermeintlichen Aggressors und führt zum Gegenschlag. Aus der Ermattungsstrategie entsteht damit eine neue, umgekehrte Niederschlagungsstrategie, spricht das Scheitern der Niederschlagungsstrategie des Einen kann zur Niederschlagungsstrategie des Anderen führen und tut es in der Regel auch. Im Zuge eines Krieges vermögen diese Positionen zudem mehrfach zu wechseln, und die Fülle der Gegensätze wächst. Die Kriegsgeschichte ist seit alters her voll von Beispielen dafür (Delbrück 1900-1920).

Neuere Kriegsgeschichte

Inder ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben relativ kleine und regionale Konflikte zu Weltkriegen geführt (1914 Serbien, 1939 Polen). Nach 1945 hat der Fluch und Segen der Atomwaffen ein unmittelbares kriegerisches Zusammentreffen der Großmächte verhindert und zu keiner direkten Niederschlagungsstrategie geführt. Die Nuklearmächte engagierten sich in konventionellen Kriegen allenfalls gegen nicht atomar Bewaffnete (Korea, Indochina, Afghanistan, Irak), was auch nicht unbedingt zu den erwünschten Ergebnissen führte. Deshalb griffen sie im Kalte Krieg zu anderen Mitteln: Stellvertreterkriege, Rüstungswettlauf, ökonomischer Druck, Unterstützung der ihnen jeweils nahestehenden Parteien, Propagandaschlachten, Desinformation, Subversion, Inszenierung von Putschen, Geheimdienstoperationen etc., um den Gegner zu ermatten und zu erschöpfen. Der Osten wie der Westen wechselten zwischen Offensiven und Defensiven, bis der sowjetische Osten durch eine reine Ermattungsstrategie des Westens zusammenbrach, wobei die unkoordinierte Politik Gorbatschows aus Glasnost und Perestroika in die sowjetische „Katastroika“ mündete (Caspart 2001).

Nachdem das Ende der Geschichte (Fukujama 1992) nicht eingetreten war und sich nicht nur im Islam, sondern auch in der Shanghai-Gruppe um das geschlagene Russland sowie China ein Gegenpol gegen den amerikanischen Globalismus aufgerichtet hat, kann das alte Spiel wieder von vorne beginnen. Ermattungsstrategien vermögen sowohl expansive Aggressoren einzunehmen, um den Gegner zum Aufgeben zu zwingen (siehe den Zusammenbruch der Sowjetunion), wie auch defensive Angegriffene können oder müssen sie ergreifen, wenn sie sich einem fremden Willen nicht beugen und den Gegner wenigstens zum Einlenken nötigen möchten. Das eigene Konzept schien den Amerikaner in der Jelzin-Ära gegenüber den nicht mehr verteidigungsbereiten oder -willigen Russen zu gelingen, bis diese unter Putin und Medwedjew auf eine selbstbewusstere Politik der Selbsterhaltung umgestiegen.

An der Kippe

Die vom „Westen“ inszenierten „regime changes“ und „Farbenrevolutionen“ überraschten im Nahen Osten wie in Russland die dort Regierenden. Oft war dabei die NATO erfolgreich (Ägypten oder Libyen) oder blieben stecken (Irak oder Afghanistan). Ihr strategisches Ziel hieß und heißt Russland. Als am Maidan in Kiew zuletzt ein Umsturz gelang, rüttelte dies die russische Führung endgültig auf und führte zur Annexion der Krim wie zur Abtrennung der Ostukraine. Schon vorher gab Russland gegenüber Georgien nicht nach, rang sich zur Verteidigung seiner Positionen auf und siegte. Als der „Westen“ in Fortsetzung seiner bisherigen Methoden noch das alewitische Regime der Baath-Partei in Syrien stürzen wollte, sprangen die Russen ihren alten Verbündeten energisch bei und schlugen den Angriff erfolgreich ab. Von allen Schlachtformen ist die Defensiv-Offensiv-Schlacht die wirksamste.

Mit chinesischer Unterstützung behauptete sich Russland und demütigte seine Gegner. Trotz seiner Hochrüstung, welche etwa der Hälfte der weltweiten Rüstungsausgaben ausmacht, stoßen die Amerikaner an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Solange sie sich der Loyalität ihrer Protektorate (Brzezinski 1997) noch sicher sind, sind sie nicht zu besiegen, nicht zuletzt aufgrund ihrer technologischen Überlegenheit. Ihre Verbündeten stellen Hilfstruppen und übernehmen teilweise die Kosten. Brechen diese allerdings weg, zeigt sich die strategische Überdehnung der Vereinigten Staaten. Dann müssten die USA mehr noch als jetzt die Shanghai-Gruppe auf ein Ermattungsstrategie zurückgreifen. In Europa wächst jetzt schon eine amerikakritische Opposition und wird mehr oder weniger heimlich von Russland unterstützt. In Asien wenden sich die Philippinen den Chinesen zu, und in Lateinamerika stoßen die „Gringos“ zunehmend auf Schwierigkeiten. In Afrika kaufen sich die Chinesen massiv ein und drängen die Euro-Amerikaner zurück. Für eine kurzfristige Niederschlagungsstrategie sind beide Seiten zu schwach, befinden sich heute fast schon in einem strategischen Gleichgewicht und sind gezwungen, lang anhaltende und ermüdende Ermattungsstrategien anzuwenden.

Die strategische Zukunft

Die weltpolitischen Strategien der beiden Hauptantagonisten müssten von Haus aus klar sein, wenn sie vernünftig agieren wollen. Ein durch die Niederlage der Sowjetunion triumphalistisch gewordener „Westen“ darf seine Schwächen nicht übersehen. Zwar besitzen die Vereinigten Staaten ein Netz von Protektoraten, die sich mit Brzezinski noch enger an Amerika anschließen wollen und damit aber ungewollt selbst zugeben, auf welch schwachen Beinen sie eigentlich ohne dem Hegemon und Beschützer stehen. In Afghanistan und dem Irak kommt man nicht weiter und bindet seine Kräfte, und in der Ukraine steht man vor einem Patt. Nachdem man in Syrien zunächst forsch zu destabilisieren begonnen hatte, ist man letztlich vor einer direkten Intervention zurückgeschreckt. Mit dieser Niederlage werden die engen Aktionsmöglichkeiten des Weltpolizisten unterhalb der nuklearen Schwelle deutlich. Die USA stehen trotz aller ihrer technologischen und materiellen Stärke vor ihrer strategischen Überdehnung, müssen bedächtiger werden, ihre Destabilisierung des Gegners vorsichtiger vorantreiben und möglichst suchen, die Shanghai-Gruppe auseinander zu dividieren, um doch noch die Feinde getrennt niederzuschlagen. Da mit Clausewitz (1832-1834) aber der Krieg voller Friktionen ist, wäre es immer noch geboten, sich rechtzeitig auf die Notwendigkeit einer Defensivstrategie vorzubereiten.

Russland und China dürfen sich nicht aufspalten lassen. Wenn Moskau oder Peking die Seite wechselt, geht der eine als erster unter, um dann als zweiter dasselbe Schicksal zu erleiden. Jeder muss sich innerlich stärken und koordiniert das Protektoriatsvorfeld des Gegners aufweichen und destabilisieren. Jeder ökonomische, ideologische, geopolitische und militärische Feind des Welthegemons ist ihr natürlicher Freund und energisch zu unterstützen. Kommt es zu einem Stellvertreterkrieg, kann man den Feind des Feindes auch durch eigene militärische Interventionen konventionell unterstützen, denn die andere Seite wird von einer direkten kriegerischen Auseinandersetzung mit eigenen Streitkräften Abstand nehmen, droht doch die nukleare Schwelle überschritten zu werden. Es gibt keine stärkere Kampfesform als die der Defensive, die im richtigen Augenblick in die Offensive übergeht. Ist der Feind dazu noch gleichzeitig an mehreren anderen Orten gebunden, wird er erst recht auf der Hut sein, sich noch einen weiteren Mühlstein um den Hals zu legen, weshalb er gezwungen wird, seinen eigenen Verbündeten aufzugeben. Gegen einen solcher Weise ermatteten Widerpart lässt sich allmählich zur Niederschlagungsstrategie übergehen. Die Geschichte ist und bleibt offen.

LITERATURNACHWEIS

– Zbigniew (Kazimierz) BRZEZINSKI: Die Einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Verlag Beltz Quadriga, Weinheim 1997.

– Wolfgang CASPART: Gorbatschow als Partner des Westens. Geschichte -Sozialphilosophie - Politische Psychologie. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2001.

– Carl von CLAUSEWITZ: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk. Zuerst 1832–1834 in drei Bänden. Vollständige Ausgabe im Urtext in einem Band, mit neuer historisch-kritischer Würdigung von Werner HAHLWEG. 18. Auflage. Ferdinand Dümmlers Verlag, Bonn 1971.

– Hans DELBRÜCK: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. 4 Bände. Verlag Georg Stilke, Berlin 1900–1920. Mehrfach nachgedruckt, z.B. Verlag de Gruyter, Berlin 2000.

– Francis FUKUYAMA: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Kindler Verlag, München 1992.

Carl SCHMITT: Der Begriff des Politischen. Zuerst 1927. In: Günter MASCHKE: Carl Schmitt - Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924 – 1978. Verlag Duncker und Humblot, Berlin 2005, S. 652-700.

– (Neue Ordnung 1/2017, Ares Verlag, Graz 2017, S. 9-11)

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