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Bringt uns Griechenland die Katharsis?

Von Peter Haisenko 

Vereinzelt konnte man bereits die Forderung nach einer europäischen Schuldenkonferenz hören, wenn über Griechenland diskutiert wird. In der Tat ist eine solche überfällig. Ebenso wie niemand ehrlich annimmt, dass Griechenland jemals seine Schulden zurückzahlen wird, gilt dasselbe für alle europäischen Schuldenstaaten – inklusive Deutschland. Früher oder später werden sich alle Länder in der Situation Griechenlands wiederfinden.

Beginnen wir mit einem einfachen Szenario: Brüssel verweigert weitere Hilfsleistungen für Athen, oder besser für das griechische Finanzsystem. Athen erklärt sich zum 30. Juni zahlungsunfähig, was den Schuldendienst anbelangt. Dazu ist die Frage zu stellen, was sich dadurch an der realen Welt ändert. Die Antwort ist einfach: Nichts. Die Folgen dieser Zahlungsunfähigkeit beschränken sich auf Auswirkungen auf Bilanzen der Banken inklusive EZB und IWF. Es verschwindet nicht einmal reales Geld. Diesbezüglich haben die Griechen vorgesorgt und allein in den letzten Monaten Milliarden an Bargeld nach Hause geschafft. Die Scheine dafür hat die EZB geliefert. Grob geschätzt hat jeder Grieche durchschnittlich etwa 20.000,- € unter dem Kopfkissen. Der Warenaustausch innerhalb Griechenlands kann mit diesem Bargeld vorerst nahezu ungestört fortgeführt werden.

Risiko-Transfer von den Banken zum Steuerzahler

Während der letzten fünf Jahre ist das Ausfallrisiko griechischer Staatsanleihen nahezu vollständig von den Banken zum Steuerzahler verlagert worden. Deswegen geht man davon aus, dass der Bankensektor eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands nur noch mit einem Stirnrunzeln unbeeindruckt zur Kenntnis nehmen wird. Beim IWF, der EZB, ESM und wie diese virtuellen Institutionen sonst noch benannt wurden, werden Umbuchungen fällig. Griechische Anleihen müssen dann realistisch bewertet werden. Sie müssen als das erkannt werden, was sie sowieso schon waren: Schuldscheine, die niemals eingelöst werden. Das Einzige, was sich real ändert ist, dass diese Schuldscheine keine Zinserträge mehr bringen. Der Steuerzahler wird insofern belastet, dass er jetzt auf diese Einnahmen verzichten und sogar selbst auch noch die Zinsen aufbringen muss, denn er wurde von seinen Regierungen in die Haftung gezwungen.

Noch einmal die Frage: Was ändert sich an der realen Welt, wenn in der völlig außer Kontrolle geratenen Finanzwelt irgendwelche Umbuchungen vorgenommen werden müssen? Kein realer Euro wird den Besitzer wechseln. Nur im Finanznirwana finden Umschichtungen statt und dieses Finanznirwana hat mit der realen Welt schon lange nichts mehr zu tun. Die irrsinnigen Summen, die dort herumgeschoben werden, übersteigen nicht nur die Vorstellungskraft, vielmehr sind sie ein Vielfaches der Wirtschaftsleistung der gesamten Welt. Sie dienen nur noch dazu, Superreiche mit Zinsen zu alimentieren und die Außenhandelsdefizite der USA und Großbritanniens zu verschleiern. Hier liegt das eigentliche Problem, warum die Schuldenkrise nicht vernünftig aufgearbeitet werden kann.

Schuldentilgung? – Bestenfalls ein schöner Traum

In den meisten europäischen Ländern übertrifft der Schuldenstand die Wirtschaftsleistung eines ganzen Jahres. Was bedeutet das? Um die Schulden zurückzuzahlen, müssten die Bürger ein ganzes Jahr lang – oder länger – ihr gesamtes Einkommen an die Gläubiger abliefern. Damit nicht genug. Auf vorzeitig getilgte Darlehensverträge müssen Vorfälligkeitsaufschläge bezahlt werden. Das kommt noch oben drauf. Ich denke, hier wird bereits der ganze Wahnsinn sichtbar. Auf der anderen Seite stehen aber die Guthaben. In Europa – mit Ausnahme von Großbritannien – übertreffen die Guthaben der (reichen) Bürger den Schuldenstand um mehr als das Doppelte. Auch diese Guthaben dürfen getrost als virtuell bezeichnet werden, denn auch hier gilt, dass diese Geldmenge die käuflichen Waren und Dienstleistungen um ein Mehrfaches übertrifft. Das heißt, die Reichen haben so viel Geld, dass sie es nicht ausgeben können. Allerdings ist auch hierzu wieder festzustellen, dass das nicht für die USA und Großbritannien gilt. Hier ist die Bevölkerung im Durchschnitt nochmals (privat) verschuldet in etwa derselben Höhe, wie die Staatsverschuldung. Diese zwei Staaten sind wirklich pleite und leben seit Jahrzehnten auf Kosten anderer.

Können ganze Staaten verkauft werden?

Doch zurück zum Szenario. Griechenland erklärt ein Schuldenmoratorium, Schulden und Zinsen werden nicht mehr bedient. Ein Insolvenzverfahren im herkömmlichen Sinn kann das nicht sein. Das nämlich würde bedeuten, dass ein Insolvenzverwalter bestellt wird, der feststellt, ob noch Masse vorhanden ist, um Gläubiger wenigstens teilweise zu befriedigen. Welche Masse hätte ein Staat? Seine Landmasse und/oder die Infrastruktur? Wie sollte das bewertet werden? Würde dann ein ganzer Staat in den Besitz (privater) Gläubiger überführt? Wohl kaum. Was passiert also realistisch, wenn ein Staat sagt, er könne nicht mehr zahlen? Wir kennen eine Vielzahl von Beispielen der letzten hundert Jahre, die belegen, dass eben all das nicht passieren kann. Die Gläubiger müssen ihre (virtuellen) Verluste tragen. Das ist eben das Risiko, wenn mit Gewinnabsicht Geld verliehen wird. Wiederum zeigt die Geschichte, dass auch dann die Welt nicht untergeht.

Privatisierungen bringen nur Peanuts

Auf der anderen Seite geschieht aber jetzt mit Griechenland genau das, was im Fall einer geregelten Insolvenz eigentlich ausgeschlossen werden muss. Griechisches Land und Infrastruktur sollen durch Privatisierungen veräußert werden, um wenigstens den Schuldendienst bedienen zu können. Dabei ist die Rede von einstelligen Milliardenbeträgen, die damit zu erzielen wären. Dass das nicht wirklich die Probleme lösen kann, ist sofort ersichtlich. Die gesamte Schuldenlast von 320 Milliarden kann so keinesfalls auch nur annähernd bedient werden. Die von der Troika befohlenen Privatisierungen sind folglich nichts anderes, als ein Ausverkauf der griechischen Nationalökonomie an privates Kapital, zu Schnäppchenpreisen und mit virtuellem Geld, ohne Bezug zur realen Welt. Man könnte sagen: Ein piratischer Gewaltakt, erzwungen mit der Finanzwaffe.

Euro oder Drachme?

Es wird immer wieder gesagt, Griechenland müsste bei einer Pleite – ich vermeide das Wort Insolvenz – den Euro verlassen. Kann das zwingend sein? Eher nicht. Auch wer in Privatinsolvenz geht, kann den Euro nicht verlassen, nicht fortan mit eigener Währung weiterleben. Er bleibt geschäftsfähig, mit Auflagen. Kredit bekommt er keinen mehr und wenn er Überschüsse erzielen kann, muss er diese an die Gläubiger abliefern, bis die Zeit der Insolvenz abgelaufen ist. Genauso kann mit Griechenland verfahren werden. Nach dem Schock der Pleite wird ein vom Schuldendienst befreites Griechenland die Kraft haben, nötige Reformen auf den Weg zu bringen und zurück zu Prosperität finden. Ich sehe keinen vernünftigen Grund, warum Griechenland im Fall der Zahlungsunfähigkeit aus dem Euro ausscheiden sollte. Das einzige Problem ist, dass es für die Zahlungsunfähigkeit eines Staates im Euro kein etabliertes, durchdachtes Verfahren gibt. Da ist der Jurist Schäuble naturgemäß überfordert.

Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass Europa auch Geld spart, das nicht mehr an Griechenland gezahlt werden muss, um den Schuldendienst zu leisten. Hier findet sich nämlich die nächste Perversion. So, wie es jetzt läuft, wird den Griechen Geld gegeben, das sofort wieder zurückgebucht wird – nur auf andere (Bank-)Konten. Der Gläubiger gibt dem Schuldner neuen, höheren Kredit, damit er alte Schulden in neue umwandeln kann. Natürlich oft zu höheren Zinsen, weil er ja ein bekannt unzuverlässiger Schuldner ist. Ein Teufelskreis, der nur im Unendlichen landen kann, wenn, ja wenn nicht ein harter Schnitt diesen Teufelskreis unterbricht. Seien wir uns dessen bewusst, dass alle Schuldenstaaten im selben Teufelskreis gefangen sind. Schulden werden nicht getilgt, sondern nur mit neuen verlängert – und vergrößert.

Wir brauchen die Katharsis

Genau aus diesem Grund ist eine europäische Schuldenkonferenz überfällig. Das versucht Varoufakis den anderen Finanzministern zu vermitteln. Dass diese das nicht verstehen können, sollte niemanden erstaunen. Tatsache ist, dass außer Varoufakis kein einziger Finanzminister ein Finanzfachmann ist. Wer wundert sich da noch, dass gerade unser Schäuble – als Jurist – nichts anderes gebetsmühlenartig wiederholen kann als, “Verträge müssen eingehalten werden”. Was will derselbe Schäuble aber tun, wenn die Zinsen für deutsche Staatsanleihen wieder ansteigen? Wenn er dann mal eben 50 Milliarden pro Jahr mehr locker machen muss für den deutschen Schuldendienst? Wird er, der Finanzminister desjenigen Landes, das als erstes die Euro-Verträge gebrochen hat, immer noch so locker sagen: “Verträge müssen eingehalten werden”? Ach ja, das wird ihn nichts mehr angehen, weil er dann nicht mehr Finanzminister sein wird.

Griechenland hat mehrfach Reformvorschläge präsentiert. Brüssel, allen voran Schäuble, sagen immer wieder, dass das nicht reicht. Ich selbst habe mir die Liste vom April (!) 2015 angesehen und muss feststellen, ich bin beeindruckt. (Machen Sie sich Ihr eigenes Bild hier.) Noch nie hat ein Staat derart umfassende Reformpläne überhaupt angedacht. Man kann davon ausgehen, dass griechische Vorschläge nur dann akzeptiert werden, wenn sie Punkt für Punkt dem entsprechen, was Brüssel diktiert (vergleiche Sanktionen gegen Russland). Nun, das hat Brüssel schon fünf Jahre so getan – ohne den geringsten Erfolg. Wozu das EU-Diktat geführt hat, waren eine Verdoppelung der griechischen Schulden und einer menschenunwürdigen Verarmung der Bevölkerung. Diesen Irrweg wollten die Griechen nicht länger mitgehen und haben deswegen eine neue, ganz andere Regierung gewählt.

Griechenland verdient eine faire Chance

Ein faires Verhalten der EU wäre jetzt, dieser neuen Regierung mit ihrem neuen Ansatz mindestens zwei Jahre Zeit zu geben, ihren Weg zum Erfolg zu führen. Das Gegenteil findet statt. Tsipras kann praktisch nicht an seinem Regierungsprogramm arbeiten, weil er ständig mit Brüssel verhandeln muss. Das kleine Griechenland kann als Versuchslabor gesehen werden, in dem neue Wege erprobt werden. Man müsste also von Brüssel aus sagen, dass der griechische Schuldendienst für zwei Jahre nicht bedient werden muss, alles für zwei Jahre ausgesetzt wird. Danach, und erst dann kann beurteilt werden, ob der Weg der Regierung Tsipras erfolgreich sein kann, oder eben nicht. Aber genau davor fürchten sich unsere etablierten Finanzkasper. Es könnte ja sein, dass der neue Weg tatsächlich erfolgreich ist. Und was dann? Dann werden die Bürger ganz Europas erkennen, dass und wie sie seit Jahrzehnten von ihren Häuptlingen mit einer vollkommen falschen Finanzpolitik betrogen und beraubt worden sind, die nur den Interessen der Finanzgewaltigen dient.

Früher oder später wird es eine europäische Schuldenkonferenz geben müssen. Ich sage hier ganz klar, dass es unumgänglich sein wird, alle, restlos alle Schulden schlicht und einfach zu annullieren und neue, strikte Regeln aufzustellen. Nichts außer den Schulden, dem virtuellen Geld, wird von der Welt verschwinden. Ich denke, wir sollten den Griechen dankbar sein, wenn sie der Auslöser für diese längst überfällige Katharsis sind.

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