Der prekäre Weg zum (europäischen) Insolvenzrecht für Staaten
Von Peter Haisenko
Während der letzten hundert Jahre haben wir eine Vielzahl von Staatspleiten erlebt. Dennoch gibt es bis heute im Völkerrecht kein anerkanntes Verfahren für die Insolvenz von Staaten. “Irgendwie” hat es aber doch immer wieder funktioniert. Der Fall Griechenland zeigt nun ein neues Problem: Es ist der erste Staat, der eingebunden in eine Währungsunion faktisch pleite ist. Habe ich da nicht etwas vergessen? Puerto Rico, im US-Dollar?
Griechenland – und nicht nur Griechenland – braucht eine nachhaltige Lösung seiner Schuldensituation. Das ewige, kurzfristige (kurzsichtige) Stopfen von Löchern kann da nicht zukunftsfähig sein. Im privaten Bereich wurde aus diesem Grund die Privatinsolvenz eingeführt, die nach sechs Jahren einen unbelasteten Neustart ermöglicht. Hierzu gibt es Definitionen, wann eine Insolvenz unumgänglich ist. Warum gibt es das nicht für Staaten? Die Antwort ist einfach: Das Finanzsystem, das in die Schuldenfalle geführt hat, würde nicht mehr funktionieren; die Macht des politischen Gelds wäre gebrochen.
Mehr Ingenieure braucht das Land
Die natürliche Aufgabe eines jeden Ingenieurs ist die Lösung von Problemen, sein Denken ist stets ergebnisorientiert. Ein Jurist hingegen sieht und macht Probleme, selbst wenn es nach Maßstäben des gesunden Menschenverstands gar keine gibt. Er kann nur arbeiten, wenn er Gesetzesvorlagen folgt und sich an festgeschriebenen Vorgaben orientiert. Der Ingenieur aber muss kreativ sein, wenn er sich einem Problem gegenüber sieht. Natürlich braucht eine objektive Justiz auch Juristen, die stur nach dem Buchstaben des Gesetzes argumentieren und letztlich Urteile fällen. Aber betrachtet man, wie viele Juristen in der Politik und Ministerämtern sind und wie wenige Ingenieure dagegen stehen, dann muss man sich nicht mehr wundern, dass Politik immer tiefer in Problemen versinkt, anstatt kreative Lösungen zu finden und auch durchzusetzen. Das Übergewicht von Juristen und juristischem Denken tut der Politik nicht gut. Hier sollten viel mehr Ingenieure mit ihrem lösungsorientierten Denken aktiv sein – und nebenbei bemerkt, wären an der Stelle auch noch ein paar Geisteswissenschaftler nicht verkehrt, die bei manchen Problemen den Akzent auf soziologische, ethische und philosophische Aspekte legen könnten.
Das Hauptproblem ist der IWF
Brüssels Problem und das der Finanzminister, die meist Juristen sind, liegt darin, dass es kein etabliertes Verfahren gibt, das einen Umgang mit überschuldeten Staaten vorgibt. Die Juristen sind hilflos, weil sie das, was ihnen vertraut ist, hier nicht anwenden können: Die juristisch einwandfreie Auslegung eines Gesetzes. Deswegen wird hinter vorgehaltener Hand darüber diskutiert, noch in diesem Jahr ein Insolvenzrecht für (europäische) Staaten zu etablieren. Bis es so weit ist, muss Griechenland irgendwie (finanziell) am Leben erhalten werden.
Ein weiteres Problem ist der IWF. Wiederum hinter vorgehaltener Hand wird gesagt, dass das Hauptproblem in den Verhandlungen mit Griechenland die sture Haltung des IWF ist. Dieser ist vor fünf Jahren von Kanzlerin Merkel ins Boot geholt worden, wohl mit dem Ziel, Verantwortung auf den IWF abzuschieben. Das soll nun korrigiert werden, indem irgendeiner der mittlerweile unzähligen Rettungsfonds für Banken und andere undefinierte Institutionen die griechischen Schulden beim IWF auslösen soll. Erst danach ist eine ungestörte innereuropäische Lösung denkbar, ein rein europäischer Umgang mit überschuldeten Staaten. Aber welche Konsequenzen würde ein Insolvenzrecht für Staaten haben?
Der Domino-Effekt scheint unausweichlich
Zuallererst muss eine Definition festgelegt werden, wann ein Staat Insolvenz beantragen kann oder muss. Dann müssen die Folgen einer geregelten Insolvenz vereinbart werden. Die Privatinsolvenz sieht ein Leben unter Kuratel für die Dauer von sechs Jahren vor, danach darf ein unbeschwerter, schuldenfreier Neustart hingelegt werden. Es erscheint höchst zweifelhaft, einen Staat für eine längere Zeit unter Kuratel zu stellen. Dass er nach einer Insolvenz keine neuen Kredite erhält, ist schon eher realistisch. Wie also soll eine Regelung aussehen für die Zeit nach der Insolvenz?
Gewiss ein sehr komplizierter Vorgang. Deshalb wollen wir an der Stelle nur die Folgen betrachten, sobald eine Grenze für ein Staatsinsolvenzverfahren existiert. Aller Voraussicht nach würde diese Grenze aktuell so festgelegt werden, dass nur Griechenland darunter fällt. Dass ein solches Insolvenzverfahren zu einem Schuldenschnitt führen muss, wenn nicht zur vollständigen Annullierung der Schulden, ist unumgänglich. Danach wird es einen Staat geben, der frisch und frei einen Neuanfang hinlegen kann. Wie werden die anderen Schuldenstaaten daraufhin agieren? Es steht zu erwarten, dass alle Staaten ganz schnell weitere Schulden aufnehmen werden, bis sie ebenfalls die Grenze zur Insolvenz überschreiten und anschließend ihre Schulden los sind. Hier zeigt sich, warum es genau dieses Insolvenzrecht bislang nicht gibt.
Schulden, die nicht beglichen werden können, müssen annulliert werden
Das deutsche Privatinsolvenzrecht ist geschaffen worden, damit jeder die Chance hat, immerwährender Schuld zu entkommen. Ein wesentliches Element für die Privatinsolvenz ist, ob der Schuldner seine Schulden zu seinen Lebenszeit begleichen kann. Wir wissen nun, dass kein Schuldenstaat seine Schulden begleichen wird, während unser aller Lebenszeit, inklusive Neugeborener. Hier ist ein weiterer Aspekt zu beachten. Im Privatrecht kann man ein Erbe ablehnen, auch oder vor allem dann, wenn es nur aus Schulden besteht. Die neue Regierung eines Staates kann das nicht. Warum eigentlich? Ich denke, auch hier wird sichtbar, wie unsinnig, undemokratisch das gesamte System der Staatsverschuldung ist – und von Anfang an war.
Spätestens dann, wenn ein Staat eine Schuldenquote von mehr als zwanzig Prozent seines BIP hat, mit ansteigender Tendenz, muss jeder Fachmann wissen, dass diese Schulden niemals mehr getilgt werden; dass sie nur noch durch neue und ansteigende Kredite weiter bedient werden können. Folglich muss die Weiterführung dieses Systems einem ganz andern Ziel dienen, als der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Schuldenstaaten. Dieses System ist einzig und allein darauf ausgerichtet, Zinserträge an Begüterte zu liefern und Staaten erpressbar zu machen. In diesem Sinn kann festgestellt werden, dass diese Schulden illegal sind und somit nicht bedient werden müssen.
Wenn eine Bank einen Kredit vergibt – privat – ohne darauf zu achten, ob der Kreditnehmer solvent genug ist, also eine realistische Aussicht auf Rückzahlung besteht, dann handelt sie nicht nur fahrlässig, sondern kriminell. Dieser Kredit ist verloren, sobald der Schuldner in Insolvenz geht. Das ist die faktische Anerkennung, dass dieser Kredit unrechtmässig vergeben worden ist, also nicht eingefordert werden darf. Dass das auch schon mit Staaten ähnlich gelaufen ist, zeigt das Beispiel Puerto Rico. Als die USA diesen überschuldeten Inselstaat in ihr Reich eingliedern wollten, haben sie dessen Schulden einfach als unrechtmäßig erklärt, denn diese Altlast wollten sie nicht mitschleppen. Sie haben festgelegt, dass die vorherigen Regierungen Puerto Ricos in diktatorischer Weise gegen den Volkswillen agiert und Schulden aufgenommen haben, für die die neue – jetzt amerikahörige – Regierung nicht haftbar zu machen sei. Man vergleiche die Haltung Brüssels gegenüber der neuen griechischen Regierung.
Staatsgefährdendes System der Staatsanleihen
Nicht nur Griechenland leidet unter Zinsverpflichtungen. In Deutschland zum Beispiel muss ein Schuldendienst gestemmt werden, der momentan bei etwa 30 Milliarden/Jahr liegt. Er ist so niedrig, weil Deutschland, im Gegensatz zu Griechenland, von unglaublich niedrigen Zinsen profitiert. Trotz des geringen Schuldendienstes muss aber auch hier erkannt werden, welche Konjunkturprogramme mit 30 Milliarden gefahren werden könnten, dass z.B. Löhne in anständiger Höhe bezahlt werden könnten, wenn dieser Schuldendienst nicht mehr geleistet werden müsste. Wir und die meisten Staaten Europas wären die größten Probleme los und könnten wieder soziale Politik machen.
Wir brauchen ein Insolvenzrecht für Staaten ebenso, wie dieses Insolvenzrecht beinhalten muss, dass sich Staaten in Zukunft nicht mehr ausufernd verschulden können/dürfen. Vergessen wir nicht: Wenn ein Staat Schulden aufnimmt, ist das immer eine versteckte Steuererhöhung und zwar zu Gunsten der Begüterten. Diese kaufen die Staatsanleihen und werden dafür mit Zinsen belohnt. Die Rückzahlung aber, oder die Bedienung der Zinsen, obliegt dem “kleinen Mann”. Bevor ein Staat also Staatsanleihen ausgibt, müsste er sehen, wie er dieselben Einnahmen von denjenigen direkt einzieht, die diese Anleihen kaufen können, in Form von Steuern.
Wo das bisherige Schuldensystem hinführt, zeigt nicht nur Griechenland überdeutlich: Die Privatvermögen dort übertreffen den gesamten Schuldenstand um etwa das Doppelte. Das gilt auch für Deutschland. Hieran wird deutlich, wie unsozial, geradezu staatsgefährdend das System der Staatsanleihen ist. Es ist der Kotau des Staats gegenüber seinen reichen Bürgern und in der Folge gegenüber den Finanzkonzernen.
Besser gleich komplette Entschuldung
Ein Insolvenzrecht für Staaten führt früher oder später zur kompletten Entschuldung aller Staaten. Nehmen wir Europa, im Falle dass Griechenland in die Insolvenz geht. Dann wird die griechische Schuldenlast irgendwie auf die übrigen Europäer übertragen. Wenn es dann eine definierte Grenze für den Eintritt in die Insolvenz gibt, werden allein aus diesem Grund weitere Staaten in die Insolvenz folgen, bis zum Schluss nur noch Deutschland übrig bleibt. Man muss nicht weiter darüber nachdenken, dass spätestens dann auch Deutschland in die Insolvenz muss. Das heißt, früher oder später sind in jedem Fall alle europäischen Staaten insolvent. Was folgt daraus?
Gleichzeitig mit einem Insolvenzrecht für Staaten muss ein kompletter “Reset” des Schuldensystems erfolgen, denn ein wie auch immer geartetes Insolvenzrecht für Staaten wird dazu führen, dass sequentiell alle Staaten entschuldet werden. Wenn also der IWF aus dem Spiel genommen ist und Europa seine Schulden einfach annulliert, was könnte geschehen? Können “Kanonenboote” entsandt werden, um diese Schulden einzutreiben? Können Banken, die am meisten Betroffenen, ihre Regierungen zwingen, Gewalt anzuwenden gegen Schuldner? Sicher nicht.
Nun gibt es die Finanzwaffe. Diese wird seit langer Zeit skrupellos eingesetzt. Aber die Finanzwaffe ist darauf angewiesen, dass die (selbstgemachten) Regeln eingehalten werden. Es obliegt jedoch den Staatsregierungen, über diese Regeln zu bestimmen. In Griechenland hat nun der Souverän, das Volk entschieden, dass man sich nicht mehr dem Diktat falscher, ausbeuterischer Regeln unterwerfen will. Es ist jetzt an den anderen europäischen Regierungen, diesem Schritt zu folgen, wenn sie nicht untergehen wollen. Es ist die Politik, die entscheiden muss, ob wir weiter in Zinsknechtschaft leben sollen. Es ist die Politik, die im Sinne einer konstruktiven Ingenieursleistung einen Ausweg aus der Schuldenkrise finden muss. Vergessen wir nicht: Wenn Schulden annulliert, als illegal erklärt werden, verschwindet nichts von dieser Welt, dem wir nachtrauern müssten. Es verschwindet lediglich ein Haufen Schulden – und die sind sowieso irreal, illegal, virtuelles Geld ohne echten Wert.