Wirtschaft und Gesellschaft: Machen wir vielleicht ALLES falsch?
Von Peter Haisenko
Der technische Fortschritt der letzten 70 Jahre ist immens. Dennoch müssen wir erleben, dass wir nicht weniger, sondern mehr arbeiten müssen, zu immer schlechteren Bedingungen. Liegt das einfach an einem gnadenlosen Kapitalismus oder ist es versäumt worden, die richtigen Fragen zur richtigen Zeit zu stellen?
Es ist gerade mal gut 100 Jahre her, da war die Landwirtschaft der entscheidende Faktor für den Wohlstand einer Nation. Fast alles war auf Handarbeit angewiesen und dementsprechend hoch war der Anteil der Bevölkerung, die in der Landwirtschaft arbeiten musste. Dann folgte die Mechanisierung der Landwirtschaft und fortan ging der Anteil an Landarbeitern drastisch zurück. Diese konnten jetzt in der Industrie arbeiten, ihren Intellekt und Erfindungsgeist zur Weiterentwicklung der Technik zur Verfügung stellen. So konnte der technische Fortschritt ein atemberaubendes Tempo entwickeln. Ehemalige Handarbeit konnte mehr und mehr durch Maschinen ersetzt werden.
Heute ist der Anteil an menschlicher Arbeit nicht nur in der Landwirtschaft so weit reduziert, dass er volkswirtschaftlich kaum noch eine Rolle spielt. Dafür werden die Menschen jetzt zuvorderst in der Industrieproduktion eingesetzt, nicht zu vergessen in der Verwaltung. Bürokratiemonster beschäftigen Heerscharen von klugen Köpfen und halten sie von produktiver Arbeit ab. All das ist nur möglich, weil die Arbeitskräfte für die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln nicht mehr benötigt werden. So förderlich und geradezu zwingend diese Entwicklung für den Wohlstand der Bevölkerung war, ist der Zeitpunkt verpasst worden darüber nachzudenken, von welchem Zustand an die Produktion von Technik mehr Arbeitsaufwand benötigt als sie Entlastung bringt. Ich denke, in manchen Bereichen ist die Bilanz schon seit geraumer Zeit negativ.
Wo liegt das Optimum zwischen Handarbeit und weitgehender Mechanisierung?
Neulich zappte ich durch die TV-Programme und blieb bei „Trecker Babes“ hängen. Da wurde eine fesche junge Frau gezeigt, die mit ihrem Monster-Trecker ganz allein die Ernte von riesigen Flächen einbringt. Bewundernswert! Der Bericht als solches hat mich aber spontan an die Erzählungen meines Vaters erinnert, aus seiner Zeit in der Sowjetunion. Schon damals mussten die „Kombines“ (frühe Modelle eines Vollernters) genau mit den Fahrzeugen für den Abtransport koordiniert werden, damit alles reibungslos ablaufen kann. Die Maschinen mussten in einwandfreiem Zustand erhalten werden und die Menschen in Stalins Reich standen unter enormem Druck. Exakt Dasselbe wurde jetzt in diesem Bericht für die modernen Trecker-Führer dargestellt. Da kam mir die Frage in den Sinn, worin denn der Fortschritt zu sehen ist, wenn die Menschen heute, fast ein Jahrhundert später, wieder unter demselben Druck stehen wie unter Stalins Knute. Irgendetwas muss da in der Entwicklung total schief gelaufen sein.
Meine Überlegungen dazu kamen schnell zu dem Punkt, dass die Frage nicht geklärt worden ist und wird, wo denn das Optimum liegt, zwischen Handarbeit und weitgehender Mechanisierung. Es ist ja nicht so, dass all die schönen Maschinen auf dem Feld wachsen. Je größer und komplexer sie werden, desto größer und komplexer wird der Aufwand, der zu ihrer Herstellung und Wartung benötigt wird. Wann ist der Punkt überschritten, wo zum Beispiel mehr Arbeitsaufwand für die Maschinen nötig ist als sie Arbeitskraft einsparen? Betrachten wir dazu die Monster-Trecker.
Solange die Landmaschinen einigermaßen einfach waren in Herstellung und Wartung, war die Sache klar. 80 Prozent und mehr konnte an Landarbeitern eingespart werden und nur ein Bruchteil davon wurde für die Produktion der Landmaschinen benötigt. Aber jedes System kommt irgendwann an den Punkt, wo eine weitere Einsparung an Arbeitskräften durch Maschinen nicht mehr zielführend sein kann. Wo die Entwicklung und Produktion der Maschinen eines höheren Aufwands bedarf, als Arbeitskräfte dadurch eingespart werden können. Gerade an der Landwirtschaft wird das deutlich. Die mechanisierte Landwirtschaft hat schon lange einen sehr geringen Bedarf an menschlicher Arbeitskraft. Will man diesen sowieso schon geringen Anteil weiter verringern, mit noch größeren und komplizierteren Maschinen, kann die Personalreduzierung nur noch so geringfügig sein, dass sie volkswirtschaftlich nicht mehr relevant ist. Hier muss die Systemfrage gestellt werden.
Technik um der Technik Willen bringt uns nicht weiter
Welchen Sinn kann es noch haben, wenn mit dem neuesten Monster-Trecker eine Arbeitskraft pro Hof eingespart wird, aber zur Entwicklung und Produktion dieser Maschinen mehr Menschen gebraucht werden, als sie auf der anderen Seite einsparen können? Dazu muss man natürlich den gesamten Bereich beleuchten, der zur Produktion der Maschinen gehört. Es beginnt mit der Förderung der Erze, die zum Bau notwendig sind. Schon hierfür braucht man Maschinen. Nicht nur zum Bau der Maschinen selbst, sondern auch für die Maschinen, die zur Produktion der Maschinen hergestellt werden müssen. Heerscharen an Ingenieuren und Facharbeitern sind daran beteiligt. Auch der Transport für Erze muss eingerechnet werden. Da braucht es Schiffe, für deren Herstellung dasselbe gilt wie für das Endprodukt Maschine. Das Ganze muss auch noch verwaltet werden. Es geht weiter. Hochkomplexe Elektronik und GPS-Steuerung sind nicht vom Himmel gefallen. Allein der Aufwand, die Satelliten in die Umlaufbahn zu schießen, ist gewaltig und auch die Elektronik braucht Erze und viel Hirnschmalz der Ingenieure. All das, um nur noch eine Arbeitskraft mehr pro Hof einzusparen?
Meine Betrachtungen zur Landwirtschaft gelten natürlich auch für viele andere Bereiche. Dazu kommt, dass all das nur möglich ist mit stetig wachsendem Energieeinsatz und auch der benötigt menschliche Arbeitskraft. Es ist mir nicht gelungen, eine umfassende Arbeit zu diesen Themen zu finden. Im Rausch der Technik hat man versäumt, eine Bilanz zu erstellen, von welchem Punkt an Weiterentwicklung und Einsatz der Technik mehr Arbeitskraft verbrauchen, als sie am anderen Ende einsparen kann. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin ein Freund neuer Technologien, aber dazu muss immer auch die soziale Frage beantwortet werden und genau das findet nicht statt. Was wir erleben, ist Technik um der Technik Willen – unreflektiert.
Wo ist der Fortschritt, wenn wir immer mehr arbeiten müssen?
Immer wieder wird die Frage gestellt, wie es sein kann, dass zwar die Technik enorme Fortschritte gemacht hat, wir aber auch immer mehr arbeiten müssen. Während es noch in den 1970-er Jahren eher die Regel war, dass die Arbeit eines Familienmitglieds die ganze Familie versorgen konnte, kommen heutzutage manche Familien kaum noch zurecht, selbst wenn beide Elternteile in Lohn und Brot stehen, nicht selten sogar mit Mehrfach-Jobs. Während vor mehr als 30 Jahren die 30-Stundenwoche zur Norm werden sollte, gibt es heute kaum noch jemanden, der unter 40 Stunden liegt, plus Überstunden. Wo ist da der Fortschritt im Sinne eines lebenswerten Lebens? Wie konnte es dazu kommen?
Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass die Ursache darin liegt, dass man sich zu wenig bis keine Gedanken darüber gemacht hat, ab welchem Punkt die Bilanz für den Einsatz von Technologien zur Einsparung von Arbeitskraft negativ wird. Einfach deswegen, weil die neuen Technologien selbst so arbeitsintensiv sind, dass sie die möglichen Einsparungen übertreffen. Wie gesagt, auch die Produktion und Entwicklung von Computern beginnt mit der Förderung der benötigten Erze und deren Transport. Und jeder hat es erlebt, wie die Computer, die uns schon viel Arbeit abnehmen, uns auch zu oft eine Menge Zeit stehlen, wenn wieder einmal etwas nicht auf Anhieb funktioniert.
Natürlich sind mit der Entwicklung der Technik auch unsere Ansprüche gestiegen. Dennoch muss auch hier die Frage nach der Gesamtbilanz gestellt werden. Ist es mir tatsächlich den Aufwand von zehn Stunden Arbeit pro Woche wert, damit ich das neueste Modell an Smartphone oder Auto haben kann? Ist es noch sinnvoll, wenn jeder Hersteller von Autos pro Jahr zehn oder mehr neue Modelle anbietet? Oder andauernd neue Smartphones? Wäre es nicht besser für die Gesamtbilanz, wenn die Modellwechsel in erheblich größeren Abständen kämen, dafür aber ausgereift sind und weniger Arbeitskraft verbrauchen? Ich erwähne in dem Zusammenhang Obsoleszenz nur am Rande. Auch für dieses Phänomen muss eine Unmenge an Arbeit geleistet werden, die eigentlich nur unsinnig ist und bezahlt werden muss.
Planlosigkeit und Technologiegläubigkeit mit fatalen Folgen
Die vergangenen Jahrzehnte sind geprägt von Planlosigkeit. Man hat einfach dahin gewurstelt, im blinden Glauben an Technik, an die Weisheit der Märkte und die Globalisierung. Geld, immer nur Geld ist das Maß der Dinge. Und ja, wenn es ums Geldverdienen geht, ist die Rechnung aufgegangen – für eine „Elite“. Der „normale“ Mensch, der für ein halbwegs lebenswertes Leben hart arbeiten muss, ist dabei unter die Räder gekommen. Niemand hat sich Gedanken darüber gemacht, inwieweit die Möglichkeiten der Technologie auch Nutzen für das menschliche Wohlbefinden haben; von wo an sie nicht mehr dem Menschen dienen, sondern ihn zum Sklaven seines eigenen Erfindungsreichtums machen. Diese Plan- und Hirnlosigkeit hat dazu geführt, dass wir mehr und mehr schuften müssen, um dem Technikwahn zu dienen.
Das Finanz- und Wirtschaftssystem ist am Ende angelangt. Das kann jeder sehen. So, wie wir uns sehr ernsthafte Gedanken über das Finanzsystem machen sollten, ist es nicht weniger wichtig, eine Bilanz zu erstellen, inwieweit zu viel Technologisierung unser Dasein negativ beeinflusst; zu mehr Arbeit zwingt, als sinnvoll und notwendig ist. So brauchen wir nicht nur frische Ideen zum Finanzsystem, sondern auch und vor allem darüber, wie wir uns ein optimales Leben wünschen. Kann es sinnvoll sein, in der Mucki-Bude zu schwitzen und gleichzeitig jegliche körperliche, aber sinnvolle Arbeit von sich zu weisen?
Haben wir also während der letzten Jahrzehnte ALLES falsch gemacht? Nein, nicht alles, aber offensichtlich zu viel. So sind wir nicht erst jetzt an dem Punkt angelangt, wo die Welt einen „Reset“ braucht, eine Besinnung auf Werte, die ganz sicher nicht die der „westlichen Wertegemeinschaft“ sein können, denn diese sind fixiert auf Geld und Macht – weit entfernt vom Humanismus. In diesem Sinn bleibt mir nur noch, auf unser Modell der „Humanen Marktwirtschaft“ zu verweisen. Hier stehen das Wohlergehen des Einzelnen und eine Wirtschaft, die dem Menschen dient und ihn nicht ausbeutet, im Mittelpunkt. Die Quintessenz unserer Überlegungen: Wirklicher Fortschritt ist eine Marktwirtschaft, die das Attribut „human“ verdient, und um das zu erreichen, muss die Allmacht des Kapitals gebrochen werden. „Die Humane Marktwirtschaft“ nach Haisenko/von Brunn ist erhältlich im Buchhandel oder direkt zu bestellen vom Verlag hier.
Wie war das damals in den 1930-er Jahren mit der Landwirtschaft in der Sowjetunion? Wieviel Zeit wurde damit verbracht, die Erntemaschinen zu reparieren? Die Lebensgeschichte meines Vaters, erzählt in einem spannenden Roman, gibt nicht nur darüber Auskunft, sondern auch darüber, wie schnell man unschuldig ins Todeslager kommen konnte. Mein Vater konnte daraus entfliehen und musste fortan ein Leben im Untergrund führen. Die Beschreibung seines Wegs ist ein einmaliges Zeitdokument, denn es beschreibt aus der Sicht eines jungen Russen, wie er den Deutschen begegnet ist, seinen Weg nach Westen gemacht hat, letztlich nach Deutschland, über Episoden bei der Roten Armee, den Partisanen und zum Schluß bei der Wehrmacht. In Band zwei erfährt man, dass schon damals die Westukrainer einen tiefen Hass auf die „Moskali“ pflegten und Menschen umgebracht haben, nur weil sie polnische Freunde hatten. Wer diesen spannenden und authentischen Roman gelesen hat, wird besser verstehen können, was sich heute in Russland und der Ukraine abspielt. „Der Weg von Don zur Isar“ ist erhältlich im Buchhandel oder direkt zu bestellen beim Verlag hier.