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Warum gibt es immer wieder Flugunfälle bei Turbulenzen?
Von Peter Haisenko
Der Turbulenzunfall der Singapur-Airline vor zwei Wochen hat es in die weltweite Berichterstattung geschafft, weil es viele Verletzte und einen Toten gegeben hat. Tatsache ist aber, dass es mehr derartige Vorfälle gibt, ohne ernsthafte Verletzungen, über die nicht berichtet wird. Aber wie kommt es überhaupt dazu?
Von Anfang an war die Entwicklung der Luftfahrt gekennzeichnet vom Prinzip „Versuch und Irrtum“. Viele Pioniere haben dabei ihr Leben lassen müssen. Bis heute ist dieses Prinzip immer noch in Anwendung und bei der Untersuchung der Ursachen von Flugunfällen wird nach dem Fehler gesucht, um Verfahren zu entwickeln, einen gleichartigen Unfall in Zukunft vermeiden zu können. Manchmal dauert die Erkenntnisfindung sehr lange und manche „eisernen“ Regeln mussten über den Haufen geworfen werden. So war es zum Beispiel beim Umgang mit Scherwinden im Landeanflug und Turbulenzen sind ein Teil davon.
In den 1960er und 1970er Jahren gab es einige Abstürze, weil man noch nicht wusste, welche Kräfte Scherwinde auf ein Flugzeug im Endanflug ausüben können. Die meisten davon hätten nicht geschehen müssen, wenn anders gelehrt und trainiert worden wäre. Diese Erkenntnis setzte sich aber erst Ende der 1970er Jahre durch. Ich hatte meinen Anteil daran. Um verstehen zu können, worum es hier geht, müssen wir kurz in die Aerodynamik und Grenzwerte einsteigen. Ein Flugzeug kann nur fliegen innerhalb eines definierten Bereichs der Vorwärtsgeschwindigkeit. Dieser Bereich ändert sich mit der Flughöhe. Doch dazu später mehr.
Der Hersteller erstellt den Rahmen für Trainingsinhalte
„Normale“ Linienpiloten werden trainiert, immer innerhalb des vom Hersteller angegebenen Geschwindigkeitsbereichs zu operieren. Also nicht zu schnell oder zu langsam zu fliegen. Der Punkt ist aber, dass dieser Geschwindigkeitsbereich enger gehalten ist, als es das Flugzeug wirklich kann. So befindet man sich beim normalen Linienbetrieb immer etwa zwanzig Prozent entfernt von den Geschwindigkeiten, die das Flugzeug entweder abstürzen ließen oder Schäden am Flugzeug anrichten könnten. Das heißt, man hat eigentlich immer „Reserven“, was den operationellen Geschwindigkeitsbereich betrifft. Eigentlich.
Bei den Unfällen durch Scherwinde wurde – zu spät – erkannt, dass man die Lehre aufweichen muss, keinesfalls unter den Geschwindigkeitsbereich zu kommen, der als Minimalgeschwindigkeit vom Hersteller angegeben wird. Es stellte sich nämlich heraus, dass einige verunfallte Flugzeuge mit „Luft am Flügel“ in den Boden geflogen sind. Das heißt, das Flugzeug war eigentlich noch steuerbar, die Piloten trauten sich aber nicht, die nach Handbuch vorgeschriebene Mindestgeschwindigkeit zu unterschreiten, was den Unfall hätte vermeiden können.
Scherwinde sind gefährlich
Zum Ende der 1970er Jahre wurde der Umgang mit Scherwinden im Anflug intensiv im Simulator trainiert. Anhand der Daten von vorangegangenen Unfällen. Das Lehrziel war aber aufzuzeigen, dass dieser Unfall unvermeidlich war und man deswegen Anflüge bei vermuteten Scherwinden gar nicht erst beginnen sollte. Als ich im Simulator mit dieser Aufgabe konfrontiert wurde, bin ich entgegen der Lehre unter die vorgeschriebene Geschwindigkeit gegangen und konnte so einen Aufprall vermeiden. Der Kommentar des Trainers dazu war: Das kannst Du doch nicht machen! Mein Einwand, dieses Vorgehen hat den Unfall verhindert, fand Gehöhr, auch weil es noch andere Kollegen gab, die genauso und ebenfalls erfolgreich vorgegangen sind. Die Lehre im Umgang mit Scherwinden wurde entsprechend auch meines Vorgehens abgeändert und Unfälle mit Scherwinden sind drastisch zurückgegangen. Das betrifft das Fliegen in niedrigen Höhen.
Nun müssen wir nochmals kurz in die Aerodynamik einsteigen. Für jedes Flugzeug gibt der Hersteller eine sogenannte VA an. Das ist die Geschwindigkeit, bei der die Kräfte am Flügel nicht das Maß übersteigen, das das Flugzeug bei Turbulenzen beschädigen könnte. Und hier muss differenziert werden, je nach Flughöhe. In Höhen über zehn Kilometer, also in der normalen Reiseflughöhe, beträgt der Luftdruck nur noch weniger als zwanzig Prozent von dem auf Meereshöhe. Das ist der Grund, warum Flugzeuge nicht unendlich hoch steigen können. In diesen Höhen wird die Geschwindigkeit in Prozent der Schallgeschwindigkeit verwendet, der „Machzahl“. Mach 1 ist die Schallgeschwindigkeit. Die ändert sich aber mit der Höhe und der Temperatur. Verkehrsflugzeuge fliegen im Bereich von Mach 0,72 bis 0,88, wie es die B 727 konnte. Die war übrigens das schnellste Verkehrsflugzeug, denn sie konnte in niedrigen Luftschichten sogar mit 420 Knoten fliegen. Normal ist heutzutage eine Maximalgeschwindigkeit um die 330 Knoten und Mach 0,86.
In zehn Kilometer Höhe ist alles anders
Fliegt man in großer Höhe, nimmt die sogenannte angezeigte Geschwindigkeit kontinuierlich mit der Höhe ab. Diese Geschwindigkeit ist aber das Maß, ob sich das Flugzeug in der Luft halten kann. Tatsächlich kann man sagen, dass der Geschwindigkeitsmesser die Menge an Luftmolekülen „zählt“, die auf das Staurohr auftreffen. So wird klar, dass in dünner Luft die angezeigte Geschwindigkeit abnimmt, eben weil weniger Luftmoleküle vorhanden sind, obwohl die Geschwindigkeit über dem Boden in etwa gleich bleibt. In großer Höhe kommt man in einen Bereich, wo sich die minimale angezeigte Geschwindigkeit an die nach Machzahl mögliche Geschwindigkeit annähert. Das bedingt die maximale Flughöhe für das Flugzeug. Fliegt man da oben, muss man sich also in diesem immer enger werdenden Bereich aufhalten. Eines sollte hier schon ersichtlich sein: Die oben beschriebene VA spielt in diesen Höhen keine Rolle mehr, denn sie kann nicht mehr erreicht werden. Die ist nur anwendbar in Höhen bis etwa acht Kilometer, von wo an nach oben die Machzahl bestimmend wird.
Nun sehen wir an, was geschieht, wenn die maximale Machgeschwindigkeit überschritten wird. Die Antwort ist einfach: eigentlich nichts dramatisches. Das Flugzeug kann zwar in Vibrationsbereiche kommen, aber der Ausweg aus der Situation ist denkbar einfach. Man muss nur den Schub reduzieren und das Problem ist unter Kontrolle. Fliegt man aber zu langsam, reißt die Strömung ab und das Flugzeug gerät außer Kontrolle. Die Schubkraft reicht in diesen Höhen nicht aus, diese Situation durch höheren Schub zu stabilisieren. Ein auch größerer Höhenverlust ist unvermeidbar und das kann dann mit heftigen Auf- und Ab-Bewegungen einhergehen. Die möglichen Folgen: siehe Singapur-Airlines. Warum also gibt es immer wieder solche Unfälle?
Es wird falsch trainiert
Die Flughandbücher und Trainingsinhalte sind für diese Situationen schlicht falsch. Auch das habe ich schon während meiner aktiven Zeit in der Praxis nachgewiesen. An dieser Stelle muss ich nochmals kurz auf Scherwinde eingehen. Da gibt es starke Auf- und Ab-Bewegungen und es gibt horizontale Scherwinde. Letztere haben es in sich. Durchfliegt man horizontale Scherwinde, vor allem in großen Höhen, dann ist die angezeigte Geschwindigkeit mehr oder weniger großen Schwankungen ausgesetzt. Wegen der Massenträgheit ist zwar die Geschwindigkeit gegenüber dem Boden eher konstant, aber die der anströmenden Luft eben nicht. Das ist das Problem, das in diesem Sinn auch auf niedrige Flughöhen zutrifft.
Ich hatte einen Checkflug mit dem A 340 nach Tel-Aviv und zurück. Das heißt, hinter mir und meinem Copilot saß ein prüfungsberechtigter Kapitän, der unsere Leistung beurteilen sollte. Auf dem Rückweg in der Gegend Wien stand ein riesiger Gewitterschirm und es waren starke Horizontalturbulenzen angekündigt. Nach Buch und Lehre hätte ich jetzt die Geschwindigkeit reduzieren müssen auf die Geschwindigkeit, die für das Durchfliegen solcher Zonen empfohlen wird. Mein Wissen und meine Erfahrung ließ mich aber das Gegenteil tun. Ich steigerte die Geschwindigkeit bis kurz vor der Maximalgeschwindigkeit, Der Checkkapitän hatte zwar Einwände, musste aber meine Kapitänsentscheidung akzeptieren. Wir durchflogen die Turbulenzzone ohne Probleme und konnten alle Grenzwerte einhalten, obwohl es schon heftig zuging. Mein Checker war noch nicht überzeugt.
Ein Kollege hatte Probleme
Erst als wir über Funk den Notruf einer B 747 hörten, die auf Parallelkurs zu uns flog, musste er seine Meinung ändern. Die B 747 meldete einen plötzlichen Höhenverlust von 1.500 Metern. Es gab Verletzte. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich der Kapitän an die empfohlene Geschwindigkeitsreduzierung gehalten hat. Ich weiß nicht, ob mein Checkkapitän wirklich verstanden hatte, worum es ging. Jedenfalls haben seine Erfahrungen auf diesem Flug nicht dazu geführt, dass diese Trainingsinhalte revidiert wurden, obwohl ich versuchte, ihm meine Überlegungen zu vermitteln.
So muss ich an diesen Flug denken, wann immer ich Meldungen über Höhenverluste und Verletzte durch Turbulenzen höre. Ich bin überzeugt, dass viele dieser Unfälle vermieden werden könnten, wenn die Schulung angepasst wird. So, wie eben auch Unfälle durch Scherwinde im Landeanflug stark reduziert werden konnten, nachdem die Schulungen dafür umgestellt worden sind. Es gilt: Bei Überschreitung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit entsteht keine unmittelbare Gefahrenlage. Fliegt man aber zu langsam, gerät das Flugzeug in ernste Probleme. Und ja, natürlich ist es sinnvoll, in niedrigeren Höhen die Geschwindigkeit bei starken Turbulenzen zu reduzieren. Dieser Artikel ist ein Aufruf an alle Kollegen, sich doch mal darüber Gedanken zu machen. Immer nach dem Motto von Immanuel Kant:
„Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“