Unser Mikrobiom: Abbild und Schlüssel zur Gesundheit
Von Hans-Jörg Müllenmeister
Das Mikrobiom, ein Milliardenheer von Mikroorganismen, spielt eine entscheidende Rolle für unsere Gesundheit. Früher waren die meisten dieser Siedler als Darmflora bekannt, obwohl sie keine Pflanzen sind. Statt dessen bilden sie einen tierlosen Zoo aus Bakterien, Pilzen, Archaeen (Urbakterien) und Viren. Diese winzigen Lebensgemeinschaften besiedeln unsere Haut, Schleimhäute und Organe und bilden eine symbiotische Beziehung mit unserem Körper.
Diese nützlichen „Kobolde“ helfen uns, Nährstoffe zu verdauen, unsere Immunantwort zu regulieren und uns vor schädlichen Krankheitserregern zu schützen. Wie in jeder Lebensgesellschaft gibt es auch unter ihnen einige Bösewichte. Alle Mikrobiom-Gäste im Speisesaal des Dickdarms – gebeten und ungebeten – nehmen an der Dinnerparty teil. Einige dieser umtriebigen Gesellschaft sind maskiert, andere führen sogar Giftiges im Schilde, um das Festmahl unerkannt zu vergiften, während andere als hilfreiche Bodyguards wirken.
Erstaunlich ist, dass wir als Wirtsorganismus mit etwa 99% den größten Teil der Biomasse dieser Gemeinschaft Mensch – Mikrobiom bilden. Vergleichen wir aber die Anzahl der menschliche Körperzellen mit den Mikroorganismen, so verhalten sich beide etwa im Verhältnis 1:1. Allein 30 Billionen Mikroben besiedeln unseren Darm.
Innewohnende Lebensgemeinschaft
So wie ein tropischer Regenwald, ist auch das Mikrobiom ein komplexes Ökosystem. Winzige Verbündete, die uns stets begleiten, uns unterstützen und oft auch gegen Feinde verteidigen. Unsichtbar für uns, bilden wir mit ihnen eine symbiotische Gemeinschaft. Die Kommune des menschlichen Mikrobiom ist äußerst variabel und ist geprägt von der Ernährung, der Immunkompetenz, den Krankheiten und Medikamenten.
Allein die Kommunen der Bakterien sind aus vielen unterschiedlichen Arten zusammengesetzt. Bisher sind mehr als Tausend verschiedene Bakterienarten im Darm entdeckt. Diese wechselnden mikrobiellen Muster sind Momentaufnahmen, also individuell verschieden, ganz im Gegensatz zum zeitlebens „konstanten Fingerabdruck“ des menschlichen Wirts.
Die Gemeinschaft der Darmbewohner setzt sich aus zahlreichen nützlichen, aber auch schädlichen Individuen sowie Botenstoffen zusammen. Sie beeinflussen nicht nur den Darm, sondern auch unseren Stoffwechsel und die Organe – sogar unser Gehirn. Das wirkt sich auf die Gesundheit aber auch auf die Entstehung und das Fortschreiten von Erkrankungen aus. Das Mikrobiom wird beispielsweise mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Allergien, Adipositas, Diabetes und Depressionen, sogar mit Demenz in Verbindung gebracht. Ob dabei ein verändertes Mikrobiom der Grund für eine Erkrankung ist oder eine Folge von ihr sind, liegt bisher noch im Dunklen der Forschung. Man weiß aber, dass bestimmte Bakterienarten rhythmischen Schwankungen unterliegen und das beim Typ-2-Diabetes und Adipositas dieser Rhythmus verloren geht.
Darmbakterien produzieren außerdem wichtige Zwischenprodukte (Metabolite), wie kurzkettige Fettsäuren und auch Vitamine, die als wichtige Energiequelle genutzt werden. Die Zellen im Körper nutzen diese Fettsäuren, um in den Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen, Energie zu gewinnen, denn ohne sie wäre der Körper ein bloßer Zombie.
Passive Nützlinge des Mikrobiom
Kommensalen (lat. cum mensa, „den Tisch teilen“) gehören als „neutrale“ Mikoorganismen zum Mikrobinom. Sie besiedeln Epitelzellen, z.B. Magen-Darm- und Atemwege und die Haut. Damit verhindern sie, dass sich ungünstige Bakterien ansiedeln können. Das kommensale/symbiotische Ökosystem des Darms schützt also die Schleimhaut-Oberflächen des Wirts vor krankmachenden (pathogenen) Bakterien, verbessert die Nährstoffaufnahme und stärkt die Schleimhaut-Oberfläche des Wirts vor pathogenen Bakterien. Diese Spezialisten sind keineswegs nur bloße Platzhalter, sondern wehrhafte Schutzschilder.
Ähnliche Gemeinschaften für Kommensalismus (im Gegensatz zum Parasitismus) gibt es auch im makroskopischen Bereich. Denken Sie nur an die Seepocken, die als blinde Passagiere auf dem Rücken eines Wals reiten, um Nahrung zu finden. Für den Wal-Wirt entstehen dabei keine „biologischen Kosten“.
Antibiotika: Diese Sensenmänner töten nicht nur böse Keime
Was beeinflusst die Vielgemeinschaft des Mikrobiom ungünstig und ist somit kontraproduktiv? Zu den Hauptfaktoren gehören verschiedene Medikamente, insbesondere Antibiotika. Diese greifen unspezifisch viele Arten von Bakterien an – auch die „guten“. Die Problematik wird durch die zunehmenden Antibiotika-Resistenzen noch verschärft. Im Darm werden häufig nach Antibiotika-Gabe Krankheitserreger festgestellt, die gegen Antibiotika resistent sind, die kaum dezimiert werden – sie haben durch das Absterben anderer Bakterien sogar noch mehr Platz, um sich auszubreiten.
Maßnahmen, die dem „Gleichgewicht“ des Mikrobiom dienen
Neben der genetischen Veranlagung, Ernährung, Stoffwechsel und Bewegung, spielt die personalisierte Ernährung eine maßgebende Rolle. Um seinem Mikrobiom auf dem Grund zu kommen, wäre eine Körperfett-Analyse wichtig, da das innere Bauchfett als Risikofaktor gilt. Auch eine Stuhlanalyse wäre von Bedeutung. Vor allem die ausgewogene Ernährung und das Heilfasten fördert ein gesundes Mikrobiom. Diese Maßnahmen reduzieren auch den Blutzuckerwert.
Gestörtes Gleichgewicht
Das Gleichgewicht zwischen Wirt und Mikrobiom kann auf zwei Arten aus der Balance (Dysbiose) geraten: Durch Einwandern krankmachender, pathogener Mikroben oder Verändern der äußeren Bedingungen, etwa eine Antibiotika-Behandlung. Letztere kann bei Adipositas, Diabetes und entzündlichen Darmerkrankungen beobachtet werden und könnte sogar Auslöser dieser Erkrankungen sein.
„Gleichgewichtsstörung“ des Mikrobiom bei Krebs
Jüngste Forschungen bewiesen: Krebstumore besitzen ihr eigenes Mikrobiom. Dieses Mikrobiom könnte bei der Entstehung verschiedener Krebsarten eine Rolle spielen. Zudem gibt es Hinweise, dass dadurch sogar unser Verhalten, beispielsweise die Entstehung von Depressionen, beeinflusst wird. Ursache und Wirkung dieser Effekte sind noch nicht hinreichend geklärt, aber klar ist: Dass Mikrobiom spielt dabei eine wichtige Rolle. Es ist für den Stoffwechsel unerlässlich und seine Zusammensetzung ist so individuell wie das Leben. Wichtige Bestandteile des Mikrobiom sind Probiotika, Michsäurebakterien und Hefepilze.
Der Darm ist ein Multitalent
Die insgesamt etwa 200 Quadratmeter Fläche unseres Darms wird durch das sogenannte Darm-verbindende Immunsystem (GALT) kontrolliert. Etwa 90% aller Antikörper werden im Darm gebildet. Damit ist der Darm unser größtes Immunorgan. Er dient nicht nur der Verdauung, er stellt auch Nährstoffe und Vitamine bereit. Als hilfreicher Gesell’ des Immunsystems steuert er auch unserer Emotionen – ja, das legendäre Bauchgefühl.
Probiotika und Präbiotika
Beide spielen eine wesentliche Rolle für das Gleichgewicht der Darmflora, haben aber unterschiedliche Funktionen und Wirkmechanismen. Während Probiotika lebende Mikroorganismen sind, handelt es sich bei Präbiotika um unverdauliche Nahrungsbestandteile, die sogenannten Ballaststoffe. Bestimmte Probiotika können Emotionen von Menschen beeinflussen. Sie nehmen Einfluss auf das Gehirn und produzieren selber Neurotransmitter. Diese chemischen Botenstoffe ermöglichen das Weiterleiten von Reizen von einem Nerv zum anderen an den sogenannten Synapsen.
Die wichtigsten Probiotika-Lieferanten sind Sauermilchprodukte wie Joghurt, Kefir und Ayran, Dickmilch und das indische Getränk Lassi.
Wie können wir aber Krankheitserreger im Darm in Schach halten und die Darmwand stärken? Durch präbiotische Lebensmittel, die viele Ballaststoffe (Inulin und Oligofruktose) enthalten, da sie der Nährboden für nützliche Bakterien sind. Dieser Art Humus wirken sich positiv auf die Darmgesundheit aus. Präbiotika sind die unverdaulichen Lebensmittelbestandteile, also die Ballaststoffe in Chicorée, Topinambur, Zwiebeln, Knoblauch, Schwarzwurzeln, Artischocken und Bananen. Sie fördern das Wachstum und die Aktivität der Bakterien im Dickdarm. Grüner Tee ist dabei ein Allrounder für einen gesunden Körper: Die enthaltenen Gerbstoffe beruhigen den Verdauungstrakt. Der sekundäre Pflanzenstoff Catechin wirkt schädlichen Bakterien entgegen, neutralisiert Giftstoffe und regt den Stoffwechsel an.
Spannend wird’s bei prähistorischen Hinterlassenschaften
Die mit KI unterstützten DNA-Analysen ergaben erstaunliche Hinweise über die menschliche DNA aus der Vorzeit: Informationen über das Mikrobiom, sogar Proteine und Teile der verzehrten Nahrung. Diese Untersuchungen von prähistorischem Kot sind keine anrüchigen Themen, sondern führen zu spannenden Rekonstruktionen der Lebensweisen unserer Vorzeit-Menschen. So gelang es, den Zeitpunkt festzustellen, wann die Menschen als Jäger und Sammler erstmals sesshaft wurden und Getreide anbauten. Soviel mir bekannt, war das in der Türkei, wo sie den ersten Weizen als sichere Nahrungsquelle kultivierten.
Bei geschädigtem Mikrobiom: Darmsanierung durch Spenderstuhl
Bei einer Stuhltransplantation überträgt man die „holzlose Losung“ eines gesunden Spenders in den Darm eines oft durch Antibiotika geschädigten Patienten. Die Stuhltransplantation wird meist bei Patienten mit therapierefraktären Clostridium-difficile-assoziierten Diarrhöen eingesetzt. Wie beschi… klingt das denn? Nein, das ist keine Kakophonie, und kein Kackologe, sondern der Gastroenterologe führt das Koloskop durch den gesamten Dickdarm, und beim Zurückziehen wird die Lösung mit dem Spenderstuhl in den Dickdarm eingebracht. Übrigens kostet so eine Stuhltranplantation derzeit etwa 1500 Euro – nie war Scheiße so teuer wie heute.
Wenn sich Übermengen an (Urbakterien) Luft machen
Archaeen sind die „Flatulenzmeister“ im Darm, denn sie produzieren Methan. Ein Teil davon gelangt in den Blutkreislauf. Das geschied, wenn unverdaute Kohlenhydrate fermentiert werden. Meist handelt es da ursächlich um eine Dünndarm-Fehlbesiedlung. Dann gelangt Milchzucker unverdaut in den Dickdarm und wird dort von bestimmten Darmbakterien vergoren. Diese furzfreudigen gehören zu den Gattungen Methanobrevibacter, Bacteroides und Roseburia. Der Grund für diese Kakophonie: Es fehlt das Enzym Lactase oder dessen Produktion ist zu gering. Letztlich ist der Wirt damit flatulenz-geplagt.
Künstliche Intelligenz (KI) in der jüngsten Mikrobiom-Forschung
Eine der größten Herausforderung für die Mikrobiom-Forschung ist es, dieses komplexe Geflecht genauer zu verstehen, die Zusammenhänge zu erkennen und die Wechselwirkung mit dem menschlichen Körper zu entschlüsseln. Oft weiß man jedoch nicht, welche Funktion jede einzelne Bakterienart hat oder was sie zum Überleben braucht. Bis jetzt sind weder die genaue Zusammensetzung noch die genaue Funktion des komplexen Ökosystems bekannt. Eins ist aber klar: Je mehr und vielfältiger das Mikrobiom ist, desto schwerer haben es schädliche Mikroorganismen, sich anzusiedeln, da für sie weniger Nahrung übrig bleibt.
Mit der Unterstützung der KI haben Forscher die Chance, das Wechselspiel zwischen dem Immunsystem des Wirtes, den besiedelnden Mikroorganismen und den bakteriellen sowie viralen Krankheitserregern (Pathogenen) zu analysieren. In den letzten Jahren hat die Mikrobiom-Forschung gezeigt, dass Veränderungen im Mikrobiom mit verschiedenen Gesundheitszuständen wie Allergien, Autoimmun-Erkrankungen, Fettleibigkeit und sogar psychischen Erkrankungen einhergehen. Erst die Analyse des Mikrobiom verschafft uns einzigartige Einblicke in die Ursachen und Mechanismen all dieser Krankheiten.
In der noch jungen Mikrobiom-Forschung fallen enorm viele Daten an, die es zu verarbeiten gilt. Hier leistet die KI wertvolle Dienste, denn ohne sie wäre das Datenaufkommen nicht zu bewältigen. Ich sehe die KI als einen Kompass zur Mikrobiom-Forschung, ähnlich wie ein kundiger Führer, der Unkundige durch einen undurchdringlichen, komplexen Dschungel führt.
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz revolutioniert die Erforschung des Mikrobiom. Erst durch fortschrittliche Algorithmen und maschinelles Lernen können Forscher riesige Mengen an Mikrobiom-Daten analysieren, um komplexe Muster und Zusammenhänge zu erkennen, die sonst verborgen blieben.
KI-gestützte Analysen ermöglichen die Identifizierung spezifischer Mikroorganismen und deren Funktionen innerhalb des Mikrobiom. Das hilft den Wissenschaftlern zu verstehen, wie diese Mikroorganismen zur Gesundheit und Krankheit des Wirts beitragen. KI-Modelle können auch Vorhersagen darüber treffen, wie Veränderungen im Mikrobiom mit bestimmten Krankheiten zusammenhängen, was neue Wege für Diagnose und Behandlung eröffnet.
Abbild unseres Gesundheitszustands
Durch eine grafische KI-Darstellung – vergleichbar mit einer farbigen Landkarte – wird es der Wissenschaft möglich sein, das persönliche Mikrobiom-Profil eines erkrankten Wirts (Patienten) darzustellen und eine maßgeschneiderte Therapie zu entwickeln: Wie ein Bergsteiger, der zum Gipfel des Himalaya aufsteigt, enthält der KI-geführte Patient eine perfekt abgestimmte „Wegzehrung“ für seine Genesungsreise.
Durch diese Analyse individueller Mikrobiom-Profile, kann KI zukünftig maßgeschneiderte Empfehlungen für Diäten, Probiotika und andere Interventionen vorschlagen. Diese zielen darauf ab, das persönliche Mikrobiom eines Patienten zu optimieren und damit seine Gesundheit zu verbessern. Die KI ermöglicht es also, das Wechselspiel zwischen dem Immunsystem des Wirtes, den besiedelnden Mikroorganismen und den bakteriellen sowie viralen Pathogenen zu analysieren. Das Verständnis der zugrundeliegenden regulatorischen Netzwerke kann zu neuen Medikamenten oder Therapieformen führen, mit denen sich Infektionskrankheiten, die jedes Jahr Millionen Menschenleben kosten, behandeln oder sogar verhindern lassen.
Zukunft Mensch – Du hast es besser
Die Zukunft der Mikrobiom-Forschung liegt in der Kombination von modernster Technologie und tieflotender biologischer Analyse. Diese Synergie könnte nicht nur revolutionäre Fortschritte in der Prävention und Behandlung von Krankheiten bringen, sondern auch unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit grundlegend vertiefen. Dazu leistet die KI einen wichtigen Beitrag zu der Erkenntnis unserer gesunden Lebensführung – fast im Sinne der Aufforderung des altgriechischen Philosophen Sokrates (469 bis 399 v.d.Z.)
„Erkenne dich selbst“.