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Entropie, der Motor des Lebens: Chaos und Ordnung zugleich

Von Hans-Jörg Müllenmeister 

Der physikalische Begriff „Entropie“ sagt vielen von uns zumeist nichts Erbauliches oder Aussagekräftiges. Es bedarf eines erklärenden, praktischen Szenarios, um intuitiv Entropie richtig zu verstehen.

Stellen wir uns dazu vor, wir haben eine neue Ausgabe des Dudens. Wir stellen sie sorgfältig ins Bücherregal; jedes Wort und jede Definition auf den Seiten ist in perfekter Ordnung. Aber da kommt unsere neugierige Hauskatze daher. Mit einem Sprung wirft sie das Buch vom Regal und „blättert“ kratzend und zerreißend in den Seiten. Ein Haufen loser Papierfetzen liegt vor uns – Unordnung, Chaos ist angerichtet: Sowohl diese natürliche Tendenz zur Unordnung wie auch das Maß an Energie, das wir benötigen, um die gestiftete Unordnung wieder zu beseitigen, charakterisiert die Entropie. Und genau wie die malträtierten Seiten des Dudens, kämpfen auch unsere Körperzellen und biologischen Prozesse ständig gegen die Widersacher und Tendenzen zur Unordnung, um Ordnung und Funktionsfähigkeit zu bewahren.

Es ist spannend, etwas über diese Größe zu erfahren. Sie ist mehr als nur ein Maß für die Unordnung eines Systems. Dahinter steckt ein phänomenales Naturgesetz, denn kleinste Teilchen neigen dazu, sich gleichmäßig im Raum zu verteilen. Im Ganzen verbirgt sich hinter der Entropie ein fundamentaler Plan in der Natur, der in vielen Bereichen dominiert. Entropie beeinflusst alle Winkel unseres Lebens, die wir tiefer ausloten wollen. 

Entropie: die „Halbschwester“ des Chaos 

Beide Naturkonzepte sind eng miteinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig; sie sind destruktiv und ordnend zugleich. Die Entropie ist ein Maß für die Unordnung oder Zufälligkeit in einem System. Je höher die Unordnung ist, umso höher ist auch die Entropie. Das Chaos dagegen beschreibt eine scheinbar zufällige und unvorhersehbare Bewegung, etwa in der Thermodynamik oder Informationstheorie.

Beiden sind Ordnung und Vorhersagbarkeit fremd. Nimmt die Entropie in einem System zu, wird das System tendenziell chaotischer. Entropie hat eine präzise mathematische Definition und wird meist in quantitativen Analysen verwendet. Das Chaos beschreibt oft qualitative Phänomene in dynamischen Systemen. Interessant ist aber, dass selbst das Chaos auch zu neuen Formen von Ordnung führen kann. Es entstehen dann selbstorganisierende Muster, etwa sich wiederholende Fraktale, die Ordnung im Chaos schaffen. Dies zeigt, dass Chaos und Ordnung miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen können. 

Die Entropie hat, wie eine Münze, zwei Seiten 

Entropie wird häufig als eine Tat der Unordnung und des Zerfalls betrachtet. Das wäre ihre destruktive Seite. Aber sie hat auch eine ordnende Seite, besonders im Kontext des Lebens und der Natur. Betachten wir die beiden Seiten unserer „Entropie-Münze“.

Die destruktive Seite. Über der Zeit neigen Systeme dazu, von einem Zustand höherer Ordnung zu einem Zustand höherer Unordnung überzugehen. Das heißt: Ohne Energiezufuhr und „Arbeit“ zerfallen Systeme natürlich und geraten in Unordnung. Dies ist der Grund, warum Wärme von einem heißen zu einem kalten Objekt fließt und nie umgekehrt ohne externe Arbeit. In geschlossenen Systemen wird Energie in immer weniger nutzbare Formen umgewandelt – entsprechend dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik: die Entropie erhöht sich. Es ist weniger destruktiv, das bedeutet, die innewohnende Energie ist weniger verfügbar, um Arbeit zu leisten. Dieser Hang zur Unordnung zwingt lebende Systeme, Lösungen zu entwickeln, um Ordnung zu schaffen und zu bewahren. Das führte zur Evolution komplexer Lebensformen und zu beeindruckenden Anpassungsfähigkeiten in der Natur.

Die ordnende Seite fördert die Selbstorganisation. In offenen Systemen – wie es Lebewesen sind – wird Energie von außen aufgenommen und genutzt, um Ordnung zu schaffen und zu erhalten. Dieser ständige Kampf gegen die Entropie ermöglicht das Entstehen und das Stabilisieren hoch organisierter Strukturen. Die Entropie verhindert, dass Moleküle in einem System sich alle in einem Zustand maximaler Ordnung befinden. Genau das führt zu einem stabilen und gleichmäßigen Verteilungszustand. 

Unsere „moralische Entropie“ 

Der duale Charakter der Entropie ist ein Faszinosum, denn er ist grundlegend für das Verständnis unseres Lebens und der Natur. Der Kampf zwischen Gut und Böse in uns ist Ausdruck unserer moralischen Entropie. „Wer immer strebend sich bemüht“ – so heißt es in Goethes Faust – ein Leben in Harmonie und Frieden zu führen, der ringt um eine innere und äußere Ordnung. Gleichzeitig kämpfen wir gegen innere Versuchungen und äußere Einflüsse, die zur Unordnung führen können. 

Unser freier Wille ist eine Art innerer „Entropie“; sie erlaubt uns, zwischen Ordnung und Unordnung, Gut und Böse, zu wählen. Diese Wahl befähigt uns, Entscheidungen zu treffen, die entweder zur Selbstdisziplin oder zur Unordnung führen. Dabei stehen sich vis-à-vis: gute Taten - schlechte Taten, Ordnung - Chaos, Harmonie - Konflikt.

Der freie Wille ermöglicht uns, an uns selbst zu arbeiten und uns weiterzuentwickeln im ständigen Kampf gegen eigene Schwächen und Unzulänglichkeiten – ein Kampf gegen die innere Entropie. Diese Perspektive zeigt, wie tief verwurzelt das Konzept der Entropie in unserem Leben und unserem Denken ist. Unser freier Wille dient als eine Art innerer Entropie, die uns ständig herausfordert und uns zudem die Möglichkeit gibt, unser Leben aktiv zu gestalten. 

Beispiele zur Entropie im Alltag 

Um den Kaffee beim baldigen Trinken möglichst kühl zu haben, sollte man Milch gleich nach dem Einschenken des Kaffees hinzufügen: Der Kaffee kühlt sofort ab, und das gesamte Gemisch verliert über die Zeit gleichmäßig Wärme an die Umgebung. Die Oberfläche des Kaffees hat so mehr Zeit, Wärme abzugeben, bevor er getrunken wird. Wenn aber die Milch erst kurz vor dem Trinken dazu kommt, bleibt der Kaffee eine Weile heißer, und die endgültige Abkühlung passiert erst im letzten Moment. Die Entropie des Systems steigt durch das Mischen.

Oder: Frisches Obst und Gemüse verderben mit der Zeit und werden von Bakterien und Schimmel zersetzt. Dieser Prozess erhöht die Entropie, da die Struktur der Lebensmittel in einfachere Moleküle zerfällt.

Entropie beschreibt die natürliche Tendenz zur Unordnung und Energieverteilung in der gesamten Natur. Und den Klima-Ideologen sei gesagt, es gibt nicht allein den CO2-Übeltäter. Auch die Entropie ist ein wichtiger Faktor in Prozessen wie der Verdunstung von Wasser, der Bildung von Wolken und der Dynamik der Atmosphäre, die allesamt das Klima beeinflussen. 

Ein unordentlicher Mensch erhöht die  Entropie

Ein unordentlicher Mensch ist in gewisser Weise eine „zweibeinige Entropie-Bombe“; diese erhöht die Unordnung in verschiedenen Aspekten des Lebens und führt zu einem weniger effizienten und geordneten Zustand. Das  erzeugt im Umfeld tendenziell Unordnung und Chaos und erhöht die lokale Entropie.

Auch geistige Unordnung, wie das Fehlen eines klaren Plans oder ständiges Multitasking, lässt sich als eine Form von erhöhter Entropie betrachten. Das schicke, moderne Multitasking ist ohnehin nicht effektiv. Man kann nicht zwei oder gar drei Aufgaben gleichzeitig gut erledigen. Es führt zu ineffektiven Entscheidungen und vielfach zu Burnout und Depressionen. 

Unordnung kann auch Auswirkungen auf soziale Interaktionen haben. Menschen, die unordentlich sind, gelten als weniger verlässlich und organisiert; das kann zu Spannungen und Missverständnissen in Beziehungen führen. 

Die Entropie des Kosmos 

Entropie bestimmt das Schicksal unseres Kosmos. Die kosmische Hintergrundstrahlung, die wir beobachten, ist ein Relikt des frühen Universums, ein Indiz für die Erhöhung der Entropie seit dem Urknall: die zunehmende Unordnung und Homogenität des Universums. Nach dem Urknall befand sich das Universum in einem extrem heißen und dichten Zustand mit sehr niedriger Entropie. 

Mit dem Expandieren und Abkühlen des Universums, nahm die Entropie zu. Es entstanden erste Strukturen wie Galaxien, Sterne und Planeten. In ferne Zukunft wird das Universum womöglich hin zu einem Zustand des maximalen thermischen Gleichgewichts streben, dann erreicht die Entropie ihr höchstmögliches Niveau, es gibt dann keine nutzbare Energie mehr, um Arbeit zu verrichten. Diesen Endzustand bezeichnen Astrophysiker als den „Wärmetod“ des Universums. 

Übrigens, die hohe Entropie im Innern eines Schwarzen Lochs ist kennzeichnend für seine extreme Unordnung und seine mögliche Menge an gespeicherter Information. Humorvoll ausgedrückt: Es gibt nichts „unordentlicheres“ im All als ein Schwarzes Loch. 

Und wie ist radioaktives Material entropiegemäß angesiedelt  

Radioaktives Material beginnt in einem Zustand relativ hoher Ordnung und niedriger Entropie. Die Atome sind in einem stabilen Zustand, obwohl dieser Zustand radioaktiv instabil ist.

Mit der Zeit zerfallen die radioaktiven Isotope in stabilere Formen durch Prozesse wie Alpha-, Beta- oder Gamma-Zerfall. Diese Zerfallsprozesse setzen Strahlungsenergie frei: die einst stabilen Atome werden in energiereichere Teilchen umgewandelt und ihre Energie an die Umgebung abgeben. Das erhöht die Entropie, da die Energie verteilt wird und die Unordnung zunimmt. 

Das Material selbst endet in einem Zustand höherer Entropie: Die Struktur der Atome ist weniger geordnet als ursprünglich. Auch die Umgebung des Materials zeigt aufgrund der freigesetzten Energie eine erhöhte Entropie. Insgesamt verstärken radioaktive Materialien die Entropie im Universum, indem sie Energie freisetzen und die Unordnung sowohl in sich selbst als auch in ihrer Umgebung erhöhen. 

Der Mensch in seiner Welt der Entropie 

Menschen sind offene Systeme, die ständig Energie und Materie mit ihrer Umgebung austauschen. Im Gegensatz zu geschlossenen Systemen, in denen die Entropie tendenziell steigt, können Menschen Energie aufnehmen und nutzen, um Ordnung in ihrem Körper und Geist zu schaffen.

Wir nehmen Energie in Form von Nahrung auf und nutzen diese, um die komplexen Prozesse unseres Körpers zu unterstützen, wie unser selbstregelndes Immunsystem, Wachstum, Zellreparatur und Denkleistung. Diese Energieaufnahme bewahrt unsere innere Ordnung und reduziert lokal die Entropie. Durch unseren Stoffwechsel erzeugen wir Wärme, die unser Körper als Abfallprodukt an die Umgebung abgibt. Dadurch erhöht sich die Entropie der Umgebung, während unser Körper seine innere Ordnung beibehält.

Wir Menschen verwalten die Entropie nach Gutsherrenart, nutzen Energie und Kreativität, um Ordnung in unseren Körpern zu schaffen, während wir zugleich mit den unvermeidlichen Kräften der Unordnung und des Wandels umgehen müssen. Trotz unserer Bemühungen, Ordnung zu schaffen und zu bewahren, steigt im Laufe der Zeit die Entropie in unserem Körper: Wir altern und fallen ins thermodynamische Gleichgewicht – despektierlich gesagt, wir erkalten. Diese Vergänglichkeit ist der Schlussakkord des natürlichen Teils unseres Lebenszyklus.

Das zeigt, wie eng unser Leben mit dem Konzept der Entropie verknüpft ist. Jeden Moment, den wir bewusst und achtsam erleben, ist ein Akt des Widerstands gegen die unaufhaltsame Zunahme der Unordnung. Es ist unsere Fähigkeit, Struktur in unser Leben zu bringen, die uns von der bloßen physikalischen Realität abhebt und unsere Existenz zu etwas Einzigartigem macht.

Das Leben in seiner ganzen Vielfalt ist letztlich ein ständiger Tanz mit der Entropie. Während wir in unserem Alltag Strukturen aufbauen, Projekte verwirklichen und Beziehungen pflegen, kämpfen wir gegen die natürliche Tendenz zur Unordnung. Indem wir uns diesem Kampf stellen, schaffen wir Momente der Klarheit und Schönheit, die das Leben lebenswert machen. In diesem ständigen Wechselspiel liegt die wahre Magie unserer Existenz. 

Zwei ausgefuchste „Wettstreiter“: Apoptose und Entropie

Die Apoptose – der geordnete programmierte Zelltod – ist eine geniale Eigenleistung unserer Körperzellen; sie liegt im Wettstreit mit der Entropie. Apoptose kontrolliert auf zellulärer Ebene die Entropie und versucht, die geordnete Struktur und Funktion des Körpers zu erhalten, um das Gleichgewicht zu bewahren. 

Schon während der Frühentwicklung von Organismen entscheidet die Apoptose, welche redundanten Zellen zu entfernen sind, um die korrekte Form und Funktion von Organen und Geweben zu gewährleisten. Später entfernt die Apoptose vor allem alte oder geschädigte Zellen und schafft Platz für neue, gesunde Zellen. Dies fördert die Regeneration und das Wachstum von Geweben. Damit steigt wiederum die Ordnung im Körper.

In diesem ständigen Wettstreit zeigt sich die beeindruckende Fähigkeit des Lebens, Ordnung aus Unordnung zu schaffen. Die Apoptose agiert als kluge Meisterin der Organisation, die ständig dafür sorgt, dass unser Körper optimal funktioniert und widerstandsfähig bleibt. Sie ist ein stiller Held im ewigen Kampf gegen die unaufhaltsame Zunahme der Entropie. 

Das Überwinden der Entropie: der eigentliche Treibriemen des Lebens 

Das Leben existiert und gedeiht durch den ständigen Kampf gegen die Entropie. Gäbe es kein Niederringen des Entropie-Dämons, gäbe es kein Leben. Ständig arbeiten lebende Organismen daran, ein internes Gleichgewicht (Homöostase) zu bewahren. Ohne diesen aktiven Prozess, die natürliche Tendenz zur Unordnung und zum Zerfall zu bekämpfen, könnte Leben nicht bestehen. Die Fähigkeit, Energie aufzunehmen und zu nutzen, um Ordnung zu schaffen und zu erhalten, ist ein zentrales Merkmal des Überlebens.

Erstaunlich, wie Lebewesen ständig gegen die Tendenz zur Unordnung ankämpfen und dabei hoch entwickelte Systeme schaffen. Diese geheimnisvollen Strukturen, von den kleinsten Zellprozessen bis zu den größten ökologischen Systemen, zeigen, wie bemerkenswert und ausgeklügelt das Leben ist. Faszinierend ist, wie Leben existiert, wie es beständig wächst, sich anpasst und sich weiter entwickelt. Das ist ein circulus vitiosus, ein Teufelskreis, und doch der wahre Triumph über die Entropie! 

Je tiefer wir den Sinn der Entropie ausloten und geistig „inhalieren“, desto größer wird unsere Hochachtung vor den geheimnisvollen Strukturen des Lebens, die tief in die Natur und die Mechanismen des Lebens eingreifen.

Am Ende gleicht unser Entropie-bestimmtes Leben einem gut geschriebenen Buch: Man ist eher damit fertig, als man es wünscht; törichte Menschen durchblättern es nur flüchtig; kluge Menschen indes, lesen es mit Wohlbedacht, denn sie wissen, dass sie es nur einmal lesen können. Denn schon bald lässt das thermodynamische Gleichgewicht, namentlich Gevatter Tod, herzlich grüßen.