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Emergenzen: Faszinosa des Lebens

Von Hans-Jörg Müllenmeister 

Wenn es überhaupt einen Begriff dafür gibt, der in die tiefsten Geheimnisse der schaffenden Natur vordringt, dann ist es die Emergenz. Die Wissenschaft beißt sich an diesen faszinierenden Phänomen schon lange die Zähne aus. Gerade in unserer KI-dominierten Gesellschaft ist Gefahr in Verzug. Wir ignorieren die natürlichen Lebenspfade zu höherwertigen Qualitäten.    

Emergenz (abgeleitet vom lateinischen Verb emergere: soviel wie auftauchen lassen, entstehen) versucht zu beschreiben, wie aus einzelnen gut erklärbaren Systemen überraschend komplexe und neue Eigenschaften und Strukturen hervorgehen können: Als disziplin-übergreifendes Konzept. Aber wie genau das geschieht, weiß m.E. nur der Urheber des Lebens. 

An Hand von Beispielen lassen sich typische Eigenschaften emergenter Systeme aufzeigen. Diese finden sich in vielen Bereichen der Natur und Wissenschaft, etwa in der Biologie, Soziologie und Informatik. Das frappierende dabei ist der ungeklärte Bildungsprozess des neuen Systems. Es entstehen qualitativ neue (emergente) Eigenschaften, die es zuvor in den einfacheren Organisationsebenen noch nicht gab. Ein triviales Beispiel: Ein einzelnes Gold-Atom ist farblos. Erst im Verbund mit seinen Kollegen zeigt sich die typische Goldfarbe.  

Zum Verständnis ein famoses Experiment für Physik-Fans 

Erinnern Sie sich noch vage an den Physik-Unterricht? Da gab es Experimente mit dem einfachen Pendel; Experimente mit einem Doppelpendel (D-Pendel mit dem Mathe-Schreckgespenst der Euler-Lagrange-Gleichungen) gab es wohl nicht. 

Bei einem Einzelpendel herrscht strenge Kausalität, denn: Ähnliche Ursachen haben stets ähnliche Wirkungen zur Folge. Nicht umsonst übernehmen die stets gleichartig tickenden Pendeluhren die Zeitmessung.

Erweitern wir das Einzelpendel zum Doppel-Pendel. Es besteht aus zwei Massen, die an verbundenen Stäben aufgehängt sind. Lassen wir das D-Pendel schwingen, dann beobachten wir interessante Phänomene: Ist die Auslenkung der Massen nicht zu groß, führt das Gebilde eine periodische Bewegung aus, ähnlich wie ein einzelnes Pendel. Sobald wir aber das D-Pendel stark auslenken, kommt es zu einem chaotischen Verhalten: Das zweite Pendel kann instabile Gleichgewichtszustände (Kipp-Punkte) einnehmen. Das führt zu unvorhersehbaren und komplexen Bewegungen, die sich nicht aus den Eigenschaften der einzelnen Pendel ableiten lassen. Dieses chaotische Verhalten ist ein typisches Beispiel für Emergenz. Die Nichtlinearität und Kopplung führt dazu, dass das Gebilde sehr empfindlich auf kleine Änderungen der Anfangsbedingungen (Schmetterlingseffekt) reagiert. Das bedeutet auch, dass zwei Doppelpendel, die gleichzeitig gestartet werden, nach kurzer Zeit völlig unterschiedliche Bewegungen zeigen können. Sie sind chaotisch, also unregelmäßig, unvorhersehbar und nicht wiederholbar.

Das chaotische Verhalten des D-Pendels folgt also keinesfalls aus den einfachen Gesetzen der Pendelbewegung, sondern entsteht aus der Wechselwirkung zwischen den beiden Pendeln. Das D-Pendel ist also mehr als die Summe seiner Teile, es hat eine neue Qualität, die sich nicht auf die Eigenschaften der Teile reduzieren lässt. Insgesamt verdeutlicht das D-Pendel, wie aus einfachen Grundprinzipien heraus erstaunliche und vielfältige Verhaltensweisen entstehen können. 

Emergenz biologischer Gemeinschaften 

Vor allem können biologische Lebensgemeinschaften über emergente Eigenschaften verfügen, die weit über die Summe der Einzelwesen hinausgehen. Ein Ameisen-Staat ist so ein Gebilde. Die einzelne Ameise indes, agiert stur nach ihren genetisch eingeprägten Regeln. Sie widmet sich streng ihrer Aufgabe. Was aber passiert, wenn etwa ein räuberischer Sandlaufkäfer nahezu alle Sammlerinnen der Kolonie hinweg rafft? Die dezimierte Kolonie würde verhungern. Hier kommt die chemische Verständigung durch Pheromone ins Spiel.

Die Aufgaben der Sammlerinnen übernehmen jetzt die Arbeiterinnen. Aber woher weiß eine Arbeiterin, dass sie in der Hungersnot zur Sammlerin werden muss? Da ist ein kritischer Wert unterschritten: Der Geruchssinn der Arbeiterin registriert deutlich wenige Begegnungen mit den Sammlerinnen. Darauf wechselt die Arbeiterin ihre Aufgabe und wird selbst zur Sammlerin, bis sich das Gleichgewicht der Individuen in der Kolonie wieder einstellt. Diese emergente Eigenschaft der Kolonie ist lebensrettend. Erstaunlich, aber zu dieser Leistung bedurfte es keinen Anführer, der die Aufgaben in der Kolonie neu verteilt.

Auch in puncto Klugheit ist eine einzelne Biene kein Ein-Stein, aber in der Wechselwirkung, zusammen im Schwarm, ein „Viel-Stein“ an Intelligenz hinsichtlich effizienter Verteilung von Nahrung oder in der optimalen Wahl eines Nistplatzes. 

Eine Synapse macht noch kein Gehirn 

Jede einzelne Nervenzelle in unserem Hirn hat kein Bewusstsein. Erst durch die elektrische und chemische Kommunikation mit anderen  Synapsen — bis uns der Schädel wie ein Bienenstock „summt“— entstehen erst die kognitive Fähigkeiten wie unser Bewusstsein, Denken, Lernen, Erinnern, die Sprache und Kreativität. Durch unseren innewohnenden Freien Willen sind wir in unserem Handeln aber ambivalent. Unsere Spannweite reicht von friedvoll bis mordlüstern.  

Eine gewagte These: Ist die gesamte Materie des Universums Emergenz-gesteuert? 

Wir können leicht eine Emergenz-gesteuerte Hierarchie der Lebenssphären erkennen: Atome interagieren und bilden Moleküle. Moleküle verbinden sich zu Proteinen. Proteine setzen sich zu Organellen zusammen. Aber halt: Auf dieser geheimnisvollen Emergenz-Ebene der Zellen — die Grenze zwischen toter und lebender Materie — entsteht aus den Einzelteilen der toten Materie erstmals das Leben als emergente Eigenschaft! Diese göttliche Stufe, so möchte ich sie nennen, ist die für uns unbegreifliche Ebene des Urhebers. Und weiter geht der Staffellauf des Lebens: Zellen verbinden sich zu komplexen Organen. Organe formen Individuen. Individuen bilden Gesellschaften usw. 

Wir sehen, erst das Zusammenspiel von Molekülen, Selbstorganisation und emergenten Eigenschaften führte zur Entstehung von Leben. Selbst wenn das Leben schwindet, hält der Tod eine neue unbekannte Emergenz-Stufe bereit, mit neuen Eigenschaften und Fähigkeiten. Die Religionen nennen das unbekannte Terrain „das Jenseits“. Aus diesem Betrachtungswinkel der unendlichen Emergenz-Ebenen muss auch das gesamte Universum von unendlicher Größe sein, denn es gibt nicht „den letzten neuen“ Phasenübergang. Der Prozess läuft ad infinitum, also ins Unendliche. Unser Universum ist unbegrenzt, ist zeitlos! 

„Goldpreis-Gestaltung“: der Goldmarkt und seine emergenten Chart-Muster  

Der weltweite Goldmarkt wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, darunter geopolitische Ereignisse, Marktspekulationen und sogar kriminelle Manipulationen. Diese Faktoren interagieren miteinander und erzeugen emergente Muster im Preisverlauf des Goldes.

Unerwartete Preisschwankungen lassen sich oft auf politische Unsicherheiten oder wirtschaftliche Turbulenzen zurückführen. Darüber hinaus trägt die kollektive Psychologie der Anleger zu emergenten Preisbewegungen bei, die unerwartete Trends und Muster hervorbringen.

Manipulation durch Großbanken: Es ist bekannt, dass der Goldpreis durch algorithmische Handelsstrategien und künstliche Intelligenz beeinflusst wird. Großbanken wie J.P. Morgan, UBS, HSBC und Deutsche Bank haben den Goldpreis durch solche Strategien in der Vergangenheit manipuliert. Der langjährige Goldpreis-Chart zeigt eine gigantische Cup-&-Handle-Formation, die das Ergebnis dieser komplexen Interaktionen ist.

Emergenz spielt also eine entscheidende Rolle im Goldmarkt, besonders wenn unerwartete Muster auftreten, die sich nicht direkt auf einzelne Ursachen zurückführen lassen.

Ausblick für Gold- und Silber-Bullen: Die langjährige Durststrecke scheint ein Ende zu haben. Der bevorstehende Zusammenbruch der Währungen, die gesellschaftlichen Umwälzungen, die Implosion der Schulden- und Derivatemärkte sowie Kriege und weltweites Chaos könnten dem Goldmarkt neue Impulse geben: Zu einem bisher nie gesehenen Ausbruch und ihn auf eine neue Qualitätsstufe führen. 

Einige Emergenz-Reaktionen bei Panik  

Menschen in Panik neigen dazu, impulsiv zu handeln und zu fliehen. Dieses Verhalten kann sich rasch ausbreiten und zu chaotischen Situationen führen. Die Fluchtreaktion entsteht  aus der Interaktion von Menschen in einer stressigen Umgebung.

In Paniksituationen verbreiten sich Informationen rasch. Gerüchte und Fehlinformationen breiten sich dann exponentiell aus, was zu weiterer Unsicherheit und Angst führt. Diese Informationsübertragung ist ein typisches emergentes Phänomen, das aus der Interaktion von Menschen und Medien entsteht. Nicht immer sind diese emergenten Phänomene negativ. Selbstorganisation und Solidarität können dazu beitragen, Menschen in Notsituationen zu unterstützen. 

Soziale Emergenz: Unsere Gesellschaft am Phasen-Übergang zwischen Frieden und Krieg   

Es stellt sich immer mehr heraus, das Emergenz die eigentliche Antriebsfeder des Lebens ist. Nicht nur in der Biologie ist das Emergenz-Prinzip ein faszinierendes Phänomen. Auch unsere Gesellschaft (Wirtschaft, Finanzen, Sozialpsychologie) ist geprägt von einfachen Systemen aus denen überraschend komplexe und neue Eigenschaften und Strukturen entstehen. Auch in der Gesellschaft gibt es „soziale“ Kipppunkte. Diese können innerhalb sehr kurzer Zeit und ohne einen gravierenden oder vorhersehbaren Auslöser zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen führen. Möglicherweise befinden wir uns an einem solchen gesellschaftlichen Kipp-Punkt mit fundamentalen Auswirkungen für die Zukunft. 

Die Eigendynamik in Gruppen, kulturelle Phänomene und soziale Trends sind also stark von Emergenz geprägt. Vielfach entstehen selbstorganisierte, geordnete Strukturen aus einem unberechenbaren Chaos. Daraus kann eine neue Qualität des Zusammenlebens hervorgehen, dies in spontaner Selbstorganisation. Die einzelnen Elemente verbinden sich wechselwirkend zu den Nachbarelementen zu Systemen mit bestimmten neuen Strukturen, Eigenschaften und Fähigkeiten. All das geschieht womöglich in nichtlinearen, rückgekoppelten Abläufen, deren Ausgang nicht berechenbar sind. 

Beispiel: Durch kollektive Aktionen entstehen politische Bewegungen, die oft nicht vorhersehbar sind. Oder in der Gesetzgebung: Da führt die Interaktion von politischen Akteuren, Lobby-Gruppen und Bürgern zur „Neugestaltung“ von Gesetzen und politischen Maßnahmen. 

Die zur Zeit wütenden Kriege an der Zeitenwende sind dafür das tragischste Beispiel, dies mit unbekanntem Ausgang. 

Bleibt zu hoffen, dass die Disziplin-übergreifende Emergenz-Forschung im Verein mit der Künstlichen Intelligenz unsere wahren Lebensziele in Zukunft besser erkennt und noch rechtzeitig Frieden stiftet im Labyrinth des Weltchaos. 

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